Alles Alltag. Sascha Wittmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sascha Wittmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903061828
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Land war, musste man auch etwas für die Bildung tun, Kulturstätten besichtigen. Es war heiß, mir haben die Füße wehgetan. Wenn ich gefragt habe, wann wir endlich bei dieser Kirche, Burg, diesem Tempelrest sein würden, war die Antwort immer: »Wir müssen nur noch um diese eine Ecke gehen, dann sind wir da.« Und das hat meistens auch gestimmt. Der Haken war nur, dass nach der Besichtigung der Kirche nicht Schluss war. Darauf folgte ein Museum, eine Ausgrabung, was auch immer. Und man musste jedes Mal nur noch einmal um die Ecke gehen.

      So ist es meine ganze Kindheit und Schulzeit, sogar noch danach, weitergegangen, wenn auch im übertragenen Sinn. In der Volksschule hast Du, Mama, meine Aufgaben kontrolliert. Natürlich hast Du in den meisten Fehler gefunden, so dass ich sie ein zweites Mal schreiben musste. Sich noch einmal anstrengen, damit der Platz im Gymnasium gesichert ist.

      Da war erst einmal Ruhe, wenn ich auch gemerkt habe, dass Ihr enttäuscht darüber wart, dass ich die Klassen nie mit Vorzug abgeschlossen habe. Als ich aber in der siebenten Klasse verkündete, ich wolle lieber eine Tischlerlehre machen, war es wieder vorbei mit Eurer Geduld. »Jetzt hast du es schon so weit geschafft, da kannst du doch nicht aufgeben.« »Ohne Matura hat man heutzutage keine Chance.« »Es sind doch nur noch eineinhalb Jahre, das schaffst du!« Da war sie wieder, die Ecke, hinter der das Ziel lag. Diesmal hieß sie »eineinhalb Jahre«. Ich habe wieder auf Euch gehört, habe mich durch Latein gekämpft, obwohl ich vor den Schularbeiten jedes Mal Magenschmerzen bekam, habe Formeln gelernt, bis mir der Kopf wehtat. Und ich habe es wieder geschafft, zwar knapp am Vorzug vorbei, aber ich war am Ziel.

      Nur: Wie üblich war es ein Zwischenstopp. Ein halbes Jahr Australien oder eine ausgiebige Südamerika-Reise? Da verlöre man ja ein bis zwei Semester, das könne man nach dem Studium nachholen. Und: »Mit Literatur kannst du dich auch in der Freizeit beschäftigen.« Also inskribierte ich Betriebswirtschaft.

      Seither hat sich die Sprache verändert, nicht aber der Inhalt. Nun heißt es: »Sie müssen sich immer neue Ziele stecken!« Nur nicht ausruhen, niemals zufrieden sein. Die nächste Prüfung, der erste Studienabschnitt, Ferienjobs und Praktika, die einen weiterbringen, Sponsion. Einen Job, nicht irgendeinen, sondern einen mit Karrieremöglichkeiten. Und gleich das nächste Ziel vor Augen haben, nur kein Stillstand.

      Und auch privat. Natürlich muss man heutzutage nicht mehr unbedingt heiraten, aber ein eigenes Haus, eine Familie mit ein bis zwei Kindern … Irgendwann wird es dann doch Zeit, erwachsen zu werden. Ja, und Ihr habt recht gehabt: Auf Dauer wäre es mit Florian nichts geworden. Unreif, unstet … Da ist Bernhard schon ein ganz anderes Kaliber: guter Job mit besten Aussichten, verantwortungsbewusst, ein Familienmensch. Große Leidenschaft sei keine Garantie für eine gute Ehe.

      Mama, Papa, Ihr habt es sicher gut mit mir gemeint, wolltet nur das Beste für mich. Und ich bin ja im Wesentlichen auch Eurem Rat gefolgt, habe nur ganz selten aufbegehrt, habe daran geglaubt, dass das ersehnte Ziel gleich hinter der nächsten Ecke liegt.

      Aber um diese Ecke werde ich nicht mehr gehen.

      Ich habe Bernhard schon gesagt, dass es mir leidtut. Zum Glück waren die Hochzeitsvorbereitungen ja noch nicht recht weit fortgeschritten.

      Macht Euch um mich keine Sorgen. Ich bin unterwegs, irgendwo, vielleicht in Australien, vielleicht in Südamerika. Ich werde mich zwischendurch melden. Keine Angst, wahrscheinlich komme ich zurück. Und wenn nicht, sage ich Euch, wo Ihr mich besuchen könnt.

      Danke für alles und bis bald!

      Eure

      Katharina

       Sprachfrust

      »Mit dem Ehrmann-Multifunktionsschneider können Sie nicht nur Gemüse raspeln. Nein, meine Damen, Sie können auch wunderschöne Blüten aus Karotten und Gurken für Ihr exquisites Party-Buffet schnitzen. Aber das ist noch nicht alles: Sehen Sie, mit einem Handgriff habe ich diesen praktischen Aufsatz montiert. Und jetzt kann ich mit dem Ehrmann-Multifunktionsschneider Nüsse mahlen, aber auch Käse oder Schokolade. Und wenn ich diesen Einsatz zusätzlich verwende, dann kann ich sogar Mohn oder Kaffee mahlen. Sie sehen, der Ehrmann-Multifunktionsschneider erspart Ihnen eine Menge verschiedener Haushaltsgeräte und damit Platz in Ihrer Küche. Aber nicht nur das. Der Ehrmann-Multifunktionsschneider funktioniert ganz ohne elektrischen Strom. Damit erspart er Ihnen auch eine Menge Geld, gerade in Zeiten, in denen ohnehin alles immer teurer wird. Mit seiner ausgeklügelten Mechanik ist er ganz einfach zu bedienen. Die Kurbeln laufen butterweich. Kommen Sie nur näher, meine Damen, überzeugen Sie sich selbst von der überragenden Qualität des Ehrmann-Multifunktionsschneiders. Kommen Sie!« … »Mit dem Ehrmann-Multifunktionsschneider können Sie …«

      Um Punkt neunzehn Uhr kommt Klaus Bachmüller in das Weinhaus Schnabel. Wie jeden Tag stellt er sich an die Schank. Schon nach fünf Minuten stellt der Wirt ein frisch gezapftes Krügel Bier vor ihn hin. Es wird nicht gesprochen. Klaus Bachmüller starrt vor sich auf die Schank. Die zwei, drei anderen Männer im Raum, alles Marktstandler, plaudern miteinander über den Arbeitstag, die Kinder, die Frauen. Der Wirt kennt sämtliche Lebensgeschichten. Ab und zu gibt er einen Rat, sagt ein paar aufmunternde Worte. Klaus Bachmüller trinkt sein Bier aus, legt das Geld auf die Schank und verlässt das Lokal.

      Die paar Schritte bis zu seiner Wohnung geht er zu Fuß. Die Wohnung ist klein und recht kahl. Nur auf dem Fernsehapparat steht das gerahmte Foto seiner Tochter, er trifft sie einmal im Monat. Auf dem Foto ist das Mädchen ungefähr fünf Jahre, jetzt ist sie schon doppelt so alt. Den Fernsehapparat schaltet Klaus Bachmüller nur ein, wenn seine Tochter da ist.

      Aus der Küche holt er sich Semmeln und Aufstrich, die er vor der Arbeit besorgt hat, einen Teller und ein Messer. Er isst drei oder vier Aufstrichsemmeln. Das Geschirr wäscht er sofort nach dem Essen ab. Dann trinkt er sein Bier aus der Flasche. Drei bis vier pro Abend. Er starrt an die Wand. In der Wohnung ist alles still, den Straßenlärm hört man nur sehr gedämpft herein.

      »Mit dem Ehrmann-Multifunktionsschneider können Sie nicht nur Gemüse raspeln. Nein, meine Damen, Sie können auch wunderschöne Blüten aus Karotten und Gurken für Ihr exquisites Party-Buffet schnitzen. Aber das ist noch nicht alles: Sehen Sie, mit einem Handgriff habe ich diesen praktischen Aufsatz montiert. Und jetzt kann ich mit dem Ehrmann-Multifunktionsschneider Nüsse mahlen, aber auch Käse oder Schokolade. Und wenn ich diesen Einsatz zusätzlich verwende, dann kann ich sogar Mohn oder Kaffee mahlen. Sie sehen, der Ehrmann-Multifunktionsschneider erspart Ihnen eine Menge verschiedener Haushaltsgeräte und damit Platz in Ihrer Küche. Aber nicht nur das. Der Ehrmann-Multifunktionsschneider funktioniert ganz ohne elektrischen Strom. Damit erspart er Ihnen auch eine Menge Geld, gerade in Zeiten, in denen ohnehin alles immer teurer wird. Mit seiner ausgeklügelten Mechanik ist er ganz einfach zu bedienen. Die Kurbeln laufen wie geschmiert …«

      Klaus Bachmüller hat ein anderes Wort verwendet.

      Seit fünf Jahren steht Klaus Bachmüller jeden Werktag von neun Uhr in der Früh bis um sechs Uhr am Abend am Marktplatz und preist den Ehrmann-Multifunktionsschneider an. Für jedes verkaufte Gerät bekommt er eine Provision. Bei der Einschulung am ersten Arbeitstag hat man ihm den Werbetext ausgehändigt. Er hat ihn über Nacht auswendig gelernt und nicht ein einziges Wort daran geändert. Aber heute …

      Pünktlich um achtzehn Uhr bringt Klaus Bachmüller, wie immer, die Geräte und den Präsentationstisch in sein Lager hinter den Marktständen. Sorgfältig putzt er den Tisch und das Vorführgerät. Das Gemüse und die übrigen Lebensmittel wirft er in den Kompost-Sammelbehälter.

      Um Punkt neunzehn Uhr steht er an der Schank des Weinhauses Schnabel. Alles wie gewohnt. Als Klaus Bachmüller das Geld für sein Bier auf die Schank gelegt hat und in Richtung Ausgang geht, nickt er dem Wirt zum Abschied zu. Wieso das? Schon wieder eine Veränderung. Klaus Bachmüller wundert sich über sich selbst.

      Der Rest des Abends verläuft wie üblich, sodass er in der Früh beruhigt aufwacht.

      »Mit dem Ehrmann-Multifunktionsschneider können Sie nicht nur Gemüse raspeln. Nein, meine Damen, Sie können auch wunderschöne Blüten aus Karotten und Gurken für Ihr exquisites Party-Buffet schnitzen. Aber das ist noch nicht alles: Sehen Sie, mit einem Handgriff habe ich diesen praktischen Aufsatz