„Es gibt noch andere?“ Aigonn wollte Bral kaum Glauben schenken.
„Sie behaupten das, ja. Ich persönlich kann nicht anders, als ihnen zu glauben. Alles andere würde diesen Krieg überhaupt nicht lohnend machen. Wenn es dem Eichenfürsten nur um das fruchtbare Land ginge, das sich in unserem Besitz … befand, bräuchte er nicht eine solche Geschichte um seinen Feldzug zu dichten.“
Aigonns Kopf schien zu zerplatzen. Deronas Erinnerungen, die sich wie seine eigenen in seinen Geist eingebrannt hatten, traten ihm wieder vor Augen. Seine Schwester, eine willenlose, von Geistern verfolgte Gestalt, die gezwungen war, nach einer verlorenen Seele zu suchen. Wenn dieser eine junge Mann ähnlich begabt gewesen wäre wie sie, hätte alles einen Sinn machen können – dass er denselben Wahnsinn in den Augen trug wie damals Derona. Aber noch mehr Tote? Noch mehr in den Tod Getriebene? Es ergab keinen Sinn. Nicht im Geringsten.
„Was haben sie mit Rowilan gemacht?“
Auf einmal blitzte ein Funken Hoffnung in Brals angestrengter Miene auf. „Nichts. Er ist fort. Entkommen mit ein paar wenigen anderen. Zwar haben sie alle Gefangenen in mehrere Gruppen aufgeteilt und an unterschiedlichen Orten zusammengepfercht, aber Rowilan scheint nicht der einzige zu sein, der davongekommen ist – zum Ärger der Eichenleute.“
„Sie suchen nach Rowilan“, klinkte sich schließlich einer der Torwächter in das Gespräch ein. „Die Eichenleute glauben, dass er für den Tod dieser jungen Leute verantwortlich ist. Auf ihn sind sie genauso verrückt wie auf Lhenia – nur, dass sie die nicht mehr suchen müssen.“
„Lhenia?“ Der Schreck war nicht gespielt. Insgeheim hatte Aigonn gehofft, Anation wäre vielleicht in der Lage gewesen, den Männern zu entkommen. Doch diese Annahme zerschlug sich. „Was haben sie mit ihr gemacht?“
„Das wissen nur die Götter allein. Als sie die Überlebenden getrennt haben, wurde sie zusammen mit Behlenos weggebracht. Wahrscheinlich ist sie schon tot oder wird es bald sein. Die Eichenleute fürchten sie wie eine Göttin des Chaos.“
Er konnte nicht sagen aus welchem Grund, doch unvermutet begann Aigonn, in sich hinein zu lachen. Für ihn war es schwer vorstellbar, Anation, jene sonderbare Frau, die über allen Dingen zu stehen schien, den Eichenleuten hilflos ausgeliefert zu wissen. So einfach konnte es doch gar nicht enden!
Auf einmal raschelte es hinter der kleinen Gruppe Menschen in der Dunkelheit. Eine Gestalt erhob sich aus dem Staub des Höhlenbodens und trat langsam in den Feuerschein hinaus. Aigonn wollte seinen Augen nicht trauen. Sein Gewissen flüsterte im Hinterkopf, erinnerte ihn daran, dass es noch mehr gab als seine verbissene Suche nach Antworten auf uralte Fragen.
„Interessiert es dich gar nicht, was mit uns geschehen ist?“
Efohs Gesicht schien zum Zerrbild der Vergangenheit geworden. Eine Brandwunde, groß wie eine Männerhand, hatte seine halbe Stirn versenkt und ein Loch in seinen langen Haarschopf gebrannt. Tiefe Schatten unterzeichneten seine Augen, sodass er trotz seiner sechzehn Jahre von einem Tag auf den anderen verlebt wie ein alter Mann wirkte. Aigonn konnte erkennen warum. Er hatte seinen Bruder ein einziges Mal weinen sehen, doch diese Trauer hatte noch Tage danach Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Er traute sich kaum zu fragen, um wen es sich zu weinen lohnte. Er spürte, was geschehen war. Und auf einmal kam er sich wie ein schäbiger Feigling vor, dass er nicht doch in die Siedlung gerannt war, um den letzten Rest seiner Familie zu verteidigen.
„Efoh …“ Mehr brachte er nicht heraus. Die Anklage in den Augen seines Bruders war unverkennbar. Vielleicht war er zu weit gegangen, vielleicht hätte Efoh in diesem Moment Verständnis für seine Lage aufbringen können, wenn er ihn eingeweiht hätte. Warum auch immer er es nicht getan hatte.
