Alles Alltag. Sascha Wittmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sascha Wittmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903061828
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mit allen Sorgen und Anliegen zur Mutter kommen. Dann das Studium, und kurz vor ihrem Dreißiger hat sie den Job als Eventmanagerin bekommen. Sie war so stolz! Und glücklich. Martha hatte nichts anderes von ihrer Tochter erwartet. Nur ein Schwiegersohn fehlte noch. Immer wieder hatte sie Ursula geraten, nicht so viel zu arbeiten. Dass sie ja überhaupt keine Zeit für einen Freund hatte! Aber Ursula hat nur gelacht. Wie sich die Mutter das vorstelle, bei einem Spitzenjob müsse man sich eben reinhängen. Außerdem treffe sie ohnehin viele Männer, der richtige sei halt noch nicht dabei gewesen. Sie sei mit ihrem Leben glücklich, das hat sie immer gesagt, wenn ihre Mutter nachgefragt hatte. Sie hat auch glücklich ausgeschaut, ein bisschen gestresst, aber sehr hübsch. Wenn nur nicht dieser … Er ist an allem schuld. Vorher ist Ursula ein ausgeglichener Mensch gewesen.

      In der mittleren Lade liegt das Tagebuch. Martha hat sich nie getraut hineinzuschauen, es ungeöffnet in Ursulas Kinderschreibtisch gelegt, nachdem die Polizei es ihr übergeben hatte. Das ist jetzt schon fast zwei Jahre her. Martha fürchtet sich, es zu berühren, schaut es kaum an, als sie es aus der Lade nimmt. Sie legt das Tagebuch auf das Bett.

      Das Bett wird sie weggeben, es braucht ja niemand mehr, stattdessen will sie eine ausziehbare Couch kaufen, falls einmal ein Gast bei ihr übernachtet.

      Als sie hinausgeht, um ein Glas Wasser zu holen, streift sie die Tagesdecke des Betts und das Tagebuch fällt zu Boden.

      »THERAPIETAGEBUCH von Ursula Kouba. Dieses Tagebuch wird ein Jahr lang meine Therapie begleiten. Wenn ich es geschafft habe, in dieser Zeit keinen Alkohol zu trinken, bin ich über den Berg …«

      Das kann nicht sein! Ursula eine Alkoholikerin? Nein! Sie war eine erfolgreiche, schöne, zufriedene Frau, keine Säuferin. Martha schlägt das Tagebuch an einer anderen Seite auf.

      »Sonntag ist Muttertag. Darauf hätte ich beinahe vergessen. Ein hässliches Blumenarrangement im Supermarkt hat mich daran erinnert. Wenigstens ein Tag des Wochenendes wäre also gefüllt. Mutti sagt zwar immer, dass ihr solche Anlässe nichts bedeuten, dass sie nur von der Blumenindustrie erfunden worden seien. Aber wenn sie dann alleine zu Hause sitzt, während alle anderen Mütter ausgeführt werden, ist sie doch traurig. Das weiß ich. Am Abend habe ich also nach einem netten Restaurant gesucht. Ist so knapp vorher gar nicht einfach gewesen, doch ich habe es wieder einmal geschafft: Wir gehen zum Brunch ins Café Gloriette. Hoffentlich ist das Wetter schön, dann können wir sogar im Garten sitzen. Mutti hat sich wirklich darüber gefreut – genau so wie ich es erwartet habe.«

      Na eben: Ursula war nur überarbeitet. Aber nicht einmal im größten Stress hat sie auf den Muttertag vergessen. Das Frühstück damals war herrlich. So ein netter Einfall. Nachher haben Martha alle Kolleginnen zu ihrer aufmerksamen Tochter gratuliert. Sie blättert weiter.

      »Noch vor ein paar Tagen wäre ein Termin an einem Sonntag um elf Uhr ein Problem für mich gewesen. Jedenfalls bin ich heute sehr stolz auf mich. Ich habe trotz Mutti wieder einen Tag geschafft. Schon in der Früh die Frage: Was ziehe ich an? Nicht zu salopp, aber auch nicht zu elegant, sonst regt Mutti sich wieder darüber auf, dass ich zu viel für Kleidung ausgebe. Warum kann sie mich damit immer noch auf die Palme bringen? Der Brunch war durchschnittlich schrecklich. Wir mussten natürlich drinnen bleiben. Im Café darf man nicht rauchen – eine zusätzliche Herausforderung bei einem Treffen mit Mutti. Wenigstens hält das ihre Bemerkungen über meinen Zigarettenkonsum in Grenzen …«

      Nein, das war sicher nur eine Phantasiegeschichte. Es kann nicht real sein, nie hätte Ursula so über ihre Mutter geschrieben. Sie haben einander immer gut verstanden, auch noch, als Ursula schon lange alleine gewohnt hat.

      Martha klappt das Buch zu, nimmt es mit in die Küche. Sorgsam reißt sie Seite um Seite heraus, ohne sie anzuschauen, zerreißt sie, holt den Aschenbecher für Gäste aus dem Geschirrschrank. Er ist so klein, dass sie mehrere Portionen aus den Papierschnipseln machen muss, um alles sicher zu verbrennen.

