Letzter Sommerabend am Meer. Wolf S. Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf S. Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752171
Скачать книгу
Tochter und suchte einen Weg durch die Menge der lagernden Festbesucher. Schon nach wenigen Augenblicken stieg ihr der Duft von frischen Pfannkuchen in die Nase und weckte auch bei ihr den Appetit. Kurz darauf bissen sie und ihre Tochter in warme Crêpes – mit Schokolade für Leonie und Apfelmus für sie.

      Während sie genussvoll kaute und sich am glückstrahlenden Ausdruck ihres Kindes erfreute, wanderte ihr Blick über das farbenfrohe Treiben in der Grimmershörn-Bucht. Es erinnerte an die Wimmelbilder aus einem von Leonies Kinderbüchern. Obwohl die meisten Besucher auf dem Rasen lagerten, gab es überall Bewegung. Vom Strichweg strömten noch immer Menschen heran, vor den Imbissständen drängten sie sich ebenso wie an den Fahrgeschäften. Viele waren in Gruppen unterwegs oder als Paare, nur wenige Einzelpersonen schlenderten über das Festgelände. Der Anblick eines Mannes in einer schwarzen Cargo-Hose und schwarzem T-Shirt an einem Bratwurststand löste ein ungutes Gefühl in ihr aus. Seine Gestalt und die Art seiner Bewegungen erinnerten sie an einen Menschen, den sie niemals hatte wiedersehen wollen. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Nein, er konnte es nicht sein. Vor siebzehn Jahren war er verschwunden, mit dem Segelboot auf der Nordsee gekentert. Er und die gemeinsame Freundin waren ertrunken. Das hatten Polizei und Seenotrettung festgestellt. Allerdings waren ihre Leichen nie gefunden worden. Nur die der dritten Person, die mit an Bord gewesen war.

      Ihr war, als hätte sich die gesamte Küste verdunkelt. Hatte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben? Gleichzeitig sank der Geräuschpegel, die Bewegungen der Menschen schienen sich zu verlangsamen. Wie in Zeitlupe wandte sich der Mann um. Julia erstarrte. Fast wäre ihr die Crêpe aus der Hand gefallen.

      Er trug einen Bart. Aber es war sein Gesicht. Ihr Gehirn weigerte sich, die Botschaft der Augen anzunehmen. Es konnte nicht sein, durfte nicht sein. Ein Zwillingsbruder? Oder nur eine verblüffende Ähnlichkeit?

      Der Schock schnürte ihr Hals und Magen zu, angeekelt betrachtete sie den Rest des gerollten Teigfladens in ihrer Hand. Essen wirft man nicht weg, hatte sie ihrer Tochter beigebracht. Leonie mampfte vergnügt vor sich hin, Schokoladenspuren reichten von einem Ohr zum anderen. Julia schloss die Augen und atmete tief durch. Vielleicht hatte sie sich geirrt. Eine Sinnestäuschung. Ohne es zu wollen, richtete sie den Blick erneut zum Imbiss. Der Mann nahm eine Bratwurst entgegen, wandte sich zur Seite, beugte sich vor und biss vorsichtig hinein. Sein Profil war deutlich zu erkennen. Die linke Hand strich über den Oberschenkel. Eine für ihn typische Bewegung. Es gab keinen Zweifel.

      Julias Puls hatte sich beschleunigt, jeden Herzschlag spürte sie bis zum Hals. Schweiß rann ihr in den Nacken. »Mama«, meldete sich Leonie, »schmeckt dir deine nicht?« Sie hob ihr die verschmierten Hände entgegen. »Meine ist alle.«

      »Möchtest du noch ein bisschen von mir?« Ihre Tochter nickte begeistert und griff mit beiden Händen nach der Crêpe.

      Während das Kind den Rest des dünnen Pfannkuchens vertilgte, suchten Julias Augen nach dem Mann. Er wandte ihr den Rücken zu, war offensichtlich mit der Bratwurst beschäftigt. Wenig später ließ er die Pappschale zu Boden fallen, zog eine Getränkedose aus der Tasche seiner Cargo-Hose, öffnete den Verschluss und leerte den Inhalt in einem Zug. Dann warf er die Dose in einen Abfallbehälter und schlenderte in Richtung Hafen davon.

      Es gelang Julia nicht, den Blick abzuwenden. Erst als Cargo-Hose und T-Shirt in der Menge verschwunden waren, wandte sie sich Leonie zu, die an ihrem Ärmel zupfte. »Durst!«

      Statt ihre Tochter daran zu erinnern, dass sie in ganzen Sätzen sprechen sollte, nickte sie nur und deutete auf einen Getränkestand. »Da drüben gibt’s was.«

      Entgegen Julias Grundsätzen bekam Leonie eine Limonade, sie selbst blieb bei Wasser, registrierte die hohen Preise nicht, verzichtete aufs Wechselgeld und folgte ihrem Kind, das mit schlafwandlerischer Sicherheit zu ihrem Platz zurückfand. In Julias Kopf kreisten Bilder aus der Vergangenheit, die sich nicht vertreiben ließen.

