Letzter Sommerabend am Meer. Wolf S. Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf S. Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752171
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einen Fall, um den ich mich kümmern muss.«

      Mit großen Augen sah Felix sie an. »An deinem freien Tag?«

      »Ich will nur sehen, was passiert ist.«

      »Du willst ins Kommissariat?«

      Marie schüttelte den Kopf. »Zum Hotel Alte Liebe. Da ist …« Sie brach ab und wandte sich an ihre Tochter. »Um dein Eis kümmert sich Papa. Ich muss leider weg.«

      »Das macht nichts«, verkündete Nele gutmütig. »Hauptsache Stracciatella.«

      »Also gut.« Marie wandte sich zum Gehen. »Macht es euch nett! Ich ziehe mich um und nehme den Roller. In zwei bis drei Stunden bin ich wieder zurück.«

      Ihr Mann folgte ihr ins Haus. »Was ist passiert?«, flüsterte er, als sie außer Hörweite ihrer Tochter waren.

      »Der Chef des Hotels ist anscheinend vom Dach des Hauses gestürzt. Wir müssen klären, ob Fremdeinwirkung ausgeschlossen werden kann.«

      Felix war elektrisiert. »Ralf Börnsen? Umgebracht? Krass!« Er warf einen Blick zur Terrasse. »Was für eine Geschichte! Da muss ich hin.«

      »An deinem freien Tag?«, fragte Marie ironisch. »Mit deiner Tochter auf dem Rücksitz zum Tatort? Wobei wir ja noch gar nicht wissen, ob es sich um einen handelt. Ich glaube, es geht los. Du bleibst schön hier. Morgen kannst du dich mit Anne Lüken in Verbindung setzen. Dann wissen wir auch schon mehr.«

      »Wenn eure Pressesprecherin von den Ermittlungen berichtet, erfahren alle Medien gleichzeitig davon. Ich möchte aber die Geschichte morgen schon im Blatt haben.«

      »Meinetwegen kannst du eine Kollegin oder einen Kollegen anrufen und zum Hotel schicken. Aber bitte frühestens in drei Stunden. Ich möchte nicht, dass uns Zeitungsreporter vor den Füßen rumlaufen.«

      »Ich würde aber lieber selber … Vielleicht kann ich Nele zu deinen Eltern nach Otterndorf …«

      Marie seufzte. »Dann musst du sie aber vorher anrufen.«

      »Das mache ich natürlich.« Felix küsste Marie auf die Wange. »Und du – pass bitte gut auf dich auf! In den Kurgebieten ist zurzeit viel Verkehr.« Er eilte zurück auf die Terrasse. »Nele«, rief er, »was hältst du davon, wenn wir Oma und Opa besuchen?«

      *

      Marie war froh, mit dem Motorroller fahren zu können. Sie genoss den Fahrtwind, fuhr an den Fahrzeugen vorbei, die im Stau standen, und kam ohne Verzögerung bis zur Konrad-Adenauer-Allee. Hier gab es, wie so oft, Chaos vor der Ampel zur Deichstraße, weil ortsunkundige Autofahrer sich falsch eingeordnet hatten, in letzter Sekunde die Spur wechseln wollten und damit den Verkehrsfluss blockierten. Sie wich kurzerhand über den leeren Fußweg aus und erreichte rasch die Poststraße. Hier ließ der Verkehr etwas nach.

      Als sie die Lettow-Vorbeck-Straße passierte, ging ihr der Streit um die Straßennamen in Cuxhavens Afrikaviertel durch den Kopf. Die Namensgeber Lettow-Vorbeck, Leutwein, Wißmann und Lüderitz erinnerten an ein dunkles Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte während der Kaiserzeit. In anderen Städten waren Straßen deswegen bereits umbenannt worden. Einige Cuxhavener hatten dies ebenfalls gefordert, andere sich für die Beibehaltung ausgesprochen.

      Vor dem Hotel Alte Liebe hatten die Kollegen der Tatortgruppe eine Absperrung errichtet und ein Zelt aufgebaut. Als Marie darauf zuhielt, bedeutete ihr ein uniformierter Kollege mit heftigen Armbewegungen, den Bereich zu umfahren. Sie nickte ihm freundlich zu, ließ ihr Zweirad direkt vor ihm ausrollen, stellte es ab und nahm den Motorradhelm vom Kopf. Die verärgerte Miene des Uniformierten wandelte sich zu einem freundlichen Ausdruck mit einer Spur Anerkennung. »Moin, Frau Kommissarin. Ich habe Sie gar nicht erkannt.«

      »Oberkommissarin«, korrigierte eine Stimme hinter ihm. »So viel Zeit muss sein.« Jan Feddersen wandte sich an Marie. »Schön, dass du da bist.« Er deutete zu dem provisorischen Zelt. »Komm! Die Kollegen von der Kriminaltechnik sind hier unten fast fertig, der Notarzt ist schon wieder weg.«

      Sie folgte Feddersen hinter die Zeltplane. »Und? Gibt es schon nennenswerte Erkenntnisse?«

      »Na ja, nicht viel. Fest steht nur die Todesursache. Sturz aus der Höhe. Wenn er nicht selbst gesprungen ist, muss Börnsen direkt am Geländer gestanden und der Täter ihm einen kräftigen Stoß gegeben haben.«

      »Oder die Täterin«, wandte Marie ein und wappnete sich innerlich für den unvermeidlichen Anblick, der sich ihr gleich bieten würde. Noch lag der Tote unter einer Plane.

      »Täterin? Da bin ich eher skeptisch. Jemand muss viel Kraft oder viel Schwung eingesetzt haben, um ihn über den Sims zu befördern. Es gibt keine Abwehrspuren.« Feddersen beugte sich hinunter. »Soll ich?«

      Marie zog ein paar Einmalhandschuhe aus der Tasche, streifte sie über und nickte.

      Vorsichtig zog Jan die Plane zur Seite. Der Blick auf die Leiche war weniger erschreckend, als sie angenommen hatte. Börnsen trug einen hellen Anzug ohne Krawatte und lag auf dem Rücken, die Arme waren ausgebreitet. Sein Gesicht war kaum verletzt, die Augen geschlossen. Unter seinem Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet. Sie war so klein, dass ein unbedarfter Betrachter sie leicht hätte übersehen können. Im ersten Moment wirkte der Tote, als schliefe er. Als Feddersen die Plane vollständig zur Seite zog, wurden Börnsens grotesk verzerrte und offensichtlich mehrfach gebrochene Beine sichtbar.

      »Okay.« Marie atmete tief durch, beugte sich hinab, griff nach den Händen des Toten und betrachtete sie. »Ich sehe auch keine offensichtlichen Hinweise auf Abwehrverhalten. Die Fingernägel sind sauber.« Sie richtete sich auf. »Auf das Ergebnis der Obduktion bin ich schon jetzt gespannt. Krebsfänger wird nicht begeistert sein, aber an der rechtsmedizinischen Untersuchung der Leiche seines Schwagers kommt er nicht vorbei. – War der Fotograf schon hier?«

      Ihr Kollege breitete die Plane über den Toten und deutete nach oben. »Er ist jetzt auf dem Dach. Da oben arbeitet auch die Spusi noch. Wir schauen uns das gleich zusammen an.«

      Der Weg zum Fahrstuhl führte sie durch die Hotelhalle. Marie sah sich aufmerksam um. »Völlig normaler Betrieb«, stellte sie fest. »Das Management ist zu bewundern. Die scheinen es geschafft zu haben, die Gäste von dem Ereignis abzuschirmen.«

      Eine Angestellte in den Farben des Hotelpersonals kam ihnen entgegen. Südländischer Typ in Maries Alter, mit dunklen Augen und schwarzem Haar, das streng nach hinten gebunden war, aber auffallend heller Haut. Sie lächelte verbindlich, wurde aber gleich wieder ernst. »Guten Tag. Mein Name ist Joana Santos. Direktionsassistentin. Was kann ich für Sie tun?«

      »Feddersen, Kriminalhauptkommissar«, antwortete Jan. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Marie. »Das ist meine Kollegin, Kriminaloberkommissarin Janssen. Wir müssen uns später noch mit Ihnen unterhalten. Es gibt eine Reihe von Fragen, die sich auf die letzten Stunden von Herrn Börnsen beziehen. Tagesablauf, Telefonate, sonstige Kontakte, Besucher.«

      »Und natürlich auf das familiäre und geschäftliche Umfeld«, ergänzte Marie.

      »Selbstverständlich stehe ich Ihnen zur Verfügung. Wir alle sind entsetzt und erschüttert und werden alles tun, um Sie zu unterstützen. Uns liegt natürlich sehr daran, dass unsere Gäste in ihrem Wohlbefinden nicht durch polizeiliche Ermittlungen beeinträchtigt werden. Ihre Kollegen waren so freundlich, sich diskret zu verhalten. Wenn Sie erlauben, begleite ich Sie nach oben. Sie wollen doch sicher aufs Dach?«

      »Allerdings.« Jan Feddersen nickte nachdrücklich.

      »Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Es gibt einen Lift mit direktem Zugang zum Penthouse.«

      Der Anblick der sonnendurchfluteten Wohnung der Börnsens nötigte Marie einen anerkennenden Blick ab. »Was für ein Luxus. Und keiner hat etwas davon.«

      »Wieso? Gibt es keine Angehörigen?«

      »Doch. Eine Frau und einen Sohn. Die Frau lebt nicht in Cuxhaven, der Sohn ist 2002 unter mysteriösen Umständen verschwunden. Das war vor meiner Zeit. Unser früherer Chef Christiansen hat uns davon berichtet. Damals ist ein junger Mann ums