»Es war eine Nadel«, sagte sie zu sich selbst, als sie den Gang entlangging.
»Was für eine Nadel?«, fragte eine Männerstimme hinter ihr.
Sie drehte sich schnell um und sah in Dieter Behnischs freundliches Gesicht.
»Führe ich mal wieder Selbstgespräche?«, fragte sie.
»Sie haben von einer Nadel geredet.«
»Dr. Clermont hat von einer Nadel geredet, aber ich finde keinen Zusammenhang. Wie viel Gift kann man in eine Nadel praktizieren, das tödlich ist?«
»Wohin versteigen sich Ihre Gedanken? Wollen Sie den Borgias Konkurrenz machen?«, fragte er anzüglich.
»Sie wissen genau, worauf ich hinauswill«, begehrte sie auf.
»Es kommt auf das Gift an, aber die Dosis war nicht tödlich, wenn ich Sie darauf aufmerksam machen darf, Frau Dr. Lenz.«
»Ich muss nachdenken«, sagte sie gedankenverloren. »Atropin ruft Wahnideen hervor, die aber wieder abklingen. Wenn man nur etwas von ihm in Erfahrung bringen wollte? Ihn gefügig machen wollte?«
»Sie wissen für alles eine Erklärung«, brummte Dieter Behnisch.
»Nein, eine weiß ich nicht. Aber ich muss es herausfinden. Es lässt mir keine Ruhe.«
»Wie wär’s denn mit einer kleinen Dosis Heroin durch eine rostige Nadel?«, fragte er hintergründig.
Sie starrte ihn an. »Damit scherzt man nicht«, sagte sie zornig.
»Mir ist jedenfalls nicht danach zumute.«
Mit sich selbst unzufrieden ging
Dr. Behnisch in Dr. Clermonts Zimmer.
Der Kranke warf sich unruhig hin und her. Unverständliche Worte kamen über seine Lippen, und zu gern hätte Dr. Behnisch gewusst, was hinter dieser hohen schweißbedeckten Stirn vor sich ging.
*
Molly konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn jemand darauf pochte, als Privatpatient bevorzugt behandelt zu werden. Einen Vormittag und einen Nachmittag in jeder Woche hielten sie für Voranmeldungen frei. Das sagte sie auch der eleganten jungen Frau, die gegen vier Uhr in der Praxis erschien und sofort von Dr. Norden empfangen zu werden wünschte.
»Ich habe ein sehr wichtiges Anliegen, das keinen Aufschub duldet«, erklärte die Fremde, deren halblanges, glänzendes blauschwarzes Haar den Verdacht in Molly aufkommen ließ, dass sie eine Perücke trüge. Die Kleidung verriet Eleganz, dafür hatte Molly einen Blick.
»Sagen Sie Dr. Norden, dass ich im Auftrag von Dr. Clermont komme«, erklärte die Besucherin.
Der Name war nun auch Molly schon wohlbekannt, denn von ihrer Tochter Sabine hatte sie doch manches erfahren.
So wenig sympathisch ihr die angebliche Patientin auch war, beschloss sie doch, Dr. Norden zu informieren. Fee war augenblicklich nicht anwesend. Sie machte einen Besuch bei einem kranken Kind.
»Ein paar Minuten müssen Sie sich aber gedulden«, sagte Molly dann unwillig. »Der Herr Doktor ist noch beschäftigt.«
Die Fremde setzte sich und griff nach ihrem Zigarettenetui.
»Rauchen ist hier nicht erlaubt«, zischte Molly gereizt.
»Sind Sie immer so freundlich?«, fragte die Fremde zynisch.
Molly blieb die Antwort schuldig und dann geleitete Dr. Norden seinen Patienten auch schon wieder zurück zur Tür.
»Also übermorgen, Herr Jung«, sagte er. »Nicht vergessen.«
»Bestimmt nicht, Herr Doktor. Vielen Dank«, entgegnete der alte Herr Jung.
»Das ist die Dame«, sagte Molly giftig. Dr. Norden grinste zu ihr hinüber. Dann bat er die Fremde mit einer Handbewegung in sein Sprechzimmer.
Sie glaubte anscheinend, ihn mit ihrem verführerischen Augenaufschlag beglücken zu können, aber dafür war Daniel unempfindlich.
»Wo fehlt es?«, fragte er leger. »Einen Auftrag konnte Dr. Clermont Ihnen doch kaum geben, da er noch keine Besuche empfangen darf.«
Er hatte nicht die Absicht, sich lange mit der Fremden, die noch immer nicht ihren Namen genannt hatte, aufzuhalten.
»Es war eine kleine Notlüge«, sagte sie mit einem verzeihungheischenden Lächeln. »Ich habe gehört, dass Sie Dr. Clermont in die Behnisch-Klinik gebracht haben. Dort wollte man mir keine Auskunft geben, was ihm fehlt. Ich möchte es gern von Ihnen erfahren.«
»Darf ich um Ihre Legitimation bitten?«, fragte Daniel kühl.
»Um meine Legitimation?«, fragte sie pikiert.
»Sie haben sich noch nicht einmal vorgestellt und erwarten von mir, dass ich Auskünfte gebe, die mir meine Schweigepflicht verbieten.«
»Mein Name ist Clifford, und ich bin eine nahe Verwandte von Dr. Clermont. Genügt Ihnen das?«
»Wenn Sie das Dr. Behnisch sagen, wird er Ihnen die Auskünfte geben, die Ihnen wichtig sind. Er ist der zuständige Arzt.«
»Herr Dr. Norden, ich bitte Sie um Verständnis. Ich fürchte, dass man mich mit Halbwahrheiten abspeisen wird, wie das mit nahen Verwandten gehandhabt wird, wenn der Patient in Lebensgefahr schwebt. Ich will André in den allerbesten Händen wissen. Dabei will ich Ihren Kollegen Behnisch nicht kränken. Sicher tut er, was in seiner Macht steht, aber es gibt Kapazitäten. Ich bitte um Ihre Unterstützung.«
Daniels Augen verengten sich. Für wie dumm hält sie mich eigentlich, dachte er.
»Wer hat Ihnen denn gesagt, dass Dr. Clermont in Lebensgefahr schwebt?«, fragte er. »So viel kann ich Ihnen jedenfalls sagen, dass er sich bereits auf dem Wege der Besserung befindet. Und besser versorgt werden kann er gar nicht. Er kann auch sehr gut selbst entscheiden, ob er in eine andere Klinik verlegt werden will.«
»Ist er denn ansprechbar?«, fragte sie erregt.
»Lassen Sie sich bitte von Dr. Behnisch informieren, Frau Clifford«, sagte Daniel ruhig. »Ich bin nicht zuständig.«
Ihre schlanken wohlgepflegten Finger zupften an ihren Haaren herum.
»Man kann als besorgte Frau anscheinend auch von einem Arzt kein Verständnis mehr erwarten«, sagte sie in beleidigtem Ton.
»Verständnis wofür?«, fragte Daniel spöttisch. Und das konnte Molly glücklicherweise hören, da er die Tür schon geöffnet hatte. Sie sah sehr zufrieden aus, als Frau Clifford an ihr vorbeigehuscht war und die Tür recht heftig hinter sich zuwarf.
»Ich bin nur froh, dass sie Ihnen auch nicht sympathisch war«, sagte sie mit einem erleichterten Lachen.
»Wir sind noch immer der gleichen Meinung, Molly«, bemerkte Daniel schmunzelnd.
»Fast immer, wollen wir mal sagen«, brummte sie. Aber worüber er nachdachte, konnte sie doch nicht ergründen. Er fühlte sich jedenfalls veranlasst, sofort Dr. Behnisch anzurufen.
*
»Das war ein turbulenter Tag«, sagte Fee erschöpft, als sie abgehetzt in die Praxis zurückkam. »Unterwegs musste ich noch Erste Hilfe bei einem Unfall leisten.«
»Schlimm?«, fragte Daniel besorgt.
»Es ging. Chirurg möchte ich nicht sein. Es ist spät geworden, Dan, wir haben heute Abend Gäste.«
»Bedauernswerte Leute, die von einem Ärzteehepaar eingeladen werden. Aber Isabel hat Verständnis dafür, und Jürgen wird bestimmt mit Verspätung kommen.«
»Ich habe auch Bettina Herzog eingeladen«, sagte Fee kleinlaut. »An Jürgen habe ich gar nicht mehr gedacht.«
»Warum