„Nein! Ohne meine Hilfe wäre es dir doch gar nicht gelungen. Alleine wärst du niemals wieder zu uns zurückgekehrt.“
Rowilan hatte den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, doch im selben Moment verschwand die Szene vor Aigonns Augen. Der Griff des Schamanen löste sich auf, gab ihn frei und nahm damit auch Zuneigung und Geborgenheit mit sich.
Die Furcht aber blieb. Aigonn sah Farben verschwimmen, eine Lichtung im Wald, nur von einer Fackel erhellt, die immer wieder taumelte, sich drehte. Drehte er sich oder waren es nur die Bilder vor seinen Augen? Er wusste es nicht. Aber plötzlich stieg eine ungeheure Übelkeit in ihm auf, dass er nur mit Mühe die Galle bei sich behalten konnte. Schwindel überkam ihn. Fast unerträglich sehnte er sich nach Schlaf, doch er kam nicht zur Ruhe. Wo vorher Stille gewesen war, erklangen Stimmen wie aus dem Nichts. Es waren so viele, so heftig, dass Aigonn die Hände hoch an seine Ohren reißen wollte. Doch er war wie gelähmt. Sein Körper schien versteinert. Unzählige Gestalten, durchsichtig wie Morgennebel, schwebten überall über dem Boden, kamen von allen Seiten. Und auf einmal hörte er jemanden sagen:
„Gib nicht auf! Du kannst sie finden! Finde sie!“
Jemand packte seine Hände. Der feste Griff schnitt ihm wie ein Seil ins Fleisch, doch er konnte sich nicht wehren.
„FINDE SIE!“
Die Bilder drehten und wiederholten sich. Er spähte wie besessen in das Gewirr aus Farben und zuckenden Gestalten. Doch er konnte nicht sehen, was er finden musste. Dabei hatte er nach ihr gerufen, sie war nicht gekommen. Irgendjemand rüttelte an seinen Schultern. Sein Körper schaukelte wie eine willenlose Puppe umher, während sein Kopf zu zerplatzen schien.
Panik schrie in ihm auf. Überall Panik. Die Stimmen wurden immer lauter, immer mehr. Er konnte es nicht mehr ertragen.
Dann fühlte er, wie er rannte. Rannte, als ob es um sein Leben gehen würde. Er war wehrlos. Er wusste, dass es zwecklos war, sich zu wehren. Es gab nur diesen einen Ausweg, diesen einen. Es hatte keinen Sinn, Widerstand zu leisten. Er wollte, dass es aufhörte, die Stimmen endlich aus seinem Kopf verschwanden.
Aigonn schrie, schrie wie noch niemals in seinem Leben zuvor. Die dunklen Silhouetten des Grabes der Götter tauchten aus dem Zwielicht der Nacht auf. Fackeln rammte er in den Boden. Sie mussten ihn finden. Bald würde seine Mutter da sein, das wusste er. Wichtig war nur, dass sie ihn fanden.
Er schrie. Immer lauter, immer heftiger. Ganz von fern versuchte eine Stimme seinen Geist zu erreichen, doch sie war ausgesperrt. Niemand sollte mehr in ihn eindringen, niemand mehr. Die Erinnerung verschwamm. Jemand hatte ihn an den Schultern gepackt und rüttelte seinen Körper aus Leibeskräften.
„AIGONN! KOMM ZU MIR ZURÜCK!“
Die Emotionen überwältigten ihn. Aigonn hatte keine Kraft mehr, sich dagegen zu wehren. Seine Finger bluteten. Mit letzter Stärke zog er sich den nördlichen Monolithen hinauf. Es sollte vorbei sein, es würde ein Ende nehmen. Er musste nur einmal mutig sein, einmal …
„AIGONN!“ Die Ohrfeige traf ihn so unvermittelt, dass sie Wirkung zeigte. Nacht verwandelte sich in roten Feuerschein. Eine stille, ruhig fließende Kraft zog seinen Geist wie eine dritte Hand in seinen Körper zurück. Vergangenheit wurde zur Gegenwart.
Als Aigonn blinzelnd die Augen aufschlug, schaute er in die entsetzte Miene der jungen Frau. Sie hatte seine Oberarme mit beiden Händen umklammert, als würde er augenblicklich in ein Loch ohne Boden fallen, während er sich langsam dem Gewicht seines eigenen Körpers bewusst wurde.
„Aigonn!“ Ihre Stimme verriet echte Angst. Er selbst öffnete und schloss noch einmal ganz langsam die Augen, dann erkannte er endlich vor sich die Wