Emil Rathenau und das elektrische Zeitalter. Felix Pinner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Felix Pinner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 4064066112011
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trotz der japanischen Emanzipation — einen zweiten Fall auf, in dem sich ein Volk in seinem ganzen ökonomischen Leben so grundsätzlich und grundlegend wandelte, in die Breite, Tiefe und Höhe reckte, wie das deutsche Volk nach dem wahrhaft schöpferischen Einigungskriege von 1870/71. Ich weiß, daß ich eine Binsenwahrheit niederschreibe, die von pathetischen Rednern, denen das unbegreifliche Wunder dieser Befreiung und Beflügelung elementarer Volkskräfte nie das Hirn erhellt hat, so oft leer hingesprochen worden ist, daß sie fast zur Phrase versteinte. Wenn man eine Erscheinung, wie die Emil Rathenaus, wenn man ein Werk, wie das des großen Organisators der Elektrizität in seinen Wurzeln und Verzweigungen, in seinem Werden und Sein verstehen will, darf man sich nicht schämen, diese Binsenwahrheit dreimal unterstrichen noch einmal auszusprechen, nachdem man sie von allem Phrasenwerk gereinigt und mit dem Blut des Gedankens wieder gefüllt hat.

      Was der Schöpfer des geeinten Deutschland politisch erreicht hat, war schon nach wenigen starken Schritten des Volkes auf der neuerschlossenen Bahn klar und im Resultat abzuschätzen. Nach Bismarcks entscheidender staatsmännischer Tat hat es in Deutschland einen großen politischen Gedanken nicht mehr gegeben, brauchte es auch auf lange Zeit keinen mehr zu geben. Die erobernde Arbeit, die jetzt zu leisten war, ist wirtschaftliche Arbeit gewesen, selbst die Ansätze zu einer deutschen Kolonialpolitik, die nach den nun einmal verpaßten Möglichkeiten einer vollblütigen deutschen Kolonialwirtschaft mehr ein Luxus des mächtig gewordenen und reich werdenden Deutschlands waren, als eine wirtschaftliche Notwendigkeit, mußten Nebensache bleiben. Darin — noch mehr als in dem subalternen Niveau der epigonischen Regierungskunst — liegt wohl der tiefste Grund dafür, daß sich die Persönlichkeiten mit Schöpferwillen und Schöpferkraft im Deutschland der nachbismärckischen Zeit nicht der Politik, sondern dem Wirtschaftsleben zuwendeten, daß wir in Deutschland eine Überfülle bedeutender, ja großer Kaufleute und Industrieller, so wenig politische Talente besaßen. Der schöpferische Mensch drängt dahin, wo es zu schaffen gibt, und besonders Männer des großen Wurfes fanden in der Politik nicht das Feld, das ihrem Schaffensbedürfnis genügte, ganz abgesehen davon, daß sich ihr Temperament an den ständigen Reibungen und fruchtlosen Hemmungen (es gibt auch fruchtbare) mit dem Bureaukratenstaat müde gelaufen hätte. Es konnten wohl Organisatoren jener stillen, schmiegsamen Art, wie Stephan und Miquel im preußisch-deutschen Staate ihren Platz finden, eine volle und vielleicht übervolle Kraft wie Dernburg wurde darin nie heimisch, überschritt allenthalben die ihr gezogenen Grenzen, fand die Einheit ihres Werkes auf Schritt und Tritt von hochmütiger Verständnislosigkeit durchkreuzt und kapitulierte schließlich vor dem Geist Erzbergers.

      Die politische Sammlung, die die bis 1870 verzettelten, durcheinander und gegeneinander streitenden Kräfte des Volkes in Richtung und Zusammenwirkung brachte, vermochte aber allein für sich und aus sich zunächst das neue wirtschaftliche Deutschland noch nicht zu schaffen, wenngleich eine Änderung und ein Aufschwung gegenüber dem bisherigen binnenwirtschaftlich beschränkten Zustand des Landes sofort sichtbar wurde, wenngleich aus dem Boden fast fabelhaft schnell frisches Grün emporsproß, vielleicht zu schnell emporwucherte. Aber all das war nur eine Verstärkung, eine Beschleunigung einer in ihrer Art und Richtung bisher schon im Flusse befindlichen Entwicklung. Es war nicht die Etablierung des neuen, technisch wie organisatorisch völlig anders gearteten Systems, das bisher noch nicht dagewesene Betriebsformen, Arbeitsmethoden, Wirtschaftsgebilde in Deutschland auf die Füße stellte, Kanäle und breite Tore auf den Weltmarkt öffnete, aus dem nach innen gerichteten, an versteckten Meereswinkeln träumenden Binnenlande den modernsten und expansivsten Industriestaat, den emsigsten Exporteur der Welt schuf. Dazu bedurfte es erst einer völligen Umdüngung des freigerodeten Bodens, der für die neue Ökonomie aufnahmefähig sein sollte. Die tüchtigen Industrieunternehmungen des Landes erhielten sofort nach dem Kriege einen verstärkten Antrieb gerieten in ein schnelleres Tempo der Entwicklung. Krupp, Borsig, Siemens fingen an wirklich groß zu werden. Sie und ein paar andere Werke wuchsen in die Statur von Weltfirmen hinein, aber die deutsche Industrie wuchs noch nicht zur Weltindustrie. Es gab schon große Industriepersönlichkeiten, Männer von jener zähen, soliden Genialität, die von unten, von klein herauf strebten, ihre Geschäfte Schritt für Schritt aufbauten, ihren Unternehmungen nur den gerade unbedingt notwendigen Schuß von Spekulation beimischten und geliehenes Geld wenn überhaupt, so nur widerwillig, gewissermaßen contre coeur und contre honneur aufnahmen. Noch in unsere heutige ganz anders geartete Zeit ragen Reste dieser Familienindustriewirtschaft hinein. Man denke an die Tradition bei Aktiengesellschaften wie Siemens & Halske und Krupp, an den alten Magnaten- und Gewerkenreichtum in Westfalen und Oberschlesien. Neben diesen Industriepersönlichkeiten und Industriefamilien mit durchaus intensiver Finanzwirtschaft standen schon damals große, oder doch wenigstens berühmte Finanziers. Sie waren entweder ihrem Grundzuge nach reine Bankiers wie damals noch die Bleichröders, Mendelsohns, Schicklers, die Industriefinanzierungen nur gelegentlich mitmachten, oder sie konnten, wenn sie die wechselseitigen Befruchtungsmöglichkeiten von Industrie und Bankgeschäft schon erkannten — wie einer der Bahnbrecher des modernen Finanzwesens, David Hansemann — den neuen Weg nur vorsichtig beschreiten, weil sich in ihrer Hand zu jener Zeit lange noch nicht die Kapitalien gesammelt hatten, die für eine Industriefinanzierung großen Stils notwendig sind. Die damals größte Bank Deutschlands, die Diskontogesellschaft, verfügte in den 70er Jahren über ein Kapital von 60 Millionen Mark, unser heutiges führendes Institut, die Deutsche Bank, nur über ein solches von 45 Millionen. Die Mittel dieser Banken und des Kapitalmarktes flossen in jenen Zeiten abgesehen von den Beträgen, die der Handel beanspruchte, in weit größerem Umfange als den Industrien den Eisenbahngesellschaften zu, die sich damals noch im Privatbesitz befanden und deren Aktien wie Obligationen mit den wichtigsten Posten in der Anlagenbilanz des nationalen Kapitals bildeten.

