Letzter Sommerabend am Meer. Wolf S. Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf S. Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752171
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Schrilles Hupen und kreischende Reifen hatten den Aufprall in letzter Sekunde verhindert. Vor ihrem inneren Auge spielte sich immer wieder dieselbe schreckliche Szene ab. Börnsen stand an der Begrenzung seiner Dachterrasse. Ein kräftiger Stoß ließ ihn über das Geländer kippen. Hilflos ruderten seine Arme in der Luft, dann verschwand er nach unten. Sekunden später ein dumpfer Aufschlag. Wer konnte ihn gestoßen haben? In ihrer Vorstellung war es erst ein gesichtsloser Mann, dann eine Frau. Die Frau war sie. Aber ich habe ihn nicht gestoßen, sagte sie sich. Oder doch? Bin ich verrückt geworden? Hat mich die Begegnung mit Erik um den Verstand gebracht? Nein, ich habe seinen Vater nicht getötet, ich wollte ihn nur besuchen, mit ihm reden, ihm versichern, dass ich seinen Sohn gesehen habe. Ich habe ihn doch gesehen. Oder bilde ich mir das nur ein?

      Dunkel erinnerte sich Julia an eine Fernsehsendung, in der es um Wahrnehmungsfehler ging. Das Gehirn, hatte sie erfahren, spielt uns manchmal einen Streich. Wir sehen etwas, das objektiv nicht existiert, oder nehmen real vorhandene Dinge nicht wahr. War sie Opfer dieser Fehlfunktion geworden? Sie blieb stehen, schloss die Augen und rief sich das Bild vom vergangenen Nachmittag ins Gedächtnis – Erik am Imbissstand –, blendete alle Nebensächlichkeiten aus, konzentrierte sich auf das Gesicht. Jemand rempelte sie an. »Entschuldigung«, murmelte ein Passant. »Sie stehen hier aber auch etwas ungünstig.«

      Julia zuckte zusammen, riss die Augen auf und eilte weiter. Erneut beschleunigte sich ihr Puls. Denn das Bild, das ihr gerade erschienen war, hatte sich verändert. Es war Erik, aber ohne Bart. Er hielt keine Bratwurst in der Hand, sondern zwei kleine, in Papier eingewickelte Flaschen.

      2002

      »Gegen Seekrankheit.« Erik war aufs Vorschiff gekommen, wo Julia im Schatten des Großsegels saß. Er ließ sich neben ihr nieder, hielt zwei Fläschchen Wattenläuper hoch und grinste. »Der Wellengang hält sich zwar in Grenzen. Aber Vorbeugen ist besser als heilen.«

      »Danke!« Julia schüttelte den Kopf. »Ich brauche nichts. Es geht mir gut. Hätte nicht gedacht, dass mir der Segeltörn so gut bekommt.«

      »Umso besser.« Erik öffnete eine der Flaschen, drückte sie ihr in die Hand und deutete mit dem Daumen nach hinten. »Benny hat das Ruder übernommen. Wir können uns ein bisschen entspannen.«

      Skeptisch betrachtete Julia die Flasche in ihrer Hand. »Was ist mit Katharina?«

      Erik winkte ab. »Die muss sich ein bisschen herrichten. Wir hatten gerade einen stürmischen Ritt über die Nordsee. Wenn du verstehst, was ich meine.«

      Julia verzog das Gesicht. »War ja nicht zu überhören.«

      Sein Grinsen wurde breiter, der Blick lauernd. »Und?«

      »Was und? Sollen wir applaudieren?«

      »Gute Idee.« Erik kicherte, öffnete die zweite Flasche und hob sie hoch. »Prost! Auf die Liebe!« Er ließ den Inhalt in den weit geöffneten Rachen laufen und warf sie im hohen Bogen über Bord. Dann deutete er auf die Flasche in Julias Hand. »Was ist? Willst du nicht? Ist gut für den Magen. Und lecker. Solltest du dir nicht entgehen lassen.«

      Mit gemischten Gefühlen betrachtete Julia den Wattenläuper. Sie hatte nichts gegen den Magenbitter, wollte auch kein Spielverderber sein, hatte aber Hemmungen, sich auf Eriks Drängen einzulassen. Etwas störte sie an seinem Verhalten. Sie hielt sich nicht für prüde, empfand aber angesichts seines Tonfalls ein leichtes Unbehagen. »Ich warte auf Kathi«, erklärte sie schließlich.

      »Okay.« Erik zuckte mit den Schultern und stand auf. »Dann gehe ich jetzt mal für kleine Skipper.«

      Doch statt zum Kabineneingang zu gehen, kletterte er ein Stück nach achtern, lehnte sich mit der Schulter gegen die Wanten und begann, an seiner Hose zu nesteln. Mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu beobachtete Julia aus den Augenwinkeln, wie der Strahl in der Sonne glitzerte.

