Erinnerung an meine Jahre in Berlin. Sammy Gronemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sammy Gronemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783863935214
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allemal festgesetzten, an sich ganz willkürlichen Regeln gespielt. Wenn der Turm im Schachspiel nur gerade, der Läufer nur schräg gehen darf, beruht das auf einer ganz willkürlich aufgestellten Norm, – an sich könnte es ebensogut umgekehrt sein. Und wenn der Gesetzgeber für manche Handlungen bestimmte Formvorschriften statuiert, oder wenn etwa eine Berufungsfrist auf eine Woche, eine Verjährungsfrist auf drei Jahre festgesetzt werden, ist das nach gewöhnlichen logischen Maßstäben nicht zu begründen. Nach solchen Normen also wird Schach gespielt oder werden Prozesse geführt. Ein bedeutsamer Unterschied besteht freilich: Beim Prozeßführen sind es die Kiebitze, – als solche kann man wohl die Advokaten bezeichnen – die das Spiel machen, während die Parteien zusehen.

      Natürlich hat der Advokat nicht nur Denksport zu treiben, sondern er hat die Aufgabe, der gerechten Sache, oder die er als solche erkennt, zum Siege zu verhelfen. Und er hat das volle Recht der Subjektivität, von der im weitesten Umfang Gebrauch zu machen sogar seine Pflicht ist. Seltsam ist und nachdenklich stimmt es, daß die deutsche Sprache Rechtsanwalt und Staatsanwalt in Gegensatz stellt. Recht und Staat, d. h. Recht und Gesetz stehen wirklich in einem gewissen Gegensatz. Das Gesetz humpelt immer hinter der Rechtsentwicklung hinterher. Eine Kodifikation erfolgt regelmäßig erst dann, wenn eine Rechtsanschauung sich bereits allgemein im Bewußtsein des Volkes durchgesetzt hat. In diesem Moment ist ja nun die Rechtsentwicklung schon weiter fortgeschritten, so daß das neue Gesetz dieser wieder nicht entspricht, so daß also, theoretisch gesehen, das Gesetz das Recht nicht einholen kann. Es ist ungefähr die Geschichte von Achilles und der Schildkröte. – Nun hat mich meine Praxis so ziemlich mit allen Schichten der Bevölkerung in Berührung gebracht und allerlei Einblicke in die verschiedensten Milieus eröffnet. Meine Erin­nerungen wären nicht vollständig, wenn ich nicht einiges aus diesen meinen Erfahrungen erzählen wollte. Zunächst will ich noch einige Fälle skizzieren, die Einblicke in das Milieu jener aus dem Osten nach Berlin verschlagenen Juden eröffneten, die sich nur schwer in die Sitten und Gebräuche Westeuropas einfügen konnten. Es wird sich dabei nicht immer vermeiden lassen, daß ich auch Dinge erzähle, die schon in früheren Büchern von mir skizziert sind, die aber hier kaum fehlen dürfen.

      Da ist es bisweilen schon sehr schwierig, die Identität solch eines Klienten festzustellen. Sehr oft wurden z. B. in Galizien Ehen nur vor dem Rabbiner geschlossen, denen der Staat die Anerkennung versagte, so daß die Kinder aus solchen Ehen offiziell als unehelich galten und eigentlich den Namen der Mutter führen mußten. So stand es auch im Passe. Sie aber nannten sich im Leben nach ihrem Vater. – Da kam einmal zu mir ein Kaufmann namens Förster in Gesellschaft eines mir auch schon bekannten jungen Mannes, der sich Apfelbaum nannte, den er als Reisenden anstellen wollte. Er bat mich, den Vertrag zu machen. Ich stutzte und bat Förster, einige Augenblicke ins Wartezimmer zu gehen, da ich mit Apfelbaum etwas zu besprechen hätte. Förster entfernte sich, offensichtlich befremdet, und ich sagte nun dem Herren Apfelbaum, daß mir ja bekannt sei, daß er gesetzlich den Namen Apfel­baum gar nicht führe, denn er hatte mich mit der Regelung seiner Paßangelegenheit betraut. Ich fühlte mich verpflichtet, erklärte ich ihm, bevor ich den Vertrag formulieren würde, Förster hier­über aufzuklären. Wohl oder übel mußte Apfelbaum sich dem fügen, und ich rief nun Förster herein und setzte ihm, der recht unruhig auf meine Eröffnung wartete, den Fall auseinander, erleichtert atmete er auf. „Ach“, sagte er, „das ist alles? – Meinen Sie, ich heiße Förster?“

      Tragischer lag der Fall eines Mannes, der aus Galizien nach Berlin gekommen war, um sich bei einem berühmten Chirurgen operieren zu lassen. Er konnte sich nicht rechtzeitig die Papiere verschaffen und fuhr mit dem Paß eines Vetters. Unter dessen Namen wurde er in das Krankenregister eingetragen, operiert und begraben. Aber nun setzten recht peinliche Verlegenheiten ein. Der Vetter hatte alle Mühe zu beweisen, daß er noch lebte, während die Erben des Verstorbenen lange Zeit nicht in den Besitz der Erbschaft gelangen konnten.

