Alles Alltag. Sascha Wittmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sascha Wittmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903061828
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vor der Hütte und das Plumpsklo. Hier im Haus haben wir in jedes Zimmer ein eigenes Bad einbauen müssen, da willst du die Touristen auf die Alm schicken?«

      Vroni steht auf, um den Laptop von der Kredenz zu holen. »Ich habe mich natürlich schon ein bisserl umgeschaut. Da, auf dieser Seite kannst du Hütten buchen. Siehst du die Preise? Und die haben auch keinen Luxus. Ganz im Gegenteil: Die da gehört zum Beispiel dem Lehner-Ferdl, kannst dich sicher noch an ihn erinnern, der uns damals das kranke Kalb verkauft hat. Kein Strom, kein Wasser, kein See weit und breit, aber schon für den ganzen Sommer ausgebucht, sogar für die Weihnachtsferien, obwohl man da nicht einmal Skifahren kann.«

      »Die Leute spinnen aber wirklich, wenn sie sich im Urlaub das antun. Aber bitte. Und wie stellst du dir das jetzt mit unserer Hütte vor?«

      Vroni blättert in ihren Notizen. Sie habe alles schon geplant. In diesem Sommer könnten die Gäste noch im alten Hof wohnen. Währenddessen würde die Almhütte hergerichtet werden. Michl würde ein paar Fotos machen und die Hütte bei der Vermietungsplattform anmelden. Im Frühling würde man drei oder vier Kälber kaufen, damit die Kinder etwas zum Schauen und Streicheln haben. Kälber machten keine Arbeit, weil sie oben ohnehin genug zum Fressen finden, ausmisten brauche man auch nicht. Man müsse den Touristen ja nicht sagen, dass die Kälber im Herbst zum Schlachter kommen und nicht im warmen Stall den Winter verbringen. Und sie habe sich auch schon etwas Spezielles für die neuen Gäste überlegt: »Ganz einfach. Jeden Tag zur ausgemachten Zeit bringt der Huber-Franzl ein Frühstück hinauf, bäuerliche Produkte und so.«

      »Was für Produkte? Wir haben doch gar keine …«

      Aber Vroni hat an alles gedacht. Natürlich würde sie Butter, Käse, Speck, Brot, Eier und Milch im Supermarkt kaufen, auspacken und nett herrichten. Die Eier kämen in ein mit Stroh ausgelegtes Körberl, die Butter würde in das alte Model geschmiert, das Brot in ein kariertes Hangerl eingeschlagen. »Der Huber-Franzl kommt jeden Tag in der Früh bei uns vorbei, holt die Sachen und tragt sie in der Kraxn hinauf. Im Winter kann er mit der Rodel zurückfahren. Ich habe schon mit seinem Vater geredet wegen des Lohns und dass er auf die Kalberln schauen muss.« Der alte Huber sei sofort einverstanden gewesen, weil er sonst für den Buben ohnehin keine Arbeit finde und der den ganzen Tag nur vor dem Haus sitze und die Leute blöd anrede. »Da haben wir gleich noch einen Pluspunkt: Bei uns am Land sind alle in die Gesellschaft integriert, sogar, wenn einer nicht ganz richtig im Kopf ist. Und das kostet uns nur fünfzig Euro pro Woche«

      »Vroni, das klingt alles total kompliziert. Du hast schon recht, dass die Gäste nicht mehr am Hof werden wohnen wollen. Aber warum lassen wir die Vermieterei dann nicht sein?«

      »Wir vermieten doch schon seit dreißig Jahren. Und grad jetzt, wo wir in Pension sind, ist das kein schlechtes Zubrot. Man weiß ja nie. In Zeiten wie diesen …«

      »Geh, Vroni, wir haben doch beide ganz schöne Pensionen. Wir müssen nicht unbedingt was dazuverdienen. Und außerdem habe ich mir auch schon was überlegt.« Michl lächelt, steht auf und holt vom Zeitungsstapel auf der Truhe im Vorraum den Prospekt von »Gut und Billig«. Er schlägt ihn auf einer der letzten Seiten auf. Drei Wochen Karibik-Kreuzfahrt. All inclusive.

      »Was sollen denn wir zwei in der Karibik? Da ist es heiß. Und die Krankheiten, die man sich einfangt. Erinner dich an den alten Burglehner, wie er geglaubt hat, dass er unbedingt nach Ägypten muss. Dann ist er sechs Wochen gelegen.«

      »Der hat sich beim Tauchen an irgend so einer Koralle verletzt. Das hat sich dann entzündet. Aber so was machen wir ja nicht.«

      »Außerdem ist es in der Karibik fad. Nur Meer und Sandstrand. Schlafen kann ich zu Hause auch.«

      »Stimmt ja gar nicht. Am Schiff gibts jeden Tag ein Unterhaltungsprogramm. Einmal treten sogar die Waldkogler-Buam auf. Und schau da: Am vierten Tag machen die einen Ausflug auf einen Berg durch den Urwald. Oben ist ein total ursprüngliches Dorf. Die Einheimischen dort haben fast noch nie Fremde gesehen. Die werden für uns traditionelle Tänze aufführen und typische Eintöpfe kochen.«

