Erinnerung an meine Jahre in Berlin. Sammy Gronemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sammy Gronemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783863935214
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in einer Ecke mit Wolffsohn, als plötzlich Bodenheimer mit einer gewissen Feierlichkeit vor ihn trat und fragte: „Herr Präsident Wolffsohn, ich frage Sie noch einmal und erwarte eine präzise Antwort: Ist es für Sie absolut ausgeschlossen, nach Berlin zu gehen?“ – Ich sah gespannt Wolffsohn an. Wolffsohn unterdrückte, glaube ich, ein unhöfliches Wort, biß sich auf die Lippen und antwortete nach Sekunden: „Sie kennen meine Erklärungen. Ich kann an dem, was ich gesagt habe, nichts ändern.“ – Bodenheimer entfernte sich, und ich hatte den Eindruck, daß Wolffsohn leise vor sich hin schimpfte. Ich hatte die Keckheit, ihm zu sagen: „Herr Präsident, ich glaube, Ihr Spiel zu kennen. Sie sind innerlich entschlossen, wenn Sie Präsident bleiben, in Kürze nach Berlin zu ziehen.“ – Wolffsohn wandte überrascht sein Gesicht mir zu, sah mir bedeutsam in die Augen und gab mir schmunzelnd einen kräftigen Rippenstoß, sagte aber kein Wort.

      Daß es später anders kam, lag daran, daß Wolffsohn ein halbes Jahr später in Königsberg eine schwere Herzattacke hatte und von da an wußte, daß er seine volle Arbeitskraft nie wiedererlangen würde, und daß seine Tage gezählt wären. Das geschah nach einer recht interessanten Aktionskomitee-Sitzung im Hotel Esplanade in Berlin, in der viele Differenzen ausgetragen wurden und bei der Wolffsohn mehr mit seinen eigentlichen Parteigängern, insbesondere mit Alexander Marmorek, zu kämpfen hatte, als mit den sogenannten „Praktischen“; denn jetzt wurde ihm wieder übelgenommen, daß er allzu wenig Gewicht auf die politische Tätigkeit legte. Wenn David Wolffsohn sich so an das Amt klammerte, geschah das nicht aus persönlicher Eitelkeit oder aus übergroßem Geltungs­bedürfnis. Er war fest überzeugt davon, daß in diesem Moment er auf jenem Posten unentbehrlich sei, und sein Abgang eine schwere Gefährdung der Bewegung hervorrufen würde. Er fühlte sich als Wahrer der Erbschaft seines großen Freundes Herzl und hätte es als Felonie betrachtet, wenn er den Posten nicht bis aufs letzte verteidigt hätte. Als die Ärzte ihm dringend rieten, sich von jener zionistischen Arbeit zurückzuziehen, da sie sonst für nichts einstehen könnten, sagte er: „Ich habe keinen Kontrakt gemacht, nachdem ich verpflichtet wäre, 60 Jahre alt zu werden.“

      VIII.

      Meine Berufstätigkeit entwickelte sich sehr interessant. Von jeher hatte ich eine besondere Vorliebe für Detektiv-Romane und ging gern in den Spuren des Chevalier Dupin (Poe), Sherlock Holmes (Doyle) oder Mr. Lecocq (Gaboriau), deren Ahnherr ja eigentlich Wilhelm Hauffs Jude Abner ist. Ich suchte die bewährten Methoden dieser Helden zu befolgen und erlangte eine gewisse Fertigkeit, die mich in die Lage versetzte, ganz fremden Leuten, die in meine Sprechstunde kamen, von vornherein anzusehen, was sie zu mir führte. Ich erinnere mich z. B., einen wildfremden Mann, der in mein Zimmer trat, noch bevor er ein Wort gesagt hatte, dadurch in ziemliche Verwirrung gesetzt zu haben, daß ich bemerkte: „Ich gebe zu, daß Sie als Lehrer manchen Versuchungen ausgesetzt sind, aber es ist schlimm, daß Sie sich an den Ihnen vertrauten Kindern in so schwerer Weise vergangen haben.“ Er versuchte zu leugnen, aber als ich ihm sagte, daß ich dann kaum zu solcher Diagnose gekommen wäre, gestand er sein Vergehen. Er wurde dann auch zu längerer Gefängnisstrafe verurteilt.

      Bei diesen meinen Neigungen war es natürlich sehr interessant, als ich eines Tages von einem mir nur dem Namen nach bekannten russischen adligen Latifundienbesitzer ein Telegramm bekam, in dem ich aufgefordert wurde, unverzüglich nach München zu fahren, um die Umstände des Todes des Grafen T. aufzuklären. Ich fuhr sofort in die Bayrische Hauptstadt und arbeitete dort mit Hilfe eines Detektivbüros, und indem ich die Bekanntschaft aller möglichen Leute aus der Umgebung jenes Grafen T. machte, drei Tage lang mit größter Intensität, um dann – eigentlich mit großer Enttäuschung – festzustellen, daß der Graf auf die natürlichste Weise nach einer Operation in der Klinik unter Erweisung aller medizinischen Ehren verstorben war. Ich nahm an, daß mein Auftraggeber ebenso enttäuscht sein würde und berichtete ihm telegraphisch und brieflich über den negativen Erfolg meiner Bemühungen. Zu meinem Erstaunen erhielt ich dann ein überaus befriedigtes und verbindliches Dankschreiben und ein reichliches Honorar. Was eigentlich hinter der Sache steckte, habe ich nie erfahren.