„Oh ja, … ich bin es.“ Der Zynismus schien Aigonn wie ein Messer in die Haut zu schneiden. Er hatte ihm den Mut aus der Stimme genommen, als er seinem Bruder zuraunte: „Ich … hatte, um ehrlich zu sein, … nicht geglaubt, dass du noch am Leben bist.“
Efoh lächelte kalt. „Glaub mir, ich bin so lebendig, dass ich mir mit jedem Herzschlag auf die Füße kotzen könnte. Aber was würde das bringen?“
Aigonn konnte nur im Stillen mitlächeln, bevor der Moment verflog und Efoh mit kräftigerer Stimme erzählte: „Mutter ist fort. Ich kann dir nicht sagen, ob diese Kerle sie umgebracht haben, aber ich habe sie nicht finden können, sonst säße ich jetzt nicht hier.“
„Du hast versucht zu fliehen?“
Nun musste Efoh wirklich lachen, doch es lag keine Freude darin. „Hast du mich wirklich für einen solchen Helden gehalten, der bis zum letzten Moment eine aussichtslose Sache verteidigt? Nein, das bin ich nicht. Ich fürchte nur, die Götter hätten es lieber anders gesehen und haben mich nun dazu gezwungen, den Standhaften zu spielen.“
Aigonn schmunzelte schwach, legte seinem Bruder eine Hand auf die Schulter – auch wenn er nicht wusste, was er ihm mit dieser Geste geben konnte. Er ließ den Augenblick verklingen, bevor er fragte: „Was glaubt ihr, haben sie mit uns vor?“
„Wenn wir das wüssten!“ Bral spuckte einen Flecken Speichel auf die Erde. „Der einzige, mit dem sie verhandeln, ist Behlenos. Wir sind alle nicht klüger als du.“
„Aber du vielleicht klüger als wir.“ Dieser Einwurf war von Efoh gekommen. Das gefährliche Funkeln in den Augen seines Bruders erschreckte Aigonn beinahe, so wenig wollte es zu dem Efoh passen, den er im Geiste vor Augen hatte. Dieser eine Tag hatte seinen Bruder verändert, ob es ihm passen wollte oder nicht. Jetzt musste er damit leben. Er wusste genau, worauf Efoh anspielte, und dem war sich dieser vollkommen bewusst.
„Du warst nicht in der Siedlung, als die Eichenleute uns überfallen haben“, stichelte er nun weiter, „und Lhenia ebenfalls nicht. Ich fürchte fast, Rowilan hatte Recht mit seinem Gedanken, dir eine Wache zur Aufsicht zuzuweisen. Möchtest du uns nicht allmählich verraten, was ihr beiden zu schaffen habt?“
„Willst du damit sagen, dass ich euch verraten habe?“ Die Unterstellung entrüstete Aigonn – noch viel mehr, dass plötzlich sein eigener Bruder zum Ankläger geworden war. Doch er hatte Efoh und seine Absichten verkannt. Ohne sich von der Anschuldigung seines Bruders beeindrucken zu lassen, erläuterte dieser – in einer seligen Ruhe, als würden sie einen Streit zwischen Kindern schlichten: „So viel nicht, nein. Das traue ich dir nicht zu. Aber es schließt nicht aus, dass du im Geheimen doch gegen uns arbeitest. Nicht gegen alle, nein. Nur gegen manche von uns, die du in deiner Verbissenheit für Wahnsinnige hältst!“
In Aigonns Augen war Efoh nicht wiederzuerkennen. Seine Miene sprach eine unverkennbare Sprache, ganz gleich, ob es Aigonn schlüssig wurde, was seinen Bruder dazu bewegte, ihn und seine Absichten nun vor anderen ihres Stammes so bloß zu legen.
Das Schicksal aber ersparte ihm die Antwort. Keiner der kaum zwanzig Bärenjäger hatte recht auf die Wachen vor dem Eingang der Höhle geachtet, die in einiger Entfernung ihre Gefangenen im Auge behalten hatten. Nun aber war ein fremder Mann hinzugekommen und ließ sich von vier weiteren Kriegern Eintritt zu der Höhle verschaffen.
Das Schaben eines der Baumstämme über den Erdboden unterbrach jäh die Auseinandersetzung unter den Bärenjägern. Ihnen blieb kaum genug Zeit, um die Lage abzuschätzen, bevor bereits der fremde Mann vor die anderen Krieger trat, auf Aigonn zeigte und ihm zurief: „Du! Komm her!“
Im ersten Moment war Aigonn zu überrumpelt, um zu reagieren. Als der Eichenmann dann aber seine Aufforderung in schärferem Ton wiederholte, trat er zögernd an die kleine Öffnung, die nun zwischen dem Gitter aus Ästen und Baumstämmen entstanden war.
Auf einmal, ohne weitere Ansagen zu geben, packte man ihn am Arm und zerrte ihn aus der Lücke heraus, so schnell er sich hindurch zwängen konnte. Der Moment überraschender Freiheit währte jedoch nur wenige Atemzüge, bevor man seine Hände packte und diese hinter dem Rücken so sorgfältig mit Stricken fesselte,