Letzter Sommerabend am Meer. Wolf S. Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf S. Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752171
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hinter der sich die Cuxhavener Deichlandschaft ausbreitete, und betrachtet die Bilder an den Wänden. Maritime Motive in Acryl. Meereswellen, auf denen Boote tanzten, unterschiedlich stark abstrahiert, sodass bei einigen erst auf den zweiten Blick erkennbar war, was sie darstellten. An der gegenüberliegenden Wand hingen großformatige Fotos. Sie zeigten Szenen vom Duhner Wattrennen. Rasende Galopper mit schlammbespritzten Jockeys, Trabrennfahrer, deren Sulkys Fontänen aus Meerwasser erzeugten. Vage erinnerte sich Julia an Zeitungsberichte, wonach Börnsen früher selbst daran teilgenommen hatte. Die Veranstaltung war umstritten, weil Tierschützer das Rennen als Tierquälerei betrachteten.

      Sie wurde aus ihren Betrachtungen gerissen, als die Tür aufsprang und Ralf Börnsen eintrat. Er nickte ihr zu. »Hallo … Julia. Ich bin bisher davon ausgegangen, dass wir uns nicht wiedersehen. Du wolltest das nicht und ich fände es auch besser. Aber jetzt bist du hier. Hat meine Mitarbeiterin dich richtig verstanden? Du weißt etwas über Erik?« Er ließ sich hinter seinem Schreibtisch auf dem Bürosessel nieder. Sein Blick war voller Zweifel.

      Obwohl Julia plötzlich wieder unsicher war, nickte sie. »Ich habe ihn gesehen. Gestern. Beim Sommerabend am Meer.«

      Börnsen kniff die Lider zusammen. »Das kann nicht sein. Erik ist 2002 auf hoher See verschollen, die Yacht ist gesunken. Laut amtlicher Untersuchung hat er das Unglück nicht überlebt. Du kannst ihn also nicht gesehen haben. Was willst du von mir?«

      Energisch schüttelte Julia den Kopf. »Ich will nichts. Ich dachte nur, wenn Erik noch lebt und nach Cuxhaven zurückgekommen ist …«

      »Ist er nicht«, unterbrach der Hotelier sie grob. »Sonst hätte er sich bei mir gemeldet.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Und nun muss ich dich bitten, zu gehen. Ich habe zu tun.«

      Julia erhob sich zögernd, sah zur Tür, die von außen geöffnet wurde, sah wieder Börnsen an. Seine ablehnende Haltung verunsicherte sie. Mit Vorbehalten gegen sie und Zweifeln an ihrer Beobachtung hatte sie gerechnet, nicht aber mit einer derart harschen Reaktion. »Ja«, murmelte sie. »Dann gehe ich wohl wieder.« In der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Erik trägt jetzt einen Bart.«

      Auf der Straße verharrte Julia unschlüssig. Schließlich wanderte sie zum Deich, erklomm die Deichkrone und wanderte ohne Ziel drauflos. In einiger Entfernung blieb sie stehen und sah sich um. Vor dem Haupteingang des Hotels fuhren Taxen und andere Autos vor, andere verließen den Parkplatz. Auf einigen der Balkone saßen oder standen Menschen, den Blick auf die Bucht gerichtet. Urlauber, die wahrscheinlich keine größeren Sorgen hatten als die Menüfolge der nächsten Mahlzeit. In den seitlichen Fenstern der Penthouse-Wohnung spiegelte sich die Sonne. Julia fragte sich, ob Eriks Mutter ebenso abweisend reagiert hätte. Sollte sie versuchen, zu ihr Kontakt aufzunehmen? Eine Mutter würde die Hoffnung nicht aufgeben, ihren verschollenen Sohn eines Tages doch noch wiederzusehen. Aber wahrscheinlich würde ihr Mann ihr berichten, dass eine Frau bei ihm gewesen sei und von Erik gesprochen habe. Eine Verrückte, die man nicht ernst nehmen musste. Aber sie war nicht verrückt. Oder doch? Hatte die Begegnung mit Eriks Vater sie derart durcheinandergebracht, dass ihre Wahrnehmung gestört war?

      Unablässig sprangen ihre Gedanken zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Der Mann am Bratwurststand, Erik am Ruder der Segelyacht, das Gespräch mit Ralf Börnsen, die Szene in der Kabine der Seeteufel, das Foto von Christina Börnsen auf dem Schreibtisch ihres Mannes, Benny auf Helgoland.

      Irgendwann wurde ihr bewusst, dass sie sich im Yachthafen befand. Sanft schaukelten Boote an den Anlegern, hier und da waren Segler und Skipper mit Takelage oder Ausrüstungsgegenständen beschäftigt. Was will ich hier, fragte sie sich, während ihr Blick über die Yachten wanderte. Suchte sie unbewusst nach Erik Börnsen? Unwillig schüttelte sie den Kopf. Doch dann drängte sich die Idee weiter in ihr Bewusstsein. Wenn er tatsächlich nach Cuxhaven zurückgekehrt war, konnte er mit einem Boot gekommen sein. So abwegig war der Gedanke nicht. Sie schlenderte an den Stegen entlang, entdeckte aber niemanden, der Ähnlichkeiten mit Erik Börnsen aufwies.

