Emil Rathenau und das elektrische Zeitalter. Felix Pinner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Felix Pinner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 4064066112011
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Bismarck bereits, als er die preußische Ministerpräsidentschaft übernahm, die genauen Pläne für den Aufbau des Reiches und die Politik, die zu ihm führte, fertig in seinem Kopfe getragen hätte, als ob Moltke, da er Chef des preußischen Generalstabs wurde, seine drei großen Kriege und ihren genauen Hergang bereits in ihren „notwendigen“ Grundzügen vor Augen gehabt hätte. Wer bewußt Geschichte miterlebt hat, weiß, wie ganz anders die Dinge sich zu entwickeln pflegen, wie auf dem großen Schachbrett der Geschehnisse Zug und Gegenzug abwechseln, wieviel verschiedene Züge in einem bestimmten Augenblick möglich sind, und wieviel Zufälligkeiten, Gegenströmungen und Wechselwirkungen einen Entschluß zeitigen und seine Folgen bilden. Die Rathenauschilderer, die in seinem Leben alles auf Gesetzmäßigkeit, auf Notwendigkeit und Vorherbestimmung zurückführen, die der Ansicht sind, daß dem 37jährigen, als er seine Maschinenfabrik Webers aufgab und sich zur ersten Ausreise nach Amerika anschickte, seine ganze spätere Entwickelung und die ganze spätere Entwickelung der Industrie wenigstens in ihren Umrissen klar vor Augen gestanden haben, können allerdings eines zu ihrer Entschuldigung anführen: Rathenau selbst hat in der schon verschiedentlich erwähnten Jubiläumsrede die Gedankenwelt, die ihn damals an der Wende zweier Generationen und wirtschaftlicher Epochen erfüllte, so dargestellt, als ob er nicht erst als rückschauend Betrachtender, sondern schon als Miterlebender Vergangenheit und Zukunft mit voller Klarheit erkannt und durchschaut hätte. Die betreffenden Ausführungen sind interessant genug, um hier wörtlich wiederholt zu werden. Rathenau erzählte:

      „Als in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ich die erste Phase geschäftlicher Tätigkeit abgeschlossen hatte, erwog ich, ein Dreißiger damals, ob ich den mit Leib und Seele zugetanen Beruf wieder aufnehmen oder einer neuen Technik mich zuwenden sollte. An Anerbietungen fehlte es nicht, aber der Großmaschinenbau schien seine Bedeutung in Berlin eingebüßt zu haben, und die Geburtsstadt mochte ich ungern verlassen.

      Mit der Erhebung zur Reichshauptstadt hatten die Berliner Verhältnisse sich wesentlich geändert: Der Wert von Grund und Boden, die Preise der Lebensbedürfnisse und infolgedessen die Arbeitslöhne waren so gewaltig gestiegen, daß die großen Maschinenbauanstalten von Borsig, Egells, Schwartzkopf, Wöhlert, Hoppe und andere sich anschickten, ihre Fabriken aus dem Norden der Stadt, wo sie seit Begründung betrieben wurden, in die weitere Umgebung zu verlegen, oder das Feld früher ersprießlicher Tätigkeit aufzugeben. Auf den weitläufigen Geländen entstanden neue Straßenzüge, an der Stelle lärmender Werkstätten erhoben sich Wohnhäuser und Mietskasernen, und wo aus hohen Schornsteinen dichter Qualm zu den Wolken emporgestiegen war, wirbelten dünne Rauchsäulen von den häuslichen Herden. In den Vororten aber waren bei dem Mangel an Verkehrsgelegenheit geschulte Arbeitskräfte mit Schwierigkeit zu beschaffen. Ein noch wichtigerer Faktor beeinflußte meinen Entschluß, von der unmittelbaren Aufnahme einer neuen Tätigkeit abzustehen und den völligen Verlauf der Krisis abzuwarten, die in der Finanzwelt und Industrie unzählige Opfer gefordert hatte: Patriotische Fabrikherren, die trotz eigener Sorgen in der schweren Zeit die Angehörigen ihrer im Felde stehenden Arbeiter mit reichen Mitteln unterstützt hatten, ernteten hierfür keinen Dank, sondern mußten nach dem Kriege mit Bedauern wahrnehmen, daß die Wogen der sozialdemokratischen Bewegung sich höher auftürmten als zuvor. Männer, wie Siemens, Schwartzkopf, — auch ich hatte die Ehre, der kleinen Vereinigung anzugehören, — hofften vergeblich durch Wohlfahrtseinrichtungen und den Bau von Wohnhäusern die Unzufriedenheit der Arbeiter einzudämmen.

      Unter diesen Verhältnissen war eine Wiederbelebung des einst hochgefeierten Berliner Maschinenbaus frühestens mit dem Ersatz der physischen Arbeit durch selbsttätig wirkende Maschinen oder bei vollkommener Ausnutzung der der Berliner Arbeiterschaft eigenen Geschicklichkeit und Intelligenz zu erwarten. Unter ähnlichen Bedingungen waren vollendete Arbeitsmethoden in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika entstanden, allerdings unter Befolgung des Prinzips, das Zahl und Wahl der Produkte durch Teilung der Arbeit beschränkte. Leider steht in den heimischen Werken die weitgehende Spezialisierung der Erzeugnisse auch jetzt noch hinter der amerikanischen zurück, trotzdem die Fabrikation aus ihr große Vorteile ziehen würde.

      Dieses amerikanische System war in Berlin nicht unbekannt. Intelligente Fabrikanten hatten mehr oder weniger automatisch arbeitende Maschinen von Amerika eingeführt, konnten ihnen jedoch in ihren Betrieben genügende Geltung nicht verschaffen, weil entweder die Präzision der Leistung damals noch nicht hoch genug eingeschätzt, oder die Rückkehr zu altmodischen Werkzeugen durch die Gewohnheit zu sehr begünstigt wurde.

      Im Gegensatz zu diesen Erfahrungen erblickte ich in den Maschinen Werkzeuge der Zukunft; ich war überzeugt, daß ihre vortrefflichen Eigenschaften die Abneigung der Arbeiter allmählich überwinden und eine ihrer Bedeutung entsprechende Verwendung sichern würden.“

      Zweifellos hat Rathenau damals wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen das sichere Gefühl gehabt, daß eine gründliche Umwandlung der ganzen industriellen Technik und Arbeitsmethoden bevorstehe. Und zweifellos hat ihn dies Gefühl mit dazu veranlaßt, mit der vollkräftigen Gründung eines neuen Unternehmens erst dann zu beginnen, wenn sich die neue Lage einigermaßen übersehen lasse, wenn sich der neue Boden derart gefestigt haben würde, daß auf ihm ein tragfähiger Bau errichtet werden könnte. Was aber die Einzelheiten der von ihm gegebenen Schilderung, was ihre scharfe Präzisierung und Schattierung anlangt, so darf nicht vergessen werden, daß es sich bei ihr nicht um eine impulsive Beschreibung aus der geschilderten Zeit heraus, sondern um eine rückschauende Darstellung handelt, gesehen mit der Brille des durch Erfahrungen hindurchgegangenen Mannes, geklärt im Spiegel der Distanz, geordnet und gerichtet nach den Ergebnissen der Strömungen, die in ihren Ursprüngen und Anfängen geschildert werden. Vergleicht man mit dieser bewußten Darstellung die Zeugnisse Mitlebender, so möchte man der Ansicht zuneigen, daß in Emil Rathenau damals, als er an der Wende zweier Zeiten und Unternehmungen stand, bei aller Denk- und Sehschärfe, die ihn stets ausgezeichnet haben, doch mehr Chaos gewesen ist, als er später selbst zugegeben und gewußt hat. Das Vorhandensein eines derartigen kreisenden Chaos würde ja auch die ungemeine Ursprünglichkeit, Kraft und Ausdauer seiner späteren Leistung nicht abschwächen, sondern erst recht verständlich machen. Jede völlig durchsichtige Klarheit wird auf die Dauer kraftlos, matt und unschöpferisch, und nur das Ringen der wechselnden Gedanken vermag fortzeugendes Leben, Formen und Gestalten zu gebären. Für Emil Rathenau bildeten die 8 Jahre, die zwischen der Aufgabe seiner Maschinenfabrik und der Gründung der Deutschen Edison Gesellschaft lagen, das Staubecken, in das die neuen Kräfte von allen Seiten strömten, in dem sich — oft unter Schmerzen, unter drängender Hoffnungs- und Zweifelsfülle — aus der Tüchtigkeit das Genie bildete. Fast spürt man angesichts dieser Pause Neigung an Zarathustra zu denken, dem der Dichter an die Stirn seiner Geistesgeschichte die Worte schrieb: „Als Zarathustra 30 Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging ins Gebirge. Hier genoß er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde 10 Jahre nicht müde. Endlich aber wandelte sich sein Herz —“. Auch Zarathustra trug keine Klarheit in seine Einsiedelei, sondern er brachte erst Klarheit und Entschiedenheit aus ihr mit zurück. Der moderne Zarathustra der Industrie mußte allerdings nicht in die Einsamkeit, sondern in die Welt gehen, um sich mit dem Geiste anzufüllen, den er später in Taten umsetzen wollte. Die erste große Reise, die Rathenau schon im Jahre 1876, also ein Jahr nach der Auflösung der „Berliner Union“ antrat, ging nach Amerika, dem Lande der technischen Verheißungen. Ein langgehegter Wunsch, mit dem schon der 28jährige während seines englischen Aufenthaltes gespielt hatte, fand damit seine Erfüllung. Den äußeren Anlaß zu der Reise bot die Weltausstellung in Philadelphia, eine der wirklich großen Ausstellungen, auf der fruchtbare technische Gedanken verkündet wurden und von der aus sie ihren Weg in die Welt fanden. Für Emil Rathenau, der später als großer Kaufmann und Industrieller von den Reklameausstellungen, mit denen gewisse Länder und Städte ihren Fremdenverkehr zu heben suchten, nur recht wenig hielt, bedeutete die Ausstellung in Philadelphia eine Offenbarung. Was ihm in den Jahren der mühsamen Kleinarbeit, der beschränkten Enge in seiner Berliner Maschinenfabrik vor dem geistigen Auge gestanden hatte, an dessen Erreichung er aber damals verzweifelte, hier war es verwirklicht und erfüllt. „Was ich im Geiste erschaute, gestaltete sich zur Wirklichkeit, und mit reicher Ausbeute kehrte zurück, wer der Heimat neue Arbeitsprozesse und Industrien zu beschaffen gedachte.“ Damit meinte Rathenau nicht so sehr die Dampfmaschine, die in Amerika damals eher auf einer niedrigeren