Letzter Sommerabend am Meer. Wolf S. Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf S. Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752171
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ihrer Gewohnheit verriegelte Julia die Tür hinter sich, nachdem sie ihre Wohnung erreicht hatte. Sie wusste, es würde nichts an ihrer Situation ändern, aber es gab ihr das Gefühl, von niemandem behelligt werden zu können. In Ruhe nachdenken wollte sie. Am Küchentisch ließ sie sich nieder, stand wieder auf, öffnete den Kühlschrank, nahm eine Flasche Mineralwasser heraus, griff nach einem Glas und setzte sich erneut. Sie schenkte sich ein, und während sie trank, wanderten ihre Gedanken erneut in die Vergangenheit.

      Damals hatten sie kein Wasser getrunken. Wenn sie mit Kathi, Erik und Benny zusammen gewesen war, hatte es immer Bier gegeben. Und Wattenläuper. Oder Küstennebel. Oder Berentzen Apfelkorn. Die Vorräte gingen nie aus, denn Erik brachte immer wieder Nachschub aus dem Hotel mit. Eigentlich waren sie immer ein bisschen benebelt gewesen. Auch bei jenem verhängnisvollen Segeltörn. Die erfolgreiche Überfahrt, das Einlaufen in den Hafen und das gelungene Anlegemanöver mussten gefeiert werden. Gut gelaunt hatten sie eine Flasche Hochprozentiges kreisen lassen. Katharinas Stimmungstief war vergessen. Erik hatte einen Tisch in der Fischerstube reserviert. Er und Katharina waren vorausgegangen, Julia und Benny in eine der Kojen gekrochen, um nachzuholen, was sie während der Überfahrt versäumt hatten. Später hatten sie sich alle zum Essen getroffen, waren durch den Ort gebummelt, hatten sich über die Touristen lustig gemacht, ohne zu bedenken, dass sie auch dazugehörten. Schließlich waren sie in der Diskothek Krebs gelandet, wo sie nach Daylight In Your Eyes von den No Angels und den wilden Rhythmen des Safri Duo mit Played-A-Live bis zum Morgengrauen getanzt hatten.

      2002

      Verschwitzt, aber in bester Stimmung, kehrten sie auf die Seeteufel zurück. Auf der Yacht leerten sie noch ein paar Dosen Bier und begrüßten lautstark den neuen Tag.

      »Hoffentlich ist da drüben bald Ruhe!«, brüllte eine wütende Männerstimme von einem der benachbarten Boote. »Andernfalls rufe ich die Polizei.«

      »Kommt, wir gehen rein!«, schlug Erik vor. »Sonst gibt’s noch Ärger.«

      Drinnen legte er den Arm um Julia. »Wie wär’s, wenn wir mal tauschen?«

      »Was denn tauschen?«, fragte Benny mit schwerer Zunge. »Ich hau mich jetzt in die Koje. Gute Nacht!«

      Seine Begriffsstutzigkeit löste Heiterkeit aus. Katharina und Julia kicherten, Erik lachte Tränen. »Genau das meine ich, du Schnellmerker. Wir tauschen die Kojen. Kathi geht mit zu dir, Jule und ich nehmen die andere Kabine. Kleine Abwechslung. Ist gut für die Liebe.«

      Benny zuckte mit den Schultern. »Macht, was ihr wollt! Ich muss mich jetzt hinlegen, sonst werde ich seekrank.« Schwerfällig wankte er zur Kabinentür.

      Mit einer Kopfbewegung bedeutete Erik seiner Freundin, ihm zu folgen. »Ich glaube, Benny braucht Hilfe beim Ausziehen. Deine Chance, Kathi.«

      Julia wollte sich aus Eriks Umarmung befreien, um nach Benny zu sehen, doch er hielt sie fest. »Das ist unsere Chance«, flüsterte er an ihrem Ohr und deutete auf Katharina. »Sie kümmert sich um ihn.« Tatsächlich war Kathi aufgestanden. Sie grinste, zuckte mit den Schultern und folgte Benny.

      In dem Augenblick spürte Julia Eriks Lippen auf ihrem Mund und seine Hand unter dem T-Shirt. Die Berührungen lösten widersprüchliche Empfindungen aus. Der Impuls, ihn abzuwehren, wurde von Neugier und Entdeckungslust zurückgedrängt. »Komm, Seeteufelchen«, raunte er und zog sie hoch. »Wir gehen auch in die Koje.« Widerstrebend, zugleich von Erregung getrieben, folgte sie ihm in die Kabine.

      2019

      Julia zwang sich, den Gedankenfluss zu stoppen. Es hatte keinen Sinn, sich dunklen Erinnerungen hinzugeben; die Gegenwart war bedrohlicher. Mit dem Tod des Hoteliers hatte sie nichts zu tun. Aber die Polizei würde den Fall untersuchen und herausfinden, dass sie zum Zeitpunkt des Sturzes in Börnsens Wohnung gewesen war. Die Angestellte, die ihr am Vorabend die Chipkarte für den Aufzug gebracht hatte, würde sich an sie erinnern. »Aber ich habe ihn nicht gestoßen«, flüsterte sie. »Ich war nur im Penthouse. Da war niemand. Darum bin ich umgekehrt, habe das Hotel verlassen und bin nach Hause gegangen.« Ja, das würde sie der Polizei erklären. Vom Sturz des Hoteliers hatte sie nichts mitbekommen, folglich konnte sie gar nicht wissen, dass Börnsen ums Leben gekommen war. Niemand konnte behaupten, dass sie über die Brüstung geschaut und den Toten gesehen hatte. Niemand konnte wissen, dass sie wirklich in der Wohnung gewesen war. Sie hätte auf den Klingelknopf drücken, an der Tür warten und schließlich gegangen sein können, ohne die Wohnung betreten zu haben.

      Diese Darstellung erschien ihr folgerichtig, sie musste jedem einleuchten. Die Erkenntnis beruhigte Julia. Sie spürte plötzlich Hunger. Ihr Frühstück vom Morgen stand noch im Kühlschrank. Sie nahm die Müslischale heraus, füllte Milch hinzu und setzte Kaffee auf. Der Toast war schon trocken, aber mit etwas Nutella noch genießbar.

      Während sie aß, klingelte es an der Haustür. Sie erwartete niemanden, in der Mittagszeit erst recht nicht. Wahrscheinlich Kinder, dachte sie, stand auf und sah aus dem Fenster, von dem aus sie die Straße im Blick hatte. Dort standen die Autos, die auch sonst dort parkten. Das Rentnerehepaar aus dem Erdgeschoss verließ das Haus, um den Hund auszuführen, zwei Radfahrer fuhren in Richtung Innenstadt, sonst war niemand zu sehen. Sie kehrte an ihren Platz zurück und schenkte Kaffee nach. Als es erneut und anhaltend klingelte, seufzte sie, stand wieder auf und ging zur Wohnungstür, um auf den Öffner zu drücken. Wenn es keine spielenden Kinder waren, konnte es nur noch Elisabeth Wilke aus dem Stockwerk über ihr sein, die ihren Schlüssel vergessen hatte. Die alleinstehende Dame passte gelegentlich auf Leonie auf und hatte einen Not-Schlüssel bei Julia deponiert.

      Die Schritte, die sich im Treppenhaus ihrer Etage näherten, klangen nicht nach einer Frau, schon gar nicht nach einer älteren. Julia beugte sich über das Geländer und zuckte zurück. Ein dunkelhaariger Mann erklomm zügig die Stufen. Namen und Gesichter von Freunden und Bekannten rasten ihr durch den Kopf. Wer wollte sie um die Zeit besuchen? Unangemeldet! Eigentlich kam nur Malte Hansen infrage, der Kollege aus der Orthopädie, mit dem sie schon zweimal ausgegangen war. Aber auch er würde vorher anrufen oder wenigstens eine Nachricht … Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Sie schlug die Hand vor den Mund, unterdrückte einen Aufschrei und stürzte zurück in die Wohnung. Der Versuch, die Tür zuzuschlagen, scheiterte. Obwohl Julia mit ihrem ganzen Gewicht dagegen drückte, gelang es dem Mann, sie so weit zu öffnen, dass er einen Fuß zwischen Türblatt und Rahmen klemmen konnte. Wütend trat sie gegen den Schuh, doch es nützte nichts, der Mann war stärker, vergrößerte den Spalt Zentimeter um Zentimeter, bis sie rückwärts taumelte. Die Tür schwang auf und krachte gegen die Wand.

      »Hallo, Julia.« Erik Börnsen grinste. »Seit wann bist du so abweisend? Ich habe dich ganz anders in Erinnerung. Wir hatten doch eine wunderschöne Nacht – seinerzeit auf Helgoland.«

      »Verpiss dich!«, schrie Julia mit überkippender Stimme. »Ich will mit dir nichts zu tun haben!«

      Börnsen warf die Wohnungstür ins Schloss und trat auf sie zu. Julia wich zurück. »Hast du aber, meine Liebe. Das lässt sich nicht rückgängig machen. Wir beide sitzen in einem Boot. Wie damals auf der Seeteufel. Und wir sollten das Beste daraus machen.« Sein Blick wanderte von ihrem Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück, verharrte dabei kurz auf ihren Brüsten. »Du siehst immer noch verdammt gut aus. Wir könnten unser kleines Spiel von damals fortsetzen.«

      Julia schüttelte den Kopf. »Es gibt nichts fortzusetzen«, zischte sie. »Weil nie etwas angefangen hat. Verschwinde jetzt! Oder ich rufe die Polizei.« Sie griff nach ihrem Handy, das auf dem Schuhschrank lag.

      Blitzschnell entwand er ihr das Telefon. »Damit würdest du dir keinen Gefallen tun. Ich bin schnell wieder weg, aber du müsstest den Bullen einiges erklären, zum Beispiel, was du heute im Hotel gemacht hast.«

      »Da gibt es nichts zu erklären.« Julia erschrak über den schrillen Klang ihrer Stimme. »Dein Vater wollte mich sprechen. Aber er war nicht da. Das ist alles.« Sie streckte die Hand aus. »Gib mir mein Handy zurück!«

      »Ach ja.« Börnsen kicherte. »Nur dumm, dass der Alte deinen Besuch nicht überlebt hat.«

      »Damit habe ich nichts zu tun«, krächzte Julia. »Und nun geh bitte! Sonst …«