Erinnerung an meine Jahre in Berlin. Sammy Gronemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sammy Gronemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783863935214
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und romantische Fahrt von Orsowa über Vieczerowa durch das „Eiserne Tor“ und den Engpaß von Kasan, bei der man in den Felsen noch die Spuren des Durchzugs der römischen Legion unter Trajan sieht, will ich nicht beschreiben. Sie ist ungeheuer lebendig in den ersten Kapiteln des „Goldmensch“ des leider und zu Unrecht in Vergessenheit geratenen großen Romanciers Moritz Jockey geschil­dert. Wir genossen den Anblick, behaglich auf dem Verdeck sitzend, neben mir jener alte Arzt, ein ungarischer Offizier, und eine ungarische jüdische Dame. Im Gespräch ergab es sich, daß der Offizier sehr wohl Verständnis für die jüdischen Aspirationen hatte, während ich in der jungen Dame eine Vertreterin jenes jüdisch-ungarischen Chauvinismus kennenlernte, wie ich ihm später noch sehr häufig begegnet bin. Und so kam es, daß bald die Dame mit dem Offizier in einen lebhaften Disput geriet, in dem der Ungar die jüdische, sie aber die ungarisch-nationale Idee vertrat. Bei Bazias enden die Ausläufer des Gebirges, dort verbreitert sich der Strom, und die Gegend wird eben. Gerade, als wir an Bazias vorbeikamen, hielt die Dame eine lange Suada voll von bekannten Banalitäten der assimilatorischen Mentalität. Ich hatte mich lange ruhig verhalten und sagte nur lässig, auf die Landschaft weisend: „Schade, es wird immer flacher.“ Die recht gescheite junge Dame biß sich auf die Lippen, brach ihre Rede ab, und wir wandten uns harmlosen Themen zu. Abends langten wir in Belgrad an, ich verabschiedete mich von der an sich sehr sympathischen Reisegesellschaft, warf noch einen wehmütigen Blick auf jene Rose im Haar der schönen fremden Frau und betrat serbischen Boden. Zu meinem höchsten Erstaunen fand ich ein besonders elegantes Hotel in der sonst wenig einladenden Stadt und konnte mir diese Eleganz nicht recht erklären, bis ich hörte, daß dort die ungarischen Offiziere aus dem gegenüberliegenden Semlin zu verkehren pflegten, und sich dort ein Spielklub aufgetan hatte. Als ich am andern Tag die Stadt besichtigte, feierte wieder mein Polyglott Kunze, diesmal der serbisch-deutsche, Triumphe. Ich fand darin unter der Rubrik „Gespräch auf der Straße“ folgende hübsche Anweisung: „Mein Fräulein, darf ich Sie begleiten?“ – „Mein Fräulein, Sie sind ein Engel!“, und darauf folgte ziemlich logisch die Vokabel „der Kuß“. Die Dame aber hatte seltsamer Weise keine andere Antwort als: „Sie sprechen aber ein ausgezeichnetes Serbisch“, worauf dann die schlagfertige Antwort erfolgte: „Ich habe auch einen ausgezeichneten Sprachführer Polyglott Kunze, in allen besseren Buchhandlungen zu haben.“

      Ich fuhr dann mit der Bahn durch die Puszta nach Budapest und über Wien nach Berlin. Meine Eindrücke von diesen beiden Städten, die ich nachher noch oft besuchte, behalte ich späterer Gelegenheit vor.

      VII.

      Dem Herannahen des IX. Kongresses sahen die Freunde von Wolffsohn wieder recht kleinlaut entgegen. Seine Gegner hatten nach der Niederlage auf dem VIII. Kongreß eine heftige Agitation gegen ihn entfaltet, und in weiten Kreisen glaubte man, in ihm eine Art von Schattenkönig zu sehen, der eine Puppe in den Händen irgendwelcher Drahtzieher wäre. Nebenher argumentierte man mit einem anderen Argument: Selbst wenn Wolffsohn die genialste Führerpersönlichkeit wäre, wäre es doch undenkbar, daß der Sitz der Organisation in einer Provinzstadt wie Köln läge. Aus politischen Gründen und aus Gründen des Prestiges müßte die Zentrale nach einer europäischen Hauptstadt verlegt werden, etwa nach Berlin, dem Wohnsitz von Warburg, und Wolffsohn weigere sich konstant, zu übersiedeln. – Wir gingen nach Hamburg, wohin der Kongreß für Dezember 1909 einberufen war, eigentlich in der Überzeugung, daß Wolffsohns Schicksal besiegelt sei, und wir in Warburg den künftigen Präsidenten zu sehen hätten.

      Der Kongreß begann an einem Sonntag, und die Vorkonferenzen, die größtenteils in dem Hause der Bnei Brith-Loge stattfanden, begannen eine Woche früher. Ein ärgerlicher Gedanke war es, daß der Tag vor der Kongreßeröffnung ein Sabbat war, und daß bestimmt bei den Versammlungen im Logenhaus an diesem Tage von vielen Teilnehmern geraucht werden würde; das hätte nun aber in den Kreisen der konservativ eingestellten Juden Hamburgs unliebsames Aufsehen erregt. Es war klar, daß durch einen Appell an den Takt nichts erreicht werden würde. Viele der Radikalen hätten es als einen Verrat an ihrer Weltanschauung betrachtet, mit Rücksicht auf den Sabbat ihre Zigaretten nicht anzustecken. Da war es Wolffsohn, der einen originellen Ausweg fand: als die Teilnehmer der Vorkonferenzen am ersten Sitzungstag, also am Sonntag das Haus betraten, fanden sie dort überall Plakate, in denen mitgeteilt wurde, daß in diesem Hause das Rauchen polizeilich verboten sei. Polizeivorschriften sind ja nun nicht so leicht zu umgehen wie die Vorschriften vom Sinai, und so kam es, daß man sich die ganze Woche in diesem Hause des Tabaksgenusses enthalten mußte. Um so erstaunter war man, als dann am Sabbatausgang, dem Abend vor Kongreßeröffnung, die Plakate verschwunden waren.