      Einer allerdings hat schon damals — und zwar schon vor dem Kriege — seiner Zeit und ihren Möglichkeiten mit ungeduldigem Geniewurf vorausgreifend, beides, das Industrielle und das Finanzielle, in denkbar größtem Maße zu vereinen versucht, sich nicht damit begnügen können, ein einziges Unternehmen in Ruhe auszubauen, sondern sein Bedürfnis und seine glänzenden Fähigkeiten im Anregen, Finanzieren und Verwirklichen immer neuer Projekte betätigen müssen. Strousberg, dessen Größe nur allzusehr im „Entwerfen“ lag, und den nicht nur seine nach einem Sündenbock suchende Zeitgenossenschaft, sondern auch die geschichtliche Registratur als das böse Musterbeispiel einer „Gründerei nur um des Gründens willen“, als das Symbol jener sinn- und skrupellosen Wertetreiberei der ersten siebziger Jahre verewigt hat. Er war es nicht, war nicht Symbol, nicht Urheber, sondern Opfer dieser in allen Fäulnisfarben schillernden Periode. Ihre Wurzeln waren nicht die seinen; der Krieg, der die eigentlichen Gründer groß machte, hatte ihn, der damals gerade zuviel auf die Karte seiner rumänischen Bahnbauten gesetzt hatte, bereits empfindlich geschwächt. Die Atmosphäre der Gründerjahre ergriff den schon unsicher Gewordenen, und in ihren Zusammenbruch wurde der Ausschweifend-Geniale, der seine Saatkörner auf zu viele Äcker ausgestreut hatte, als einer der ersten mit hineingezogen. Den guten, den fruchtbaren Grundkern in Strousberg und seiner Methode anzuerkennen, ist Pflicht desjenigen, der die Art und das Werk eines Emil Rathenau in ihrer ganzen Bedeutung für unsere deutsche Wirtschaft erkennen und würdigen will. Wer Rathenau unbedingt bejaht, darf Strousberg nicht unbedingt verneinen. Denn Strousberg hat schon das vorgeschwebt, was Rathenau und die anderen großen Industriellen in den Jahrzehnten um die Wende des 19. Jahrhunderts auf ihren begrenzteren, aber geschlosseneren und intensiver bearbeiteten Arbeitsgebieten verwirklichen konnten. Woran Strousberg scheiterte, das waren Anomalien der Charakterveranlagung und der Zeitverhältnisse, die seinen Plänen und Absichten ebenso stark zuwiderliefen, wie die Schöpfungen Rathenaus und der anderen Nachsiebziger durch Harmonien der Umstände gefördert und hochgetragen wurden. Der Vergleich zwischen Strousberg und Rathenau ist darum ganz besonders lehrreich, wenn man die historischen Wurzeln und Bedingtheiten einer Erscheinung wie der Emil Rathenaus verstehen lernen will. Strousbergs Entwickelung und geschäftlicher Höhepunkt lagen in einer Zeit, in der größere Bildungen industrieller Natur in Deutschland zwar an sich möglich waren, aber doch mangels entwickelter Kapitalmächte und Geldorganisationen, mangels einer ausgebildeten modernen Fabrikationstechnik nicht in verhältnismäßig kurzer Zeit hingeworfen werden konnten. Die bedächtige Entwicklung von innen heraus, der stufenweise Aufbau vom kleineren zum größeren war nötig, um dem industriellen Wachstum Gesundheit und Dauerhaftigkeit zu verleihen. So entwickelten Krupp und Siemens ihre Betriebe, so betrieb Wilhelm v. Mevissen seine Eisenbahnbaupolitik.