Emil Rathenau und das elektrische Zeitalter. Felix Pinner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Felix Pinner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 4064066112011
Скачать книгу
einer späteren Zeit verwirklicht werden konnten. Strousberg ging ohne Rücksicht auf die Zeitumstände zu Werke. Er sprang mit Volldampf in seine Projekte. Nicht aus kleinen Anfängen und Entwürfen wuchsen seine Werke allmählich über sich hinaus, sondern seine Verwirklichungen blieben fast immer hinter dem Idealbild seiner Pläne zurück. Interessant und bezeichnend war es schon, wie er die Geldmittel für seine Gründungen aufbrachte. Sein Kapital stammte — wenigstens in der ersten Periode seiner Gründungstätigkeit — vorwiegend aus England, dem Lande, das ihm den Namen und die industriellen Maßstäbe gebildet, aber wohl auch für deutsche Verhältnisse etwas verbildet hatte. Es war ein geistreicher und geschickter Gedanke Strousbergs, den damals sehr erheblichen Unterschied zwischen dem niedrigen englischen und dem hohen deutschen Geldleihsatz als rentensteigernden Faktor in seine Rechnung einzustellen. Der Gedanke war nicht einmal ganz neu in jener Zeit, aber er war sonst nicht von Deutschen, sondern meist von Engländern ausgegangen und hatte zum Beispiel dazu geführt, daß englische Kapitalisten und Unternehmer in Deutschland Kohlenbergwerke (wie die Hibernia), Gasanstalten (wie die Berliner Imperial Gas Association), zu deren Errichtung von deutscher Seite es an Kapital oder auch an Unternehmungsgeist fehlte, mit eigenen Mitteln und unter eigener Verantwortung gründeten. Strousberg wollte selbst gründen, selbst die vollen industriellen Chancen ausnützen und das englische Kapital, das er verwendete, auf den bescheidenen Platz des mit einer festen Rente abgefundenen Finanz- oder Bankkapitals verweisen. Auch das ließ sich durchführen, und versprach sogar hohen Ertrag, wenn mit der bei einer Verringerung jener Zinsdifferenz eintretenden Gefahr des plötzlichen Abziehens der englischen Gelder gerechnet und gegen die Nachteile, die aus einer derartigen Geldentziehung erwachsen mußten, Vorsorge getroffen worden wäre. Eine solche Vorsorge hätte darin bestehen können, das englische Kapital entweder so fest an die deutschen Unternehmungen zu fesseln, daß eine plötzliche Abziehung nicht hätte vorgenommen werden können. Dann hätte Strousberg aber diesem Kapital einen starken Einfluß auf die Verwaltung und Verfassung seiner Unternehmungen einräumen, wahrscheinlich ihnen sogar einen englischen Sitz und englische Rechtsform, ihren Aktien einen englischen Markt geben müssen (deutsche Aktien würden ja bei einer Krise auf den deutschen Markt geworfen worden sein). Da Strousberg aber seinen Geldgebern einen solchen Anteil an der Macht nicht einräumen wollte, hätte er sich auf eine andere Art gegen die Gefahr der Kapitalentziehung sichern müssen. Er hätte das englische Kapital nur als eine vorübergehende, vorläufige Finanzgrundlage seiner Unternehmungen betrachten und dafür sorgen müssen, daß es allmählich entsprechend der langsameren Kapitalbildung auf dem deutschen Geldmarkte oder auch vermittels der eigenen Erträgnisse seiner Unternehmungen durch deutsches Kapital ausgewechselt werden konnte. Das hätte aber einmal einen Verzicht auf die langfristige Ausnutzung der Zinsdifferenz, an deren dauerndes und ununterbrochenes Vorhandensein Strousberg geglaubt zu haben schien, zur Bedingung gehabt; ferner hätte es einen ruhigen, geduldigen Ausbau der Gründungen verlangt, nicht jenes überstürzte Eiltempo der Expansion, das in dem Temperament Strousbergs begründet lag. Schon in finanzieller Hinsicht waren Strousbergs Werke also auf einer historischen Anomalie gegründet. Dasselbe gilt von ihrer industriellen und technischen Anlage. Seine Entwürfe und Ideen waren meist gut, oft zukunftsreich und immer genialisch, die Mittel, mit denen er sie ausführte, oft unzulänglich. Denn der intellektuelle Defekt in diesem bewunderungswürdig scharfsinnigen und positiven Gehirn bestand darin, daß Strousberg keinen Sinn für die praktischen Hemmungen der Materie hatte, daß er seiner eigenen Phantasie gegenüber durchaus unkritisch war. Sein Positivismus war ein Rausch, keine fest verankerte Weltanschauung, er war zu sehr Baukünstler und zu wenig Baumeister. Seiner Phantasie schwebte ein großzügiges Eisenbahnsystem von Rumänien durch Deutschland bis zum Atlantischen Ozean vor, aber die Art, wie er nun an allen Ecken und Enden, wo sich ihm gerade eine Möglichkeit bot, Linien anzulegen begann, in der Hoffnung, das Stückwerk werde sich schon von selbst zum Ganzen runden, war ganz und gar systemlos. Der Gedanke, die Lokomotiven, Waggons, Schienen, Eisenteile und den sonstigen Bedarf für seine Bahnen in eigenen Betrieben herzustellen, war von industrieller Folgerichtigkeit und Fruchtbarkeit, aber es war vermessen und ein Zeichen gänzlich falscher Einschätzung des Entwicklungsgesetzes, die Konzentrationsidee, den Gedanken der Selbstbedarfsdeckung, des gemischten Fabrikationsprozesses gleich mit einem umfassenden Radikalismus zu beginnen, bis zu dem er heute nach 50 industriellen Entwicklungsjahren kaum gediehen ist. Das konnte keine gesunde Grundlage für mächtige Unternehmungen, kein gerundetes Ganzes geben, sondern es wurde Stückwerk, das beim ersten naturnotwendigen Rückschlag der Entwicklung, beim ersten Kampf der Idee mit der Materie zerbrechen mußte. Die Dortmunder Union, das erste, fast ein Menschenalter zu früh angewendete Beispiel eines gemischten Eisen- und Stahlwerks, wie es später eine der schöpferischsten Ideen der deutschen Industrie wurde, ist in der praktischen Anlage so verunglückt, daß immer neue Sanierungen notwendig wurden und doch Jahrzehnte hindurch den Boden des Fasses nicht erreichten. Noch haltloser waren die Grundlagen für das von Strousberg geplante große Werk in Zbirow bei Pilsen, das ebenfalls die ganze Eisenfabrikation vom Erz bis zum Eisenbahnbedarf umfassen sollte. Hier war nicht nur die Anlage, sondern auch der Standort, die Rohstoffgrundlage verfehlt. Auch den übrigen Gründungen Strousbergs, den Markthallen, Schlachthöfen, Zeitungen, die er gewissermaßen nebenbei aus dem unerschöpflichen Füllhorn seines Ideenreichtums schüttete, lag fast stets ein guter Gedanke zu Grunde, die Ausführung aber war flüchtig und sorglos. Es war vielleicht die verhängnisvollste Schwäche Strousbergs, daß er, der Nichtfachmann, der seine Unternehmungen auf die Technik einer künftigen Zeit anlegte, nicht einmal die Technik seiner Zeit völlig beherrschte. So sehr er sich in seinem Memoirenwerk dagegen wehrt, er hat manchmal schlecht gebaut, trotz des meist ehrlichen Willens, gut zu bauen, weil er nicht imstande war, sich die richtigen Fachleute auszusuchen und weil er zu schnell bauen wollte und mußte.

      Aber nicht nur in den Zeitumständen, auch in den Charaktereigenschaften war Emil Rathenau fester gegründet, als der so ähnlich begabte Stammesgenosse. In dem wesentlichen Grundzug ihrer finderischen Natur waren diese beiden Juden einander nahe verwandt. Beide von einer — bei aller Fähigkeit für das Komplizierte — schlichten und fast naiven Konstruktivität, Strousberg naiver, Rathenau schlichter, beide von hellseherischer Phantasie für zukünftige Möglichkeiten und Notwendigkeiten, Strousberg schweifender auf die Möglichkeiten, Rathenau — wenigstens in der Arbeit — nüchterner auf die Notwendigkeiten gerichtet. Des einen, des Bahnenkönigs Unternehmungsgeist, trotzdem er nie eine Sache um des Gründergewinns, sondern nur um des meist guten industriellen Gedankens willen gründete, etwas fessel- und hier und da auch wahllos umherspringend, des andern Schaffen bei allen gelegentlichen gedanklichen Exkursionen von einer einheitlichen Grundidee gebändigt und beherrscht, sich selbst mit eiserner Selbstzucht stets wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückzwingend. Strousberg hat auf viele Gebiete der Industrie übergegriffen, Rathenau hat eine Industrie mit höchster Vertiefung und Vielseitigkeit ausgebaut und die Nebenindustrien, denen er sich zuwandte, doch immer unter die Gesichtspunkte des elektrotechnischen Gewerbes gestellt. Bei aller Verwandtschaft der spirituellen Intelligenz, der Begabung und der Methode, eine starke Verschiedenheit weniger der Temperamente, als der Hemmungen der Temperamente. Strousberg drängte gewaltsam vorwärts und überstürzte. Rathenau hat gezeigt, daß er wohl zu warten verstand.

      Unter solchen Umständen ist es falsch zu sagen, daß Glück oder Unglück die entscheidende Rolle in dem Leben dieser beiden Männer gespielt haben, wie dies Strousberg in seiner im russischen Schuldgefängnis geschriebenen Selbstbiographie von sich behauptet hat. Es ist richtig, daß die 6 Millionen Taler Entschädigung, die Strousberg gerade in seiner kritischen Zeit an Rumänien infolge fehlerhafter Ausführung eines Bahnenbaus zahlen mußte, seinen Zusammenbruch beschleunigt haben. Aber dieses Schicksal traf ihn nicht unverdient, und es wurde aufgewogen durch manchen Glückszufall, aus dem er früher hatte Nutzen ziehen können. Emil Rathenau andererseits ist durch das Glück nie sonderlich verwöhnt worden und gerade die vielen Reserven, Hindernislinien und Schutzgräben, von denen er um sein Werk nicht genug ziehen konnte, um es gegen jeden Schicksalsschlag, gegen jeden ungünstigen Zufall zu sichern, zeigen den Unterschied seiner industriellen Bauweise von der Strousbergs.

      Die vorangegangene Schilderung hat gezeigt, welche große Bedeutung die zeitlichen Umstände als Vorbedingung für ein Werk, wie das Rathenaus gehabt haben, wenngleich sie keineswegs allein ausschlaggebend für das Wachstum seiner Persönlichkeit und seiner Schöpfung gewesen sind. Man kann sagen, daß die