      Am Sonntag früh, kurz vor der für die Eröffnung festgesetzten Stunde, entstand ganz unerwartet eine neue und ernsthafte Schwierigkeit: Schon hatte das Aktionskomitee sich in einem Nebenraum versammelt, um, wie üblich, geschlossen die Tribüne zu betreten, als Boris Goldberg erschien und verstört mitteilte, daß Max Nordau sich entschieden geweigert hätte, das Präsidium des Kongresses zu übernehmen. Das war ein Schlag für uns alle. Keiner von uns war auf den Gedanken gekommen, daß etwas Derartiges eintreten könne, und wir starrten ziemlich ratlos einander an. Da erschien Nordau selbst und setzte in seiner gewohnten klaren und logischen Art seine Gründe auseinander. In der Tat waren sie derart einleuchtend, daß sie seine entschiedene Weigerung durchaus rechtfertigten, – es gab eigentlich gegen seine Argumentation keine Einwände. Es trat eine betretene Pause ein. Auf einmal erhob sich Wolffsohn, trat vor Nordau hin und sagte: „Dr. Nordau, noch bin ich Präsident der Organisation. Erkennen Sie meine Autorität an?“ – Nordau nickte stumm. „Dann befehle ich Ihnen hiermit“, erklär­te Wolffsohn mit starker Stimme, „das Präsidium anzunehmen.“ – Es war eine merkwürdige Szene. Allen stockte der Atem. Nordau sprach kein Wort, sondern beugte sich langsam tief bis zur Erde – nie wieder habe ich eine solche Verbeugung gesehen – richtete sich auf und, ohne ein Wort zu sagen, ging er in den Saal voran und übernahm das Präsidium. Man muß sich, um diese Szene in ihrer ganzen Bedeutung zu verstehen, vergegenwärtigen, wie Wolffsohn Nordau verehrte und sich vor seiner Geistesgröße beugte, und welche Überwindung es Nordau gekostet haben muß, seine Überzeugung in diesem Fall zu opfern und so uns allen ein Beispiel der Disziplin zu geben.

      Der Permanenzausschuß, welcher alle Wahlen vorzubereiten hatte, stand diesmal vor besonders schweren Aufgaben. Der Präsident dieses Ausschusses war Chaim Weizmann. Zu seinem Stellvertreter wurde ich gewählt. Wir saßen am zweiten Kongreßtage, am Montag, in einer erregten Debatte, als Wolffsohn erschien und verlangte, daß wir sofort die Verhandlung abbrechen und in das Plenum kommen sollten, um seine Replique auf die gegen ihn gerichteten Angriffe zu hören. Und nun entrollte sich vor uns eine der eindruckvollsten Szenen, die ich auf einem Kongresse erlebt habe. Die Gegner Wolffsohns hatten ihn in der Generaldebatte durchaus nicht geschont. Alle die Gegnerschaft, Verbitterung und Enttäuschung, die sich angesammelt hatten, kamen rückhaltlos zum Ausdruck. Vor allem war es Posmanik, der auf ihn loshackte. Es schien, daß Wolffsohn vollkommen darniederlag, und daß ihm eigentlich nichts übrigblieb, als stumm zu resignieren. Als er seine Rede begann, sah es eine Zeitlang so aus, als ob man ihn überhaupt nicht anhören wolle. Erst allmählich wurde es ruhiger und ruhiger, und in staunendem Schweigen hörte man schließlich atemlos dem Redner zu, der sich wirklich in dieser Rede zu einer auch von seinen Freunden nie geahnten Höhe aufschwang. Neben mir auf der Treppe zur Tribüne stand Dr. Osias Thon aus Krakau, immer bloß flüsternd: „Welch ein kluger Jid!“ Es war ein ungeheuerer rhetorischer Erfolg, vollkommen überraschend für Freund und Feind. Als Wolffsohn geendet hatte, erhob sich der ganze Kongreß und stimmte die „Hatikvah“ an. Wolffsohn wurde genötigt, noch ein paar Dankworte hinzuzufügen (im Kongreßstenogramm fehlend). Alles umringte den Redner, um ihn zu beglückwünschen. Nordau schüttelte ihm die Hand und sagte: „Die Bestie ist gebändigt. Der Kongreß hat einen Mann gespürt.“

      David Frischmann hat im „Heint“ in besonders reizvoller Weise jene Szene geschildert und mit beißender Ironie die Niederlage jener Männer beschrieben, die Wolffsohn nun als ein Nichts dargestellt hatte, und die jetzt den ungeheuren Erfolg seiner Persönlichkeit erleben mußten. – Ich muß hier noch eine kleine Episode erzählen, die so überaus charakteristisch für Wolffsohn ist: In diesem Momente, den man als einen Höhepunkt seines Lebens bezeichnen kann, als ihn alles umringte und ihm zujubelte, und man annehmen mußte, daß er von seinem Erfolge berauscht sei, packte