      Kurios war das Begehren eines alten, emeritierten Chasan, eines Mannes von über 80 Jahren, der an mich das Ansinnen stellte, ich möchte die Anfechtung seiner vor 60 Jahren geschlossenen Ehe durchsetzen. Diese hätte auf einem Irrtum beruht, den seine dama­lige Verlobte vorsätzlich herbeigeführt hätte. Er hätte jetzt gerade festgestellt, daß sie sich damals um drei Jahren jünger gemacht hätte. Ich hatte Mühe, ihm klar zu machen, daß dieser Versuch der Anfechtung aussichtslos wäre. Mich interessierte der Fall psychologisch, und ich fragte, wieso er denn auf diese Idee gekommen sei. Darauf gab er mir die denkwürdige Antwort: „Bei uns Juden ist es doch üblich, daß Ehepaare nebeneinander begraben werden – 60 Jahre lebe ich neben dem „Schlag“, wenigstens will ich im Grabe meine Ruhe haben“.

      Das Gegenstück zu dieser sich jünger machenden Frau war der alte Reches, ein schon sehr betagter, immer zu Scherzen aufgelegter galizianischer Jude, der der richtige Prozeß-Hansl war. Die pittoreske Erscheinung des alten Mannes mit dem rot-grau gesprenkelten Bart war in allen Gerichtsstuben bekannt. Er pflegte immer auf sein ehrwürdiges Alter hinzuweisen, und es kam vor, daß im Laufe einer Verhandlung er von Minute zu Minute um Jahre älter wurde. Ich führte einmal für ihn einen Prozeß, bei dem es sich um Beischaffung einer Urkunde handelte, aus der die Berechtigung seiner Ansprüche klar hervorging. Diese Urkunde lag irgendwo bei einer galizischen Behörde. Es machte Mühe, sie heranzuschaffen, und am Tage vor dem Termin kam mein Mandant aufgeregt zu mir: er hatte ein Telegramm bekommen, daß die Urkunde abgesandt sei, und er bat mich unter allen Umständen eine Vertagung herbeizuführen, weil er fürchtete, abgewiesen zu werden, wenn die Urkunde nicht zur Stelle sei. Ich erklärte ihm, daß ich keine Möglichkeit zur Vertagung sehe, ein gesetz­licher Grund lag nicht vor, eine Vertagung sei nur möglich, wenn der gegnerische Anwalt einwilligen würde. Das würde er ja unter keinen Umständen tun. Der alte Mann entfernte sich niedergeschlagen. In der Tür drehte er sich um und sagte: „Und es wird doch vertagt!“ – Wie groß war mein Erstaunen, als am anderen Tage an Gerichts Stelle der gegnerische Kollege mich bat, eine Vertagung zu bewilligen. Über die Gründe ließ er sich nicht aus, aber ich war natürlich sehr damit einverstanden. Der Termin wurde um vier Wochen vertagt, und inzwischen traf die Urkunde ein. Zu dem neuen Termin erschien nun Freund Reches persönlich neben mir vor der Schranke. Der Kollege von der Gegenseite starrte ihn entgeistert an, warf die Akten wütend auf das Pult und erklärte zornbebend vor Gericht: „So etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Am Tage vor dem vorigen Termin erschien bei mir ein alter Mann und erklärte mir, er beschäftige sich seit Jahrzehnten nur damit, Frieden zwischen streitenden Parteien herbeizuführen: Er hoffte, daß es ihm auch in diesem Falle gelingen würde, und bat mich deshalb, den Termin zu vertagen. Das habe ich, sehr beeindruckt von diesem würdigen Friedensapostel, denn auch getan. Und nun sehe ich, das war der Gegner selbst, der bei mir erschienen ist.“ – Seine Entrüstung half ihm natürlich nicht. Den Prozeß hatte er verloren, und das mit Fug und Recht, denn jene Urkunde war unwiderleglich.

      Dieser mein alter Klient kam übrigens einmal unerwartet zu militärischen Ehren. Der Vorsitzende in einem seiner zahlreichen Prozesse hatte das persönliche Erscheinen der Parteien angeordnet, und als er nun beim Aufrufen den „Major“ Reches zitierte, – er hatte nämlich den Vornamen Majer als Major gelesen – war er nicht minder verblüfft, wie er Majer Reches erblickte, als dieser über die ihm verliehene militärische Würde. Er verwahrte sich dann auch mit Entschiedenheit unter stürmischer Heiterkeit des zahlreichen Auditoriums gegen jene Rangerhöhung. Es gab Vorsitzende, welche Parteien mit kriegerischer Vergangenheit mit beson­derer Sympathie betrachteten. So kam es, daß sich in einem Falle auf diese Weise ein Mann aus dem Osten die ganz besondere Sympathie eines solchen preußischen Richters erwarb. Es war in einer Strafverhandlung und der betreffende Vorsitzende war durch und durch preußisch militärisch eingestellt, Vorsitzender einer Gruppe des „Alldeutschen Flottenvereins.“ Und gerade vor ihm mußte Lipschitz erscheinen, angeklagt wegen Hehlerei. Er hatte einen Pelz zu verdächtig niedrigem Preise erworben. Der Vorsitzende musterte den „Landfremden“ mißmutig und nahm mit höhnischem Lächeln die Personalien auf: In Galizien geboren, jüdischer Religion etc., Beruf:...? – Da kam die allen, nur nicht dem Verteidiger unerwartete Antwort: „Seemann.“ Ungläubig starrte der Richter ihn an. „Seemann? – Wie lange waren Sie auf See?“ – „Fast 20 Jahre“, lautete die gleichmütige Antwort, und der Angeklagte legte dem verblüfften Gericht Papiere des „Norddeutschen Lloyd“ und der „Hamburg-Amerika-Linie“ vor, aus denen hervorging, daß er lange Jahre auf den Schiffen dieser