Erst zwei Stunden später, als Benny das Ruder übernommen hatte und Erik nach Katharina rief, bekam das euphorische Gefühl einen Dämpfer. »Komm nach unten, wir machen einen Kojentest.« Dazu machte er eine anzügliche Handbewegung und lachte.
Julia suchte Benjamins Blick, doch der schien sich auf seine Aufgabe als Steuermann zu konzentrieren, die Äußerung seines Freundes hatte er anscheinend nicht mitbekommen.
Katharina erhob sich, grinste und warf ihr einen Blick zu. »Ich glaube, Erik und ich sind auf einem guten Weg.« Sie kletterte nach hinten und verschwand im Niedergang zur Kabine.
Knatternde Segel und die tosende Bugwelle übertönten die Geräusche aus dem Inneren des Bootes. Nur einmal drang Kathis Schrei an Julias Ohr.
2019
Der Tag ohne ihre Tochter gab Julia Gelegenheit, durch Geschäfte zu bummeln, für die sie sonst keine Zeit oder keinen Nerv hatte, um Pullover und Schuhe für den kommenden Herbst anzuprobieren. Die Suche nach passenden Kleidungsstücken bot zugleich eine willkommene Ablenkung von Erinnerungen an die Ereignisse vor siebzehn Jahren.
Am frühen Abend – sie hatte gerade ein neues Outfit anprobiert – klingelte es an der Wohnungstür. Da sie niemanden erwartete, warf sie einen genauen Blick durch den Spion. Vor der Tür stand eine der Frauen, die sie hinter dem Tresen in der Rezeption des Hotels Alte Liebe gesehen hatte. Volles schwarzes Haar und blutrote Lippen bildeten einen auffälligen Kontrast zur hellen Haut. Was mochte sie von ihr wollen? Julia öffnete. »Hallo. Was führt Sie zu mir?«
»Entschuldigen Sie die Störung! Herr Börnsen schickt mich. Er würde gern noch einmal mit Ihnen sprechen. Würde es Ihnen morgen passen? Um zehn Uhr?« Sie zog eine Chipkarte aus der Tasche und reichte sie Julia. »Damit können Sie den Lift benutzen und direkt in die Penthouse-Wohnung fahren. Wenn Ihnen der Termin nicht zusagt, sollten wir jetzt einen anderen Tag oder eine andere Uhrzeit ausmachen. Herr Börnsen bittet Sie, ihn nicht anzurufen.«
Julia starrte abwechselnd auf die Karte in ihrer Hand und auf die Besucherin. »Okay.«, murmelte sie schließlich. »Vielen Dank! Das war alles?«
»Ja, Frau Jacobs.« Die Hotelangestellte nickte. »Auf Wiedersehen. Einen schönen Abend noch.« Sie wandte sich um und eilte die Stufen hinab. Julia sah ihr nach, lauschte auf das Geräusch ihrer Absätze und kehrte erst in die Wohnung zurück, nachdem unten die Haustür ins Schloss gefallen war.
In der Küche legte Julia die Karte vor sich auf der Tischplatte ab und betrachtete sie. Morgen Vormittag um zehn also. Was mochte Ralf Börnsens Sinneswandel bewirkt haben? Hatte er mit seiner Frau über Julias Besuch gesprochen? Eine Mutter würde sich an die geringste Hoffnung klammern, ihr Kind wiederzusehen, und nicht so ablehnend reagieren. Oder waren dem Hotelier doch Zweifel gekommen? Vielleicht würde sie morgen die Antwort erfahren. Nur die Frage, warum Eriks Eltern nichts davon wussten, dass ihr Sohn nach Cuxhaven zurückgekehrt war, würde auch sie nicht beantworten können.
Kapitel 3
In dieser Nacht schlief Julia unruhig. Wirre Traumfetzen mit Bildern aus der Vergangenheit tauchten auf und verschwanden wieder. Einmal schreckte sie hoch, weil sie jemanden in ihrer Wohnung zu spüren glaubte. Zweimal stand sie auf, schaltete Licht ein, ging durch alle Räume, knipste die Beleuchtung wieder aus und kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Viel zu früh war sie am Morgen wach. Innere Unruhe trieb sie aus dem Bett. Auf dem Küchentisch lag noch die Karte, die Börnsens Angestellte gebracht hatte. Julia stutzte. Hatte sie die nicht in der Mitte abgelegt? Jetzt lag die Chipkarte an der Tischkante. Konnte ein Luftzug die Veränderung bewirkt haben? Nein, das Küchenfenster war geschlossen. Sie selbst musste sie verschoben haben. Offenbar hatte sie die Karte noch einmal in die Hand genommen, als sie in der Nacht durch die Wohnung gewandert war.
Sie machte sich Frühstück, ließ Toast und Müsli dann aber stehen, trank nur Kaffee. Eine Stunde vor dem verabredeten Termin im Hotel Alte Liebe verließ sie das Haus. In der Stadt waren zu dieser Zeit nur wenige Menschen unterwegs, der sonntägliche Straßenverkehr beschränkte sich auf eine Handvoll Autos. Vielleicht die Nachwirkung des Sommerabends am Meer. Auch vor dem Hotel war es ruhig. Keine an- oder abreisenden Gäste, keine dienstbeflissenen Angestellten, kein Taxi, kein sonstiges Fahrzeug. Sie richtete den Blick nach oben. In den Scheiben des Penthouses glitzerte die Morgensonne. Zur Meerseite und nach Westen gab es offenbar eine Dachterrasse, die noch im Schatten lag, nur die weißen Gitterstäbe des Geländers leuchteten im Sonnenlicht. Mehr war nicht zu erkennen.
Fast eine halbe Stunde ging sie vor dem Haus auf und ab. Eine Minute vor zehn betrat sie das Hotel, durchquerte die Halle und steuerte auf die Aufzüge zu. Sie erkannte die Angestellte, die ihr Börnsens Nachricht überbracht hatte, hinter dem Empfangstresen. Sie sah auf und nickte ihr zu.
Der Aufzug brachte sie ohne Unterbrechung zur obersten Etage. Automatisch öffneten sich die Türen und gaben den Blick auf die Penthouse-Wohnung frei. Sie erschien Julia noch größer, als sie sich vorgestellt hatte. Am überdachten Eingang befand sich ein Messingschild mit der Aufschrift Privat. Die Tür aus satiniertem Glas stand offen. Zögernd trat sie näher, stieß auf eine weitere Tür. Auch sie war weit geöffnet. »Hallo!«, rief sie. »Hallo? Ist jemand da? Ich bin Julia Jacobs und möchte …« Sie brach ab, denn niemand war zu sehen. Vor ihr breitete sich der Wohnraum aus, dessen gegenüberliegende Front fast vollständig aus Glas bestand. Die Schiebetür zur Dachterrasse war offen. Draußen standen zwei weiß-blaue Strandkörbe. Wartete Börnsen dort auf sie? »Hallo?«, wiederholte sie, durchquerte den Raum und sah sich um. Hier schien niemand zu sein. Als sie sich schließlich umwandte, um die Wohnung zu verlassen, vernahm sie einen spitzen Schrei. Er schien von unten, von der Promenade, zur kommen. Sekunden später setzten Hilferufe ein, dann Hundegebell. Sie hastete zum Geländer und beugte sich hinüber.
Tief unter ihr, auf dem Pflaster des Weges lag eine reglose männliche Gestalt. Ein Mann zerrte einen Hund zurück, der sich auf den Liegenden stürzen wollte. Eine Frau hielt ein Mobiltelefon ans Ohr und gestikulierte mit der freien Hand. Vom Deich näherte sich ein Jogger, auf der anderen Seite ein älteres Paar.
Erschrocken zuckte Julia zurück. Ihr Herz raste. Hatte sie gerade Ralf Börnsen dort unten liegen sehen? War er über das Geländer gestürzt? Die Ungewissheit zwang sie zu einem weiteren Blick. Vorsichtig lehnte sie sich erneut über die Brüstung. Obwohl sich jetzt mehrere Personen über den leblosen Mann beugten, erkannte sie ihn. War der Hotelier vom Dach gesprungen, um seinem Leben ein Ende zu setzen?
Hastig verließ sie die Penthouse-Wohnung. Der Fahrstuhl war noch da. Sie drückte die Taste fürs Erdgeschoss. Viel zu langsam schlossen sich die Türen der Kabine, viel zu langsam setzte sich der Lift in Bewegung. Julia schwitzte. In Gedanken sah sie den fragenden Blick der Hotelangestellten am Empfang voraus, entschied sich für einen anderen Weg, drückte den Knopf für die erste Etage, stieg aus, nahm die Treppe bis ins Kellergeschoss. Hier fand sie einen Ausgang, der zur Garage führte. Leuchtstoffröhren flackerten, flammten auf, als sie an den geparkten Autos vorbeilief. Irgendwo klappte eine Wagentür, im nächsten Moment wurde ein Motor gestartet, Scheinwerfer blendeten auf. Julia duckte sich unwillkürlich. Als sich eins der die Tore öffnete und der Wagen die Garage verließ, hastete Julia ins Freie. Sie widerstand der Versuchung, das Hotelgebäude zu umrunden, um nach Börnsen zu sehen. Es gab keinen Zweifel, dass er es war, der von der Dachterrasse gestürzt war. Konnte man einen solchen Sturz überleben? Wohl kaum. Mit großer Wahrscheinlichkeit war Ralf Börnsen ums Leben gekommen. In dem Augenblick, in dem sie ihn aufsuchen wollte. Warum hatte er sich mit ihr verabredet, wenn er sich umbringen wollte? War er versehentlich über das Geländer gestürzt? Wohl kaum. Jemand musste ihn darüber gestoßen haben. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Konnte man sie verdächtigen, den Hotelier getötet zu haben?
Julia beschleunigte