       Frühlingserwachen

      »Ich heiße Hanna, nicht Jana!« Genaugenommen heißt sie Johanna Novotny, nicht Novotná. Und es waren nicht die allerletzten Worte, die sie zu ihrem Großvater gesagt hat. Aber fast.

      »Nach Prag? Ausgerechnet nach Prag?« Hanna wirft den Gutschein auf ihren Teller, rennt in die Küche. Florian bleibt verdattert sitzen.

      »Aber ich habe geglaubt …«, ruft er ihr nach. Keine Reaktion. Schließlich steht er auf, folgt Hanna. »Was ist so schlimm an Prag? Ich habe gedacht, so ein verlängertes Wochenende könnte nett sein, wo der Stress nun endlich vorbei ist. Und wir waren doch noch nie in Prag.«

      »Sag, hörst du mir gar nicht zu? Hast du mir in den letzten Jahren überhaupt jemals zugehört?« Hanna schnäuzt sich, trinkt einen Schluck Wasser, um das Weinen zu unterdrücken. »Ich geh jetzt eine Runde um den Block.«

      »Wenn du meinst …«

      Es ist noch hell, ein angenehm milder Abend. Hanna schlägt die Richtung zum Park ein, wartet an der Fußgängerampel ungeduldig, bis sie endlich die Straße überqueren kann. Sie geht so weit in den Park hinein, bis sie den Lärm des Berufsverkehrs nur noch gedämpft hört, setzt sich auf eine Bank.

      »Ich heiße Hanna, nicht Jana!« Mit diesen Worten war sie damals aus Großvaters Wohnung gestürmt. Das nächste Mal hatte sie ihn im Spital gesehen – nach dem ersten Schlaganfall. Zuerst hatte es ganz gut ausgesehen, aber der zweite Anfall, kaum eine Woche später, machte alle Hoffnungen zunichte. Großvater lebte, allerdings konnte er sich fast nicht mehr bewegen, schon gar nicht sprechen. Hanna besuchte ihn mindestens einmal in der Woche, hielt seine Hand und redete mit ihm. Immer wieder begann der Großvater zu schluchzen, manchmal nur leise vor sich hin zu weinen, und Hanna war sich nie sicher, ob das eine Reaktion auf ihre Worte war. Verstand er überhaupt noch etwas von dem, was sie sagte? Aber Hanna kam immer wieder, hielt die Hand des Großvaters und erzählte: vom Studium, wie sie sich mit dem Abschluss der Bachelor-Arbeit abmühte, von der Angst vor der letzten Prüfung, der Sorge, ob sie einen guten Job finden würde.

      Sie kann nicht ruhig bleiben, steht auf, wandert ziellos durch das weitläufige Gelände.

      Natürlich hatte sie sich beim Großvater für ihren Ausbruch entschuldigt. Dass sie es nicht so gemeint habe, sie ja nicht habe wissen können, dass es die letzten Worte sein sollten, die er als gesunder Mensch von ihr hören würde. Hanna versuchte dem Großvater, dem ja nichts anderes übrigblieb, als ihr zuzuhören, zu erklären, warum der Name »Jana« ihr so unerträglich war. Dauernd hatte sich der Großvater über die Laschheit der Kinder, wie er es nannte, echauffiert. Dachten nur an ihre Karriere, seien gar nicht mehr bereit, ein Risiko auf sich zu nehmen, gesellschaftliche Solidarität sei ein Fremdwort für sie und so weiter. »Ich habe mich damals etwas getraut. Ich habe heimlich Bücher aus dem Westen verteilt. Wenn die mich erwischt hätten …«

      »Aber Großvater, was soll ich denn schmuggeln? Jetzt wird man nicht mehr verhaftet, wenn man eine andere Meinung als die Regierung hat.« Immer wieder hatten sie über dieses Thema gestritten. Einmal hatte Hanna dem Großvater »Dann geh doch wieder in dein Prag!« an den Kopf geworfen.

      Und der Großvater war tatsächlich einmal in seine alte Heimatstadt gefahren und völlig desillusioniert zurückgekommen. Die jungen Leute dort seien genauso wie hier. Überall regiere der Kommerz, niemand interessiere sich für die Helden von damals, die mit ihrem Mut die Revolution vorbereitet hatten. Hanna hatte ihn ausgelacht. Was er denn glaube, auch dort müssten die Menschen nach vorne schauen, an ihre Zukunft denken.

      Am Spitalsbett entschuldigte Hanna sich dafür und für so vieles andere. Sie habe das nicht böse gemeint, aber sie wolle halt auch einfach so sein dürfen wie ihre Freunde. Studieren, einen Job suchen, Urlaub machen, vielleicht mit dem Freund zusammenziehen. Und all das ohne schlechtes Gewissen, weil man sich für Politik nicht interessiere. Wozu auf eine Demo gegen einen Ball von rechten Burschenschaftern gehen? Die wirklichen Entscheidungen werden doch ganz woanders getroffen.

      Viele Wochen lang erklärte sie das dem stummen Großvater, der nur manchmal unkoordinierte Bewegungen machte, ab und zu weinte. Ob er seine Enkeltochter überhaupt erkannte? Gelegentlich drückte