      In einem andern Falle aber hatten wir, oder in der Hauptsache Alfred Klee, die Gelegenheit, einen Todesfall, der unter eigentümlichen Umständen erfolgt war, wirklich aufzuklären und damit zwei brave Leute von Elend und Schande zu retten. In einem Harzstädtchen war eine alte Frau gestorben, und es ging in dem Ort das Gerücht um, daß ihre Tochter und deren Mann, angesehene Bürger, sie beseitigt hätten. Besonders war es der Bürgermeister, der mit diesen Leuten verfeindet war, der dieses Gerücht verbreitete und schließlich die Staatsanwaltschaft zum Einschreiten veranlaßte. Die Leute wurden in Haft genommen und kamen vor das Schwurgericht in Göttingen. Das Verfahren endete damit, daß die beiden zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Der Arzt aber, der die alte Frau behandelt hatte, beruhigte sich dabei nicht, überzeugt von der Unschuld der Leute und davon, daß die alte Frau eines natürlichen Todes gestorben war. Er wandte sich an hervorragende Sachverständige in Berlin, und man zog schließlich Alfred Klee zu, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen. Die Aufhebung eines schon rechtskräftig gewordenen Urteils gelingt nur äußerst selten. Klee, nachdem er die Überzeugung gewonnen hatte, daß hier ein Justizmord vorlag, setzte mit ungeheurem Eifer das Wiederaufnahmeverfahren durch, und in der neuen Verhandlung vor dem Schwurgericht erreichte Klee den Freispruch und die vollkommene Rehabilitierung der unschuldigen Angeklagten. Die Leute waren natürlich überglücklich, und die Frau kam eines Tages nach Berlin gefahren, um noch einmal in unserem Büro sich zu bedanken. Sie schilderte eindringlich die Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, und schloß ihre Rede mit den bezeichnenden Worten: „Mein guter Engel hat mich schließlich zu Ihnen geführt, und so bin ich endlich in gute christliche Hände geraten.“ Sie war wohl nicht die einzige, welche die Erfahrung machen mußte, daß das, was im allgemeinen unter „guten Christen“ verstanden wird, sich sehr oft gerade unter Juden findet.

      Seltsamer Weise wurde meine detektivische Neigung auch in der berühmten Konitzer Affäre in Anspruch genommen. Der Fall selbst, die Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter lag freilich Jahre zurück. Um das Jahr 1900 war ein 19jähriger, wegen seines ausschweifenden Lebens recht übel beleumdeter junger Mann, Schüler des Gymnasiums der Stadt Konitz, ermordet worden. Seine Leiche war zerstückelt, und die einzelnen Teile wurden an verschiedenen Stellen aufgefunden. Sofort tauchte das alte Gespenst der Ritualmordbeschuldigung auf. Die antisemitische Presse bemächtigte sich des Falles, und besonders tat sich der Redakteur der Staatsbürger-Zeitung, der berühmte Antisemitenführer Bruhn, hervor. Bis in die weitesten Kreise schenkte man dem Märchen Glauben. Ich erinnere mich, wie ein jüdischer Amtsrichter, der, um sich der unerträglich gewordenen, vergifteten Atmosphäre in Konitz zu entziehen, sich nach Hannover hatte versetzen lassen, – viele Juden verließen damals ihre Heimatstadt – zu seinem Schrecken bei einem Diner von seiner Nachbarin, die den besten und intelligentesten Kreisen angehörte und nicht ahnte, daß ihr Tischherr Jude war, hören mußte: „Sie sind aus Konitz? Da zweifelt doch sicher kein Mensch daran, daß dieser Winter ein Opfer fana­tischer Juden geworden ist.“ – Es kam in Konitz und Umgebung zu ernsthaften Pogromen, und nur das Einschreiten von Polizei und Militär verhinderte Schlimmeres. Die Untersuchungen blieben erfolglos, obwohl sich die gewiegtesten Kriminalisten und Detektive Deutschlands der Sache angenommen hatten. Es gab nun eine Reihe von Meineidsprozessen gegen verschiedene Einwohner der Stadt, die in der Sache als Zeugen vernommen waren, und mehrere von ihnen wurden auf Grund sehr zweifelhafter Aussagen zu schweren Zuchthausstrafen verurteilt. Maximilian Harden hat in seiner „Zukunft“ ausführlich über diese Vorgänge sich ausgelassen. Selbst als ein Gutachten höchster medizinischer Autorität zweifellos fest­gestellt hatte, daß Winter erwürgt war, offenbar bei einem galanten Abenteuer überrascht, brachte das die Hetze nicht zum Stillstand, und der Glaube an den Ritualmord blieb unerschüttert.

      Nun, viele Jahre später, kam zu mir eines Tages höchst aufgeregt der Redakteur Julius Moses, der spätere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, und erklärte, er glaube, jetzt auf der Spur jenes Mörders zu sein. Es fand eine Konferenz bei dem schon oft von mir genannten M. A. Klausner statt, und dort wurde mir nun mitgeteilt, daß gewisse Indizien auf einen Konit­zer Schulmann hinweisen. Man meinte, daß dieser jenen unglücklichen jungen Mann beim Verkehr mit seiner Tochter ertappt habe, und daß dann im Jähzorn jene Tat von ihm begangen sei. Das mir vorgelegte Material war sehr dürftig. Es handelte