Vor kurzer Zeit noch hatte Aigonn gehofft, die anderen Krieger aus einer Siedlung weiter südlich am diesseitigen Ufer der Rur zur Hilfe rufen zu können. Jetzt aber war ihm klar, dass diese Tat vollkommen zwecklos sein würde. Das Dorf würde fallen. Daran war nichts mehr zu ändern.
„Wir müssen hier so schnell wie möglich verschwinden!“ Anation rüttelte drängend an Aigonns Schulter und befreite ihn damit aus seinen düsteren Gedanken. „Spätestens wenn die Palisaden fallen, werden die Eichenleute erste Verletzte zum Wald zurückschicken. Wir dürfen nicht hier sitzen bleiben und warten, bis sie uns von alleine finden!“
Aigonn nickte stumm, während sein Blick mit dem Schlachtfeld verfroren schien. Erst der Schmerz, als Anation ihn auf die Beine zog und danach unter seine Achseln fasste, um ihn zu stützen, machte ihn wieder zu einem Teil der Wirklichkeit, der nicht nur passiv beobachtete, sondern aktiv daran teilnahm.
Weit aber kamen sie nicht voran. Wären es nur die gezerrten Bänder im Bein allein, hätte Aigonn noch laufen können. Doch seine gebrochene Rippe schmerzte mit einer solchen Gewalt, dass ihm nach wenigen Schritten die Beine wegbrachen und er sich setzen musste. Unruhig tänzelte Anation immer wieder auf der Stelle, während sie wartete, bis Aigonn sich langsam zu fassen begann. Ihr Blick wechselte mit fast jedem Herzschlag von der Sorge über Aigonns Zustand zu der Sorge um ihrer beider Leben; dass sie sich am Rand eines Schlachtfeldes befanden, auf welchem der Krieg sich gerade gegen ihre Seite entschied.
„Geht es wieder?“
„Ich glaube ja. Hilfst du mir auf?“
Begleitet von einem zermürbenden Schmerzenslaut hievte Aigonn sich wieder auf die Beine. Wäre sein Geist nicht betäubt von dem Pochen in seiner Brust, hätte er sich wohl dafür geschämt, ein Mädchen von Lhenias Statur um Hilfe beim Aufstehen zu bitten. Aber sie ist nicht Lhenia, sagte er sich. Und schon gar kein Mädchen.
Als er wieder aufrecht stehen konnte, hielt Aigonn noch einmal inne. Die schlaflose Nacht hatte seine Sinne überreizt. Ihm schien es, als würden von allen Seiten Reiterscharen aus dem Dickicht brechen. Die Schmerzen gaben ihr Nötigstes zu seinem Zustand hinzu. Wie schön, wenn man einfach sorglos schlafen könnte; wenn es nichts gäbe, über das es sich lohnen würde, den Kopf zu zermartern.
Zuerst hielt er es für ein Produkt seiner Fantasie, als unweit von ihm und Anation Pferdehufe das Dickicht zertraten. Doch als schließlich auch die junge Frau zusammenzuckte, innehielt und sich erschrocken nach einem Versteck umsah, wusste Aigonn, dass er sich nicht getäuscht hatte.
Die Reiter kamen immer näher. Mit letzter Kraft versuchte Aigonn sich hinter einen Strauch zu schleppen. Anation half ihm, so gut sie konnte. Doch sie waren zu langsam, es war zu spät. Nur wenige Herzschläge vergingen, dann brachen die Eichenkrieger aus dem Dickicht hervor. Ein zynisches Lächeln fand den Weg auf Aigonns Lippen, als er denselben Krieger erkannte, der sie noch vor dem eigentlichen Angriff entdeckt hatte. Triumphierend sah dieser auf sie herab. Die Gedanken in Aigonns Kopf begannen sich zu überschlagen. Er würde sich nicht retten können, aber Anation war noch immer schnell genug. Innerlich betete er zu allen Göttern, sie würde endlich die Flucht ergreifen. „Flieh!“, zischte er ihr zu. Aber sie rührte sich nicht von der Stelle.
Es war zwecklos, alles. Keiner von beiden war bewaffnet. Es dauerte nicht lange, bis zwei weitere Reiter den einen eingeholt hatten, der sie bereits ausfindig gemacht hatte. Aigonn versuchte, einen Weg zu finden, einen letzten Ausweg. Doch in dem Moment, als er einen armdicken Ast neben sich packen wollte, traf ihn die flache Seite einer Schwertklinge an der Schläfe. Seine Kraft genügte nicht, um den Schmerz noch wahrzunehmen. Die Welt verwandelte sich in schwimmende Farbspiralen. Dann wurde es schwarz.