      Kurz nachdem Erik weiter in Richtung Bootsheck verschwunden war, tauchte Katharina auf. Sie ließ sich neben ihrer Freundin nieder und deutete auf die Flasche in Julias Hand. »War Erik hier? Was wollte er?«

      »Mit mir anstoßen. Ich sollte Magenbitter gegen Seekrankheit trinken. Aber ich bin völlig okay. Außerdem wollte ich auf dich warten.« Julia sah Katharina an. »Hast du keinen? – Willst du meinen?«

      Katharina schüttelte den Kopf und strich mit der flachen Hand über ihren Hals. »Danke, mir ist nicht danach. Ich glaube, ich gehe wieder runter und leg mich in die Koje.«

      »War der stürmische Ritt über die Nordsee so anstrengend?«

      »Was meinst du?«

      »Eriks Worte«, erklärte Julia lächelnd. »Außerdem wart ihr nicht zu überhören. Trotz der Windgeräusche.«

      »Ach so.« Kathi hob die Schultern. »Sorry. Ich wollte das nicht. Aber …« Sie verstummte und rieb erneut ihren Hals.

      Julia versuchte, in ihrer Miene zu lesen. »Aber?«

      »Es war … irgendwie … anders ... Als ob …« Auch dieser Satz blieb unvollendet.

      Erneut hakte Julia nach. »Als ob?«

      »Ach, ich weiß nicht. Vielleicht bilde ich mir das auch ein.« Sie streckte die Hand aus. »Jetzt nehme ich dein Angebot doch an.«

      Julia reichte ihr die Flasche. Als ihre Freundin den Kopf hob, um den braunen Kräuterlikör in den Rachen laufen zu lassen, zeigte sich unter der Kehle ein dunkelroter Streifen.

      »Was ist mit deinem Hals?«

      Kathis Hand zuckte nach oben. »Nichts. Ich hab mich vorhin geschrammt. Aus Versehen.« Sie schüttelte die letzten Tropfen aus der Flasche, warf sie über Bord und stand auf. »Ich hau mich jetzt noch ein bisschen in die Koje. Damit ich fit bin für Helgoland.« Mit einer Kusshand verabschiedete sie sich und balancierte an der Reling entlang Richtung Kabine.

      Julia erwog, ihr zu folgen, verwarf den Gedanken aber. Mit Kathi stimmte etwas nicht. Und es hing mit Erik zusammen. Aber was, würde sie jetzt aus ihrer Freundin nicht herausbekommen. Vielleicht später. Ja, irgendwann würde sie sich ihr anvertrauen. Ganz sicher.

      Der Fahrtwind war kühler geworden. Julia rutschte aus dem Schatten des Segels in die Sonne, lehnte sich gegen den Mast, schloss die Augen und genoss die Wärme auf der Haut. Wie lange sie wohl noch bis zur Insel brauchen würden? Die Überfahrt sollte sechs Stunden dauern. Nach Julias Gefühl hatten sie die Hälfte der Strecke bereits hinter sich gebracht.

      Plötzlich fiel ein Schatten auf ihr Gesicht. »Hast du dich gut eingecremt?«, fragte Benny, der neben ihr hockte und sie kritisch musterte. Julia rieb sich die Augen. War sie eingedöst? »Wie spät ist es?«

      Benny hielt ihr seine Armbanduhr vor die Nase. »Helgoland ist schon in Sicht. Aber wir brauchen noch mindestens eine Stunde.«

      Mit einer Hand beschattete Julia ihre Augen. Obwohl ein schwacher Dunst über dem Wasser lag, konnte sie das charakteristische Profil der Insel erkennen. »Noch eine Stunde?«

      »Mindestens«, wiederholte Benny und küsste sie. »Eher anderthalb. Was hältst du davon, wenn wir vorher noch mal abtauchen?« Er grinste. »Natürlich nicht im Wasser. Ich meine … in der Koje.« Mit einer Kopfbewegung deutete er nach hinten. »Erik hat das Ruder übernommen. Wir können jetzt auf Sicht fahren, es gibt weiter nichts zu tun. Erst wieder, wenn wir in den Hafen einlaufen.«

      »Wo ist Kathi? Noch in ihrer Kabine?«

      »Ja, ich denke schon.«

      »Sie wollte sich ausruhen. Wir sollten sie nicht stören, indem wir nebenan … Man hört alles.«

      Benny zuckte mit den Schultern und grinste. »Klar. Aber mir macht das nichts. Und die beiden haben ja vorhin auch ganz schön Krach gemacht.«

      »Trotzdem. Ich möchte ihr das nicht zumuten. Ich glaube, sie ist in dem Punkt gerade etwas empfindlich.«

      »Das kapiere ich nicht.«

      Julia seufzte. »Ist auch schwer zu verstehen. Ich weiß selbst nicht genau, was mit ihr los ist.« Sie schmiegte sich