      2002

      »Nach Helgoland? Mit dem Segelboot?« Julia war skeptisch, fragend sah sie ihre Freundin an. Katharina zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?«

      »Ich kriege die neue Yacht von meinem Alten«, hatte Erik großspurig verkündet. »Am Wochenende machen wir einen Törn zu Deutschlands schönster Hochseeinsel.«

      »Gibt ja nur die eine«, lachte Benny und reckte beide Daumen in die Höhe. »Ist aber ’ne coole Idee! Da können wir billig einkaufen. Whisky, Aquavit, Gin …« Er brach ab und fing die Dose auf, die Erik ihm zuwarf.

      Ungewöhnlich warme Tage hatten in Cuxhaven, Döse, Duhnen und Sahlenburg für volle Strände gesorgt. Auch das Freibad Steinmarne war gut besucht. Julia und ihre Freunde lagen etwas abseits des Beckens auf ihren Handtüchern und ließen das Duschwasser auf der Haut trocknen, mit dem sie das Meersalz abgespült hatten. Erik hatte kaltes Bier vom Kiosk geholt, das er jetzt verteilte.

      »Auf der Seeteufel gibt es genug Platz«, fuhr er fort, nachdem er seine Bierdose geöffnet und einen Schluck genommen hatte. »Geräumige Kabine, sechs Kojen. Pantry mit Kühlschrank. Toilette, Dusche – alles vom Feinsten. Wir können auf dem Boot übernachten.«

      »Und die Mädels können was Leckeres kochen.« Benny kicherte. Julia warf ihm einen unwilligen Blick zu. »Das glaubst du. Aber mal abgesehen davon, dass Kathi und ich euch sicher nicht bedienen werden, weiß ich nicht, ob ich überhaupt mitkommen will. Ich fühle mich auf einem Boot nicht besonders wohl.«

      Katharina sah sie an. »Wirst du seekrank?«

      »Das wohl nicht. Jedenfalls nicht auf einem größeren Schiff. Aber wenn es zu sehr schaukelt … Ich weiß nicht. Wir können doch mit der Wappen von Hamburg fahren.«

      »Langweilig.« Erik winkte ab. »Stundenlang zwischen Rentnern sitzen? Auf der Seeteufel sind wir unter uns. Außerdem ist es richtig geil, wenn die Yacht gut im Wind liegt und mit fast zehn Knoten durch die Wellen schießt. Wir könnten in fünf Stunden auf der Insel sein.«

      »Und wenn kein Wind ist? Oder zu viel Wind? Sturm? Regen? Gewitter?«

      »Ach Jule,« stöhnte Erik. »Miesmachen gilt nicht. Ohne Wind können wir natürlich nicht segeln, da bleiben wir im Hafen. Bei schlechtem Wetter auch. Dann fahren wir eben eine Woche später. Oder im nächsten Monat. Aber die Seewettervorhersage fürs Wochenende ist richtig gut.«

      »Wir könnten erst mal einen kleinen Törn machen«, schlug Katharina vor. »Zur Insel Neuwerk oder … nach … Brunsbüttel. So ’ne Art Probe. Ohne Übernachtung. Dann sehen wir weiter. Vielleicht gefällt es Jule ja. Nach Helgoland können wir immer noch.«

      »Aber nicht zu lange aufschieben«, wandte Benny ein. »Zollfreien Einkauf gibt’s nur da. Jeder kann eine Stange Zigaretten mitbringen. Und die Flasche Jack Daniel’s gibt’s für unter zwanzig Mark. Für die Mädels …«

      »Mark?« Erik grinste. »Ich musste gerade das Bier mit dem Teuro bezahlen. Neunzig Cent die Dose. Letztes Jahr waren es noch eine Mark zwanzig.«

      Benny verdrehte die Augen. »Ja, ich meine natürlich Euro. Beim Umrechnen haben die bestimmt was draufgeschlagen. Aber der Einkauf ist immer noch günstig. Auch für euch.« Er nickte Katharina und Julia zu. »Parfüm zum Beispiel. Meine Mutter hat neulich auf Helgoland ihr Chanel soundso für unter hundert … äh, Euro gekauft. Letztes Jahr hat mein Alter in Cuxhaven dafür hundertfünfundsiebzig Mark hingeblättert.«

      »Wir machen aber keine Einkaufstour«, wandte Katharina ein. »Oder?«

      Erik leerte seine Bierdose und drückte sie zusammen. »Nee. Ich dachte mehr so an ein … Gemeinschaftserlebnis.« Sein Blick streifte Julia. »Wo man sich ein bisschen näherkommt. Drei Tage auf einem Boot – das schweißt zusammen.«

      Julia befiel die Ahnung, Erik könnte dabei weniger an Kameradschaft gedacht haben. Er war schon länger mit Katharina zusammen. Aber hin und wieder hatte sie Blicke von ihm registriert, in denen mehr als nur freundschaftliche Verbundenheit zu lesen gewesen war. Andererseits – wenn sie zu viert auf der Segelyacht wären, gäbe es keine Möglichkeit … »Wie ist das eigentlich auf dem Boot?«, fragte sie. »Haben Kathi und ich eine eigene Kabine?«

      »Es