      »Naja, das klingt schon recht interessant. So eine ganz fremde Kultur. Vielleicht sollten wir das wirklich einmal probieren. Verdient hätten wirs uns. Aber im Herbst reden wir noch einmal über die Hütte. Die ist schließlich eine Goldgrube.«

       Vielleicht diesmal

      Struktur ist wichtig. Das hat Dr. Rettner gesagt. Und Dr. Rettner muss man vertrauen. Man darf nicht immer alles infrage stellen. Man muss den richtigen Menschen vertrauen, sonst wird man verrückt, noch ver…

      Jedenfalls ist Struktur wichtig. Sie ist etwas zum Anhalten, gibt Orientierung, wenn die Gedanken wieder einmal … Man weiß, wann man was zu tun hat, muss sich nicht ständig neu entscheiden. Da bleibt man klar im Kopf, kommt nicht in Versuchung, etwas Falsches zu tun, wieder im Chaos zu versinken.

      Und die Struktur schaut folgendermaßen aus: Aufstehen um halb sieben, Tee kochen, während dieser zieht, duschen und die Kleidung, die man sich am Vorabend zurechtgelegt hat, anziehen, zum Tee eine Scheibe Brot mit Butter und Käse, frisieren, die Handtasche nehmen, je nach Witterung etwas überziehen, zur Straßenbahnstation gehen, fünf Stationen bis zur tagesstrukturierenden Einrichtung fahren. Dort wird immer dasselbe gemacht: Buntstifte in Schachteln einlegen. Der Erste in der Reihe öffnet die Blechschachtel, der Nächste legt den weißen Stift ein, der Dritte den hellgelben und so weiter, bis man bei Schwarz angelangt ist. Man selbst sitzt immer bei Violett. Dann wird die Schachtel geschlossen. Der Letzte klebt die Sicherheitsfolie über den Verschluss. Die Pausen sind geregelt, sonst würde das System zusammenbrechen. Rauchen darf man nur im Hof. Das Mittagessen wird von einer Großküche geliefert, die Betreuer schauen darauf, dass es gesund und ausgewogen ist. Die Medikamente nimmt man selbstständig, die Betreuer erinnern einen nur daran. Nach der Arbeit fährt man wieder fünf Stationen mit der Straßenbahn heim, holt die Post, richtet sich ein kaltes Nachtmahl, legt die Kleidung für den nächsten Tag zurecht. Spätestens um neun Uhr, nach der ersten Krimiserie, geht man schlafen. Die Medikamente machen müde.

      Auch für das Wochenende gibt es einen Stundenplan. Den hat man aus dem Krankenhaus mitbekommen, von Dr. Rettner. Der Samstag ist Hauswirtschaftstag. Man darf etwas länger schlafen. Nach dem Frühstück macht man den Wocheneinkauf. Die Liste dafür hat man am Freitagabend geschrieben, damit man nichts vergisst, damit man sich nicht zwischen den Supermarktregalen verliert. Für das warme Mittagessen hat man sich ein Fertiggericht mitgenommen. Am Nachmittag wird die Wohnung geputzt. Danach wäscht man das Haar und macht sich einen gemütlichen Abend vor dem Fernsehapparat. Man gönnt sich sogar etwas zum Naschen: in der einen Woche Chips, in der anderen ein Stück Schokolade.

      Und dann kommt der Sonntag. Der wichtigste Tag der Woche. Eigentlich könnte man lange schlafen, aber meistens ist man zu nervös dazu. Man muss sich zum Frühstück zwingen. Dann bäckt man einen Gugelhupf, einen Marmorgugelhupf, den mag der Mann besonders gerne. Zu Mittag bringt man kaum einen Bissen hinunter, räumt das Geschirr weg, deckt den Tisch für die Jause besonders hübsch, macht sich selbst sorgfältig zurecht.

      Und dann wartet man. Man wartet und wiederholt immer wieder, was man mit dem Therapeuten besprochen hat: Dass es für den Mann auch nicht einfach ist. Dass auch er sich nach dem Zusammenbruch ein neues Leben aufbauen musste. Dass er deshalb vielleicht nicht jeden Sonntag Zeit hat. Dass man es ihm hoch anrechnen muss, dass er einen nie fallen ließ, sich trotz allem noch immer um einen kümmert, dass die Scheidung nur eine juristische Sache war, dass er sogar jetzt, wo er eine Neue hat, noch immer …

      Man wartet. Man bemüht sich, nicht auf die Uhr zu schauen. Strukturen sind wichtig. Das hat Dr. Rettner gesagt. Man kann und darf nichts anderes tun als warten, denn der Sonntag ist der Tag, an dem der Mann kommt. Um drei Uhr. Um seinen Lieblingskuchen zu essen.

      Man darf nicht vergessen, die Kleidung für Montag herzurichten.

       Ich, Ratte

      Ich bin eine Ratte. Niemand mag Ratten. Ratten sind Schädlinge. Sie übertragen Krankheiten, müssen daher ausgerottet werden. Die Krankheit, die ich übertrage, ist die Moral. Ich bemühe mich redlich, dass man mir meine Krankheit nicht ansieht, versuche, sie zu unterdrücken.