      Sie kehrte in die Stadt zurück. Da Leonie den Tag und auch die kommende Nacht bei ihrer Großmutter verbringen würde, erledigte sie ein paar aufgeschobene Einkäufe und versuchte vergeblich, die Erinnerungen zu verdrängen, die in ihrem Kopf kreisten.

      2002

      Als Julia mit ihrer Reisetasche den Liegeplatz der Seeteufel erreichte, waren Erik und Benny damit beschäftigt, mehrere Lagen Dosenbier unter einer der Sitzbänke im hinteren Teil des Bootes zu verstauen. Katharina tauchte in der offenen Tür der Kajüte auf, winkte ihr zu und strahlte. »Schön, dass du schon da bist«, rief sie. »Komm rüber!«

      Sie streckte einen Arm aus, nahm Julia die Tasche ab und deutete ins Innere der Yacht. »Da drinnen können wir es uns gutgehen lassen, während die Jungs das Boot startklar machen.« Sie tippte auf ihre Uhr. »In zwanzig Minuten geht’s los.«

      Julia stieg über die Reling, begrüßte Benny und Katharina mit einem Kuss und Erik mit einer flüchtigen Umarmung. »Willkommen an Bord!«, sagte er und deutete auf die Getränkevorräte. »Wir sind gleich fertig.«

      »Kommen noch mehr Leute mit?« Julias Blick war an den Bierdosen hängen geblieben. »Oder wer soll das alles trinken?«

      »Das schaffen wir schon.« Erik grinste. »Meeresluft macht Durst. Und wir sind ziemlich lange auf See. Außerdem wollen wir auch ein bisschen Spaß haben.«

      Katharina lenkte sie ab. »Komm mit!« Sie griff nach Julias Hand. »Wir schauen uns drinnen um.«

      Die Kajüte war geräumiger, als Julia sie sich vorgestellt hatte. Es gab eine großzügige Sitzgruppe mit Tisch, einen Küchenbereich, eine Dusche mit Toilette und drei Schlafkammern mit jeweils zwei Kojen. »Nicht schlecht«, strahlte Katharina. »Oder?«

      Julia nickte. »Super! Hätte nicht gedacht, dass hier so viel Platz ist.« Sie sah sich um. »Wo schlafen wir?«

      Kathi hob die Schultern. »Du kannst dir eure Kojen aussuchen. Erik und ich nehmen dann die anderen.«

      »Ich soll mit Benny …?«

      »Warum nicht?« Kathi machte große Augen. »Oder habt ihr noch nie …«

      »Wir sind noch nicht lange zusammen. Also, auch nicht so richtig. Mehr so freundschaftlich. Ich weiß es noch nicht. Vielleicht ergibt sich noch was. Aber hier … Ich meine, es ist doch … ziemlich … nah beieinander.« Julia deutete auf die Trennwand zwischen den Kammern. »Man hört bestimmt … jeden Ton.«

      »Klar.« Katharina kicherte. »Aber wir müssen ja nicht gleichzeitig …« Sie setzte eine verschwörerische Miene auf und senkte die Stimme. »Es kann aber auch … ziemlich geil sein. Erik und ich waren schon mal mit Freunden hier. Wir hatten schon ein bisschen gefeiert. Und dann … Also, ich fand’s krass.« Sie schob eine CD in die Kompaktanlage.

      »Ich weiß ja nicht …« Julia hob die Schultern. »Ich glaube, ich nehme lieber eine eigene Kabine. Später sehen wir, was sich ergibt.« Sie deutete auf die Schrankfächer. »Jetzt räume ich erst mal meine Sachen ein.«

      Während sie zu den Klängen von Quit playin’ games with my heart mit den Backstreet Boys Kleidung und Kosmetika verstaute, tauschte sie mit Kati Erinnerungen an Helgoland aus. »Weißt du noch – die Typen in der Jugendherberge? Die aus Frankfurt? Die haben so komisch geredet, dass ich sie erst gar nicht verstanden habe. Aber der eine war voll süß. Sah aus wie Mark Owen von Take That. Ich glaube, der hieß Michael. Oder Markus? Matthias? Ich weiß nur noch, dass ich total verknallt war.«

      »Meiner hieß Philipp. Der war auch ziemlich cool. Wir haben uns sogar noch geschrieben. Aber nicht lange …«

      Irgendwann erschien das Gesicht von Erik am Eingang. »Wollt ihr nicht raufkommen? Wir legen gleich ab.«

      An Deck drückte der Skipper jedem seiner Mitsegler eine Dose Bier in der Hand. »Erst mal stoßen wir an. Dann geht’s los.«

      Wenig später startete er den Motor. Gemächlich kam die Yacht in Bewegung. Nachdem sie den Hafen hinter sich gelassen hatten, setzten Erik und Benjamin die Segel. Die Frauen legten sich auf dem Deck in die Sonne und genossen Wärme und