Alles Alltag. Sascha Wittmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sascha Wittmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903061828
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wie es alle anderen machen. Manche von ihnen sehen durchaus, was falsch läuft, aber sie sind eben still, schauen auf sich, nicht auf das große Ganze. Das haben sie mir gesagt. Zum Abschied. Als Rat mit auf den Weg gegeben: »Du musst nicht immer die Welt retten.« Aber ich bin eben eine Ratte.

      Und Ratten haben auch Vorteile. Sie sind eklig, besonders der lange, nackte Schwanz. Man braucht kein Mitleid mit ihnen zu haben. Man kann alles Schlechte, Böse, Unerwünschte auf sie projizieren, sie vertreiben und dann guten Gewissens weiterleben in dem Gefühl, der Gemeinschaft einen Dienst erwiesen zu haben.

      Ja, es stimmt, ich war bei den Verhandlungen um die Personalkürzungen, die im nächsten Jahr notwendig sein werden, nicht sehr geschickt. Wenn ich nur still gewesen wäre, im entscheidenden Moment den Mund gehalten hätte … Mein Posten stand ja gar nicht zur Diskussion. Es sollte noch nicht einmal die endgültige Entscheidung fallen, war nur einmal ein erstes Sondieren. Ich hätte mir den Vorschlag des Geschäftsführers, meine Sozialarbeiterin einzusparen, für sie bei anderen Organisationen ein gutes Wort einzulegen, nur ruhig anhören müssen, nur versuchen müssen, dem Argument, dass der neue Job für sie sogar eine Verbesserung sei wegen der kürzeren Wegzeit und eines schöneren Büros, etwas abzugewinnen. Ich hätte dafür ja auch die Sozialarbeiterin einer anderen Abteilung, die verkleinert werden muss, bekommen. Ich hätte nur verbindlich zu lächeln brauchen, etwas Gras über die Sache wachsen lassen und strategisch überlegen, wie ich weiter vorgehen würde, um diese Zumutung abzuwenden: Fakten dokumentieren, warum gerade meine Sozialarbeiterin unersetzlich für uns sei, Informationen sammeln, die die andere in einem schlechten Licht erscheinen ließen. Aber nein, nichts davon habe ich unternommen. Stattdessen begann ich, innerlich zu kochen. Offenbar war mir meine Aufregung auch anzusehen, denn der Geschäftsführer sprach mich ohne Umschweife darauf an, was ich denn von der vorgeschlagenen Lösung hielte. Und ich habe natürlich nicht erst einmal ausweichend geantwortet, um Zeit zu gewinnen. Nein, es ist einfach aus mir herausgesprudelt: dass meine Sozialarbeiterin immerhin schon achtundvierzig sei, also sicher nicht so leicht eine neue Stelle finde, wo sie doch gerade erst privat eine schwere Krise überstanden habe, was die Arbeitsleistung in keiner Weise geschmälert habe, nur brauche sie jetzt eine gewisse Zeit der Stabilität und nicht schon wieder einen Schlag, dass sie mit ihrem Migrationshintergrund eine wichtige neue Sichtweise in unsere Arbeit einbringe. Wahrscheinlich war es auch nicht gescheit, mit dem Leitbild zu argumentieren, in dem steht, dass ein respektvoller Umgang miteinander für uns selbstverständlich sei und wir uns selbst dazu verpflichteten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Benachteiligungen besonders zu fördern. Und immerhin habe meine Sozialarbeiterin eine leichte Gehbehinderung. Gänzlich ungeschickt war es natürlich zu erwähnen, dass die andere wesentlich jünger sei, was ihr bei der Jobsuche wohl einen gewissen Vorteil verschaffe. Außerdem sei sie unbestreitbar sehr hübsch und wisse dieses Privileg gut einzusetzen.

      Nein, ich bin nicht gleich an diesem Tag gekündigt worden. Der Geschäftsführer hat mir in der Sitzung nur zugenickt und mit einem anderen Tagesordnungsthema weitergemacht. Aber eine Woche später wurde ich zu einem Gespräch gebeten. Auch hier ging es nicht um meine Kündigung, jedenfalls vordergründig nicht. Ich wirke in letzter Zeit sehr angespannt, gleichzeitig verbissen. Typische Anzeichen für Burnout. Ich solle mir ausgiebig Zeit für mich selbst nehmen. Man würde mich bei einem Antrag auf Bildungskarenz, am besten gleich ein Jahr, unterstützen. Und natürlich müsse ich mich nicht sofort entscheiden, aber ich solle auch an die Firma denken und mir nicht zu lange Zeit lassen.

      Ich werde dieses Angebot annehmen, obwohl ich weiß, dass es eine Falle ist, nur im ersten Moment verlockend klingt. Der Geschäftsführer will mich loswerden – vielleicht wollen das auch einige Kolleginnen und Kollegen. Er will nichts mehr davon hören, für welche Werte der Verein einmal stand und wie deren Umsetzung in der täglichen Arbeit ausschauen sollte. Denn sonst könnten auch andere auf die Idee kommen, unser Leitbild ernst zu nehmen, könnten fragen, warum wo wie viel investiert wird, wie es sein kann, dass die Tochter des Obmanns gleich nach der Ausbildung eine Teamleiterinnenfunktion bekommen hat. Nein, so etwas darf nicht passieren.

