Letzter Sommerabend am Meer. Wolf S. Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf S. Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752171
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      »Ich will, dass du gehst. Und nie wieder hier auftauchst. Das ist alles.«

      Börnsens Blick wanderte erneut über ihren Körper. »Schade eigentlich. Aber wenn du nicht willst … Auf so was habe ich keinen Bock mehr. Wir bleiben in Kontakt.« Er legte das Mobiltelefon ab und packte ihre Oberarme. »Dir ist hoffentlich klar, dass diese Begegnung unter uns bleiben muss. Du hast mich nicht gesehen. Ich werde offiziell erst in Cuxhaven ankommen, wenn der Unfall des Alten ein paar Tage zurückliegt.«

      »Unfall?«, flüsterte Julia. »Das war kein Unfall. Da hat jemand nachgeholfen. Warst du das?«

      Er ließ ihren Arm frei. »So wie es aussieht, gibt es nur eine Person, die für den Absturz verantwortlich sein kann. Das bist du. Wahrscheinlich können sie es dir nicht nachweisen, dann verlaufen die Ermittlungen im Sande. Auch gut.«

      Er wandte sich um und öffnete die Wohnungstür. Dann drehte er sich noch einmal zu ihr und deutete mit ausgestrecktem Arm auf sie. »Du hast mich nicht gesehen. Vergiss das nicht! Sonst kriegst du Probleme.«

      Julia lauschte auf die sich im Treppenhaus entfernenden Schritte. Ihr Herz raste, ihr Magen rebellierte und ihr Kopf dröhnte, während sie die schmerzende Stelle am Oberarm rieb.

      Kapitel 4

      Es kam nicht oft vor, dass Marie Janssen von allein aufwachte. Wenn der Wecker sie nicht aus dem Schlaf riss, war es Nele, die an ihrem Bett stand und sie am Ärmel zupfte. Es war ihr nicht gelungen, ihrer Tochter beizubringen, sich zuerst bei ihrem Vater bemerkbar zu machen. Felix schlief gewöhnlich tief und fest, wenn es für sie Zeit wurde, aufzustehen. Sie gönnte ihm den Schlaf, denn er hatte oft am Abend Termine. Wenn er über Sitzungen kommunaler Gremien oder Parteien berichten musste, konnte es Mitternacht werden.

      Doch heute war das Bett neben Marie leer. Das Fenster des Schlafzimmers stand offen, draußen zwitscherten die Vögel und der blaue Himmel versprach einen schönen Tag. Aus dem Erdgeschoss drangen vertraute Geräusche. Offenbar bereitete Felix das Frühstück vor und Nele erzählte dazu Geschichten. Sie warf einen Blick auf den Radiowecker und erschrak. Die Ziffern zeigten späten Vormittag an. Doch dann wurde ihr bewusst, dass sie heute frei hatte, endlich ein paar Überstunden ausgleichen konnte. Ihre Tochter musste nicht in den Kindergarten, Felix hatte seinen freien Tag, er musste nicht in die Redaktion und sie nicht zum Dienst ins Kommissariat. Voller Vorfreude auf einen entspannten Tag schwang sie sich aus dem Bett.

      Der erste Blick in den Spiegel war nicht sonderlich erhebend. Noch ließ sich mit Pflege und Kosmetik ein akzeptables Ergebnis erzielen, aber die Anzeichen alternden Bindegewebes waren nicht zu übersehen. Kritisch beäugte sie die Fältchen an Augen und Mund. Manchmal tauchten über Nacht neue Linien auf. Zum Glück war das heute nicht der Fall. Aber aufzuhalten waren sie nicht. Während sie mit Routine ihre Morgentoilette erledigte, dachte sie daran, dass sie nur noch zwei Jahre bis zu ihrem vierzigsten Geburtstag hatte. Dann würde sie unweigerlich in den Bereich der Lebensmitte vorrücken.

      Unwillig schüttelte sie den Kopf, verbannte die unerfreulichen Gedanken und konzentrierte sich auf die Frage, wie sie den Tag mit Mann und Tochter verbringen würde. Nele würde wahrscheinlich zum Strand wollen. Und Felix? Was wäre ihm lieber? Meer oder Garten? Sie selbst war hin- und hergerissen. Heiße Sommertage waren selten, die Gelegenheit, einen ganzen Tag am Sandstrand in Altenbruch oder Döse, Duhnen oder Sahlenburg zu verbringen, ebenfalls. Also sollten sie die Chance nutzen. Andererseits war Hochsaison. Zu den Urlaubern kamen Tagesgäste, deren Autos die Straßen und Parkplätze verstopften und die alle Strände bevölkerten. Ruhiger und entspannter wäre es, zu Hause in der Freiherr-vom-Stein-Straße zu bleiben. Nele hätte ihr Planschbecken im Garten, sie und Felix könnten das Frühstück zu einem Brunch ausdehnen, später im Schatten der Bäume einen kühlen Wein genießen. Eine verlockende Vorstellung.

      Inzwischen zeigte der Spiegel ein zufriedenstellendes Ergebnis ihrer kosmetischen Bemühungen, sodass sie gut gelaunt das Bad verließ. Auf der Treppe wehte ihr der Duft von Kaffee und frischen Brötchen entgegen, und als sie auf die Terrasse trat, fand sie neben dem gedeckten Tisch zwei strahlende Gesichter vor, die ihr erwartungsvoll entgegenblickten.

      »Was für eine schöne Überraschung!«, rief sie, umarmte Mann und Tochter und ließ sich auf ihrem Platz nieder.

      »Alles fertig«, krähte Nele. »Du musst gar nichts machen, Mama.«

      »Das habt ihr aber toll hingekriegt«, lobte Marie. »Kaffee gibt’s auch schon?«

      »Selbstverständlich.« Felix schenkte ihr ein und deutete zum Himmel. »Heute bleibt es sonnig und warm. Bis dreißig Grad werden erwartet. Wir können den ganzen Tag draußen verbringen.«

      Marie lehnte sich zurück, schloss die Augen und schnupperte an ihrem Kaffee. Ich glaube, dachte sie, ich möchte heute hierbleiben. Ich muss nur Felix davon überzeugen, dass er das auch möchte. Dann kann ich die Entscheidung ihm überlassen. »Du hast Recht«, murmelte sie. »Ich habe richtig guten Appetit.«

      Eine halbe Stunde später warf sie den ersten Köder aus. »Was für ein herrlicher Tag! Ich könnte hier noch stundenlang sitzen und die Ruhe genießen. Vielleicht gönnen wir uns später ein Glas Wein. Oder ein Eis. Oder beides?«

      »Ich will Stracciatella«, rief Nele.

      »Hier will keiner was«, korrigierte Felix. »Wer etwas möchte, sagt außerdem bitte.«

      »Ich möchte bitte Stracciatella-Eis«, erklärte seine Tochter rasch, strahlte ihren Vater aus großen blauen Augen an und fügte hinzu. »Bitte, bitte, Papa.«

      Felix lachte. »Das klingt viel schöner. Also gut. Machen wir uns einen faulen Tag!« Er wandte sich an Nele. »Und für dich stellen wir das Planschbecken auf.«

      In das zustimmende Jauchzen seiner Tochter mischte sich die Titelmelodie einer alten Krimiserie. Dazu vibrierte Maries Smartphone auf der Tischplatte. »Ist das nicht aus Derrick?«, fragte Felix verblüfft.

      Marie nickte griff nach dem Telefon. »Mein Kollege Jan Feddersen. Warum der heute anruft …« Sie zuckte mit den Schultern und nahm das Gespräch an. »Hallo, Jan, hast du an diesem schönen Sommertag nichts Besseres zu tun, als deine Kollegin zu behelligen?«

      »Es tut mir wirklich leid, Marie«, antwortete Jan. »Ich weiß, dass du heute einen freien Tag hast. Will dich nur kurz über einen Todesfall mit unklarer Ursache informieren. Du musst nicht kommen. Ich mache das heute auch gern mit den Kollegen von der Tatortgruppe. Aber es ist unser Fall. Und wie mir einer von ihnen geflüstert hat, könnte darin eine gewisse Brisanz stecken. Wieso, hat er nicht gesagt. Das Opfer ist ein gewisser … Ralf Börnsen, Inhaber des Hotels Alte Liebe.«

      »Ach du Scheiße«, entfuhr es Marie. Entschuldigend sah sie Felix an.

      »Scheiße sagt man nicht«, trompetete Nele.

      Marie nickte ihr zu und stand auf. Während sie ins Haus eilte, erklärte sie Jan den Hintergrund. »Die Frau unseres Staatsanwalts ist eine geborene Börnsen. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, der Hotelier ist … war der Schwager von Krebsfänger. Da wird Kriminalrat Lütjen ordentlich Druck machen. Was ist denn überhaupt passiert?«

      »Der Mann ist vom Dach seines Hotels auf die Straße gestürzt. War sofort tot. Wenn er nicht von sich aus gesprungen ist, muss jemand nachgeholfen haben. Die Kollegen von der Spurensicherung sind schon bei der Arbeit.«

      »Okay.« Marie atmete tief durch. »Ich komme.«

      »Musst du wirklich nicht«, wiederholte Jan. »Aber ich würde mich natürlich freuen. Der Tatort ist …«

      »Ich weiß«, unterbrach Marie ihren Kollegen. »In dem Hotel hatten wir schon zu tun. In zwanzig Minuten bin ich da.«

      »Super! Bis gleich!« Jan Feddersen klang erleichtert. Marie lächelte unwillkürlich. Ihr Kollege war der typische Kerl wie ein Baum und trat manchmal wie ein Macho auf. Als er vor drei Jahren die Nachfolge von Maries langjährigem Kollegen Konrad Röverkamp angetreten hatte, war sie dem Neuen gegenüber skeptisch gewesen. Inzwischen hatte sie ihn schätzen gelernt, denn im Grunde war er ein warmherziger Mensch, der anfängliche