Verkauft
Die Stimmen waren das erste, das Aigonn wahrnahm. Sie wollten sich nicht recht in seine Träume einfügen, deren Botschaft wohl kein Sterblicher verstand. Als er jedoch die Augen aufschlug, sah er dieselbe Schwärze vor sich, die ihm bereits einen Moment der Ruhe vergönnt hatte.
„Aigonn?“ Die flüsternde Stimme geleitete ihn in die Wirklichkeit zurück. „Aigonn, bist du wach?“
Auf einmal waren weitere geraunte Worte zu hören. Eine Gestalt war neben ihm in die Knie gegangen, beugte sich nun über ihn und blickte besorgt zu Aigonn hinab. „Aigonn?“ Nun erkannte er die Stimme. Der Schein einer Flamme beleuchtete die schwarze Silhouette seitlich und enttarnte für einen Atemzug das blutverschmierte Gesicht eines jungen Mannes.
„Bral?“ Aigonn erschrak selbst, als er den gebrochenen Klang seiner Stimme hörte. Der junge Krieger trat ein Stück weiter in den Schein des Feuers hinein, sodass eine unschöne Schürfwunde sichtbar wurde, die Brals Gesicht vom Kinn bis zum Wangenknochen überzog.
Endlich entsann Aigonn sich, was geschehen war. Die Erinnerungen stürzten auf ihn ein. Die Schlacht, die Reiter, Anation. Waren dies die Überlebenden? Waren sie überhaupt noch am Leben? Ruckartig versuchte er aufzustehen, wollte nachsehen, wer ihn umgab. Doch der Schmerz, der ihm mit einer Bewegung die Luft aus den Lungen presste, war der beste Beweis dafür, dass er noch nicht in die Andere Welt hinübergegangen war.
Als ein Stöhnen seinen Lippen entkommen war, fühlte er Brals Hände unter seine Achseln fassen. Mit der Hilfe des Kriegers gelang es ihm, sich auf die Beine zu ziehen. Gut und gern fünfzehn Gestalten umgaben Aigonn und Bral. Ersterer erblickte sie erst jetzt und musste seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, bevor er einzelne Gesichter in seiner Nähe erkennen konnte.
Zwei der Torwachen sahen ihn an. Daneben befanden sich vier Frauen, ein halbwüchsiger Knabe und einige Bauern, deren Gesichter in den Schatten nicht erkennbar waren. Sie alle hatte man in einen fast schwarzen Raum gepfercht, dessen modriger Geruch und die feuchte, kühle Luft ihn als Felshöhle verrieten. Eine halbrunde, gut mannshohe Öffnung war der einzige ersichtliche Zugang nach außen, die mit dünnen Baumstämmen und dicken Ästen so gut versperrt war, dass man bestenfalls eine Hand zwischen den Ritzen hindurchstecken konnte.
Die Lichtquelle war ein Feuer, einige Fuß weit entfernt, jedoch groß genug, dass es Strahlen wie eine rote Mittagssonne in die Höhle fallen ließ und die kläglichen Gestalten beleuchtete, die man dort zurückgelassen hatte. Nun hörte Aigonn auch die Stimmen, die von außen bis in die Dunkelheit drangen. Fröhliche Lieder, die Euphorie über einen Sieg, der so gewiss gewesen war wie kein zweiter, schallten über die Landschaft und fingen sich irgendwo an niedrigen Felshängen, welche die Stimmen vervielfachten.
Sich seiner Lage gewiss, wagte Aigonn endlich zu fragen: „Wer hat überlebt?“
„Ein Drittel der Menschen vielleicht.“ Es war Bral, der ihm antwortete. „Als die Palisaden gefallen sind, haben die Eichenleute sich davor gescheut, die Kinder und Halbwüchsigen zu töten, deshalb sind es noch so viele. Alle, die du hier siehst, und fünf andere sind die einzigen Krieger, die diese Schlacht überlebt haben. Soweit ich es erkennen konnte zumindest.“
Bestürzt blickte Aigonn in die Dunkelheit, dorthin, wo er die Silhouetten der anderen Bärenjäger erkannte. Ihr Schweigen bestätigte Brals Worte. Alle sinnlosen Hoffnungen, die er mit sich getragen hatte, brachen binnen einem Moment über ihm zusammen. Panik stieg auf. Seine Stimme hatte zu zittern begonnen, als er nachhakte: „Was ist mit Behlenos?“
„Er wollte sich in sein Schwert stürzen, doch diese Gelegenheit ist ihm versagt geblieben. Stattdessen haben sie ihn gefangen genommen und unter Jubelschreien in ihre Siedlung gebracht.