      Ich könnte versuchen, damit aufzuhören, eine Ratte zu sein. Ich könnte – wie viele andere – immer zuerst auf mich schauen. Aber es gelingt mir nicht, wie sehr ich mich auch bemühe. Ich werde das Angebot annehmen, obwohl ich weiß, dass so zur Mitte der Auszeit die Kündigung kommen wird. Oder erst unmittelbar nach der Karenz. Aber sie wird kommen, weil die Ratte verschwinden muss. Trotzdem werde ich das Angebot annehmen, nicht kämpfen, keine Szene machen.

      Denn ich bin zwar eine Ratte, aber inzwischen bin ich eine müde Ratte.

       A star is born

      Die Mama hat gesagt, heuer zu Weihnachten bekommen wir etwas ganz Besonderes. Es wird vielleicht nicht genau am Weihnachtsabend da sein, sondern erst ein bisschen später. Es kann aber auch sein, dass es ein paar Tage früher kommt. Jedenfalls wird es ein besonderes Fest. Und darum habe ich schon am Tag vor dem Heiligen Abend mein schönes rosa Kleid angezogen und habe den ganzen Tag gewartet. Aber es ist nichts passiert. Mama und Papa waren so aufgeregt. Mama hat sich ihren dicken Bauch gehalten, und Papa hat sie dauernd gefragt, ob es schon losgeht. Die Oma war schon seit ein paar Tagen da. Sonst kommt sie immer erst am Weihnachtsabend. Sie hat gekocht und den Christbaum aufgeputzt. Ich habe nicht mehr ins Wohnzimmer dürfen. Die Erwachsenen glauben immer noch, dass ich keine Ahnung habe, wer den Christbaum kauft und schmückt.

      Dabei weiß doch jedes Kind, dass man den Baum ganz besonders schön mit vielen Kerzen machen muss, damit das Christkind in die Wohnung findet und die Geschenke darunterlegen kann. Das hat uns die Tante Evelyne erzählt. Wir haben im Kindergarten nämlich auch einen Christbaum, vor ein paar Tagen war der auf einmal in der Eingangshalle. Er ist schon schön geschmückt, aber ohne Kerzen. Wir haben die Tante gleich gefragt, ob das Christkind auch im Kindergarten Geschenke bringt und den Baum vorher hergestellt hat. Die Tante hat gelacht und uns dann erklärt, wie das mit dem Baum und den Geschenken funktioniert. In der Halle steht der Baum nur, damit wir uns daran erinnern, dass bald Weihnachten ist. Und Kerzen braucht er keine, weil das Christkind am Heiligen Abend nicht hereinfinden muss. Dann sind wir doch alle zu Hause.

      Bei uns hat es auch noch keine Geschenke gegeben. Die Kerzen waren ja nicht angezündet. Nur im Schlafzimmer von Mama und Papa ist seit ein paar Tagen etwas Neues gestanden: ein Gitterbett. Da wird mein kleiner Bruder drinnen schlafen.

      Dass der noch im Bauch von der Mama ist, aber bald raus kommt, haben die Eltern mir schon vor Wochen erklärt. Nur kann man nicht so genau sagen, wann das sein wird. Ich habe mich auf das Baby gefreut, weil ich dann auch zu Hause jemanden zum Spielen habe. Die Eva-Sophie aus meiner Gruppe hat eine kleine Schwester bekommen. Sie sagt, das ist wie mit einer Puppe, nur dass sie halt manchmal total laut schreit.

      Unser Bub wird Emil heißen. Ich war ja für Bob wie Spongebob, aber das hat den Eltern nicht gefallen. Die Oma war sogar ganz böse, woher ich den Namen kenne. Richtig gestritten hat sie mit der Mama, was sie mich für einen Blödsinn im Fernsehen anschauen lässt. Dabei kennen das bei uns im Kindergarten alle.

      Na, jedenfalls sind Mama und Papa dann weggefahren. Einen kleinen Koffer haben sie mitgenommen. Sie waren so nervös, und niemand hat mitbekommen, dass ich immer noch das rosa Kleid angehabt habe und dass es einen Marmeladefleck am Rock gehabt hat. Ich habe so gehofft, dass Emil schon am Weihnachtsabend da ist, damit er am ersten Abend bei uns das Christkind erlebt. Zum Glück weiß das Christkind ja alles. Es wird sicher auch Geschenke für unser Baby bringen, sonst ist es traurig.

      Die Oma hat mich länger aufbleiben lassen, damit ich nicht versäume, wenn das Christkind kommt – oder mein neuer Bruder. Ich habe sogar mit ihr fernsehen dürfen, aber der Film, den sie geschaut hat, war fad. Dauernd haben Männer und Frauen gestritten und sich dann geküsst. Dabei sind sie entweder auf Pferdeweiden gestanden oder am Meer. Die Pferde waren schön, braun oder schwarz und viel größer als die vom Ponyhof, wo wir manchmal mit dem Kindergarten hingehen. Nur ist fast nie jemand auf ihnen geritten. Baden war auch niemand. Wahrscheinlich ist das Wasser zu kalt. Nur zum Anschauen. Fad halt. Ich habe nicht umschalten dürfen. Die Oma hat gesagt, sonst laufen nur Krimis. Die sind zu brutal für mich.

      Auf der Couch bin ich dann doch eingeschlafen. Ich bin erst aufgewacht, wie Omas Handy geläutet hat. Sie war ganz