Ihre Tochter verzog das Gesicht und schob die Unterlippe vor. »Das ist gemein. Die anderen Leute bleiben noch hier.«
»Wir richten uns aber nicht nach anderen Leuten«, erklärte Julia. »Zieh jetzt deine Schuhe an! Wir gehen an den Buden längs und schauen, ob wir noch etwas für dich finden. Ich glaube, es gibt dort auch Eis.«
Leonie strahlte. »Ich mag Erdbeer und Schokolade.« Eifrig packte sie ihre Sachen zusammen.
Mit dem süßen Angebot verstieß Julia gegen ihre Grundsätze. Aber sie mochte jetzt nicht mit ihrer Tochter diskutieren. Sie hatte Erik Börnsen gesehen, den Mann, der Benjamin Wedemeyer auf dem Gewissen hatte. Vielleicht auch Katharina Blessing. Oder hatten die beiden gemeinsame Sache gemacht? Die Ermittlungen waren damals im Sande verlaufen. Bennys Leiche war wenige Tage nach dem verhängnisvollen Segeltörn angespült worden. Nach den Erkenntnissen der Rechtsmedizin war er ertrunken. Unklar war geblieben, ob seine Kopfverletzung durch einen bewusst geführten Schlag mit einem stumpfen Gegenstand verursacht worden war oder ob ihn der Baum des Segelboots getroffen hatte. Am Ende hatten sich die Behörden auf einen Unfall festgelegt.
Was auch immer sich an Bord abgespielt haben mochte – für Julia war Erik Börnsen dafür verantwortlich. Er hatte das Boot besorgt, er war der Skipper gewesen, er hatte auf der Fahrt den Ton angegeben. Und er hatte sie in seine Koje gezerrt. Die Erinnerung trieb ihr Tränen in die Augen, verschleierte ihren Blick. Zum Glück war Leonie mit ihrem überdimensionierten Eis beschäftigt, zeigte für nichts anderes Interesse und lief klaglos neben ihr her. Julia zwinkerte heftig, fuhr hastig mit einem Taschentuch über ihre Augen und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Gleichzeitig wanderte ihr Blick über die Menschen, die sich mit ihr in Richtung Stadt bewegten oder entgegenkamen. Sie zuckte zusammen, als sie vor sich einen bärtigen Mann in schwarzen Jeans und mit einem schwarzen T-Shirt entdeckte. Und atmete tief durch, als sie feststellte, dass er sonst keinerlei Ähnlichkeit mit Erik Börnsen hatte.
Sie fragte sich, was sie tun würde, wenn sie ihm tatsächlich begegnen sollte, stellte sich vor, ihm in der Fußgängerzone in die Arme zu laufen. »Hallo, Erik? Wo kommst du denn her? Ich dachte, du bist ...« Nein. So unbefangen würde sie wohl nicht reagieren. Und dass sie ihn für tot gehalten hatte, mochte ihr wohl auch nicht über die Lippen kommen. Wahrscheinlich würden ihr die passenden Worte fehlen. Benjamin konnte durch einen Unfall ums Leben gekommen sein. Aber wenn ihn der Baum des Segelboots getroffen hatte – warum hatten Erik und Katharina ihn nicht gerettet? Was sagt man jemandem, den man für den Tod seines Freundes verantwortlich macht? Hast du Benny ertrinken lassen? Hast du ihn umgebracht? Damals hatte es auf diese Fragen keine Antwort gegeben. Auch heute würde er wohl nicht darauf eingehen. Jedenfalls, wenn sie die Fragen stellte.
Ob sich die Polizei noch für Erik Börnsen interessierte? In den Cuxhavener Nachrichten hatte sie von einer neu eingerichteten Sonderkommission gelesen, die sich mit »Cold Cases« befassen sollte, mit nicht aufgeklärten Fällen aus der Vergangenheit. Aber die würde in den nächsten Tagen erst eingerichtet werden. Sollte sie sich trotzdem an die Polizei wenden? Würden die ihr überhaupt abnehmen, dass sie Erik gesehen hatte? Sie konnte sich geirrt haben. Vielleicht hatte sie sich wirklich getäuscht. Bärtige Männer Ende dreißig gab es viele. Allein in der letzten halben Stunde hatte sie mindestens ein Dutzend gesehen. Wenn Erik wirklich zurückgekehrt war – wer konnte davon wissen? Seine Eltern! Sie nahm sich vor, den Börnsens einen Besuch abzustatten, nachdem sie Leonie zu ihrer Großmutter gebracht hätte.
*
Das Hotel Alte Liebe war Anfang der neunziger Jahre renoviert, erweitert und aufgestockt worden. Eine Bürgerinitiative war gegen den Neubau von Bettenburgen am Deich auf die Barrikaden gegangen, aber am Ende wurde es doch ausgebaut. Alles, was durch die Proteste erreicht wurde, waren ein paar Auflagen wie die Anpassung der Fenster an den Stil des ursprünglichen Altbaus. An die Auseinandersetzungen erinnerte sich Julia nur vage; sie war damals zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen und hatte Demonstrationen und Sprechchöre aus sicherer Entfernung bestaunt. Inzwischen war das Haus noch einmal vergrößert und modernisiert worden. Durch einen weiteren Anbau mit Gesellschaftsräumen und ein großzügiges Penthouse, in dem die Inhaber wohnten. Es gehörte jetzt zu den von zahlungskräftigen Gästen bevorzugten Hotels.
Ralf Börnsen hatte die Leitung des Hotels übernommen, nachdem sein Schwager, der Hotelier und Ratsherr Christopher Hansen, wegen Mordverdachts unter Anklage gestellt und zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Da hatten ihm auch die besten Beziehungen nichts genutzt, die man der Familie Börnsen in der Stadt nachsagte. Nach dem Verschwinden von Ralfs Sohn war allerdings gemunkelt worden, dass bei den Ermittlungen persönliche Kontakte zum Staatsanwalt eine Rolle gespielt haben könnten.
Obwohl Julia die Hotelhalle kannte, flößte sie ihr Respekt ein. Schwere Teppiche auf Marmorfußboden, Möbel aus edlen Hölzern und indirektes Licht aus Designerlampen vermittelten den Eindruck gediegener Eleganz. Dezente Musik aus unsichtbaren Lautsprechern unterstrich die extravagante Atmosphäre. Den älteren Herrschaften, die hier in schweren Polstermöbeln saßen, in Zeitungen blätterten oder verstohlen Neuankömmlinge musterten, war ihr finanzieller Hintergrund anzusehen. Allein der Schmuck einiger Damen, den diese nicht gerade sparsam angelegt hatten, dürfte ein kleines Vermögen wert sein. Am Empfang waren zwei junge Frauen und ein Mann mit einer kleinen Reisegruppe beschäftigt, die offenbar gerade eingetroffen war. Das Personal trug farblich auf das Interieur der Lobby abgestimmte Kleidung, die sie an Uniformen von Flugbegleitern erinnerte. Am Eingang tauchten zwei ebenso gekleidete junge Männer mit einem goldfarbenen Rollwagen auf, der mit zahlreichen Koffern und Reisetaschen beladen war. Sie machten sich am Empfang bemerkbar, bekamen offenbar eine Auskunft und verschwanden dann in einem der Aufzüge.
Julia durchquerte die Halle. Am Empfangstresen wurde sie von einer der perfekt gestylten und geschminkten Damen begrüßt. »Guten Tag. Willkommen im Hotel Alte Liebe. Was kann ich für Sie tun?« Sie lächelte geschäftsmäßig.
»Ich möchte Herrn Börnsen sprechen.«
»Haben Sie einen Termin?«
Julia schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist … hat sich ... gerade erst ergeben.«
Die Angestellte musterte sie kritisch. »Wen darf ich melden, und worum geht es?«
»Mein Name ist Julia Jacobs. Die Angelegenheit ist privat.«
»Ich glaube kaum, dass Herr Börnsen Sie empfängt. Wir haben Hochsaison, es ist viel zu tun. Ich kann versuchen, einen Termin für Sie zu finden. Aber bis dahin werden Sie sich eine Weile gedulden müssen.«
Der Tonfall der Empfangsdame und ihr skeptischer Blick vermittelten Julia den Eindruck, als lästige Bittstellerin wahrgenommen zu werden, die davon abgehalten werden musste, den Hoteldirektor zu stören. Für einen kurzen Moment geriet ihr Selbstbewusstsein ins Wanken. Doch dann erschienen die Bilder vom Vortag vor ihrem inneren Auge. Sie brauchte Gewissheit.
»Es geht um Börnsens Sohn«, stieß sie rasch hervor. »Erik.«
Ungläubig starrte die Empfangsdame sie an, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Einen Augenblick«, murmelte sie schließlich, »ich bin gleich wieder da.« Sie verschwand durch eine Tür im Hintergrund, die Julia zuvor nicht wahrgenommen hatte. Nach weniger als einer Minute kehrte sie zurück, bedeutete Julia, den Empfangstresen zu umrunden und ihr zu folgen. Sie führte sie in ein Büro, dessen Einrichtung sich auffallend vom gediegenen Stil der Lobby unterschied. Sie hatte nur einmal einen Blick hineinwerfen können, damals entsprach die Einrichtung noch dem Geschmack früherer Generationen. Ein großer Schreibtisch aus Chrom und Glas mit einem modernen Chefsessel, davor mit hellgrauem Leder bezogene Freischwinger, gegenüber eine passende Sitzgruppe. Auf dem Schreibtisch stand eine gerahmte Fotografie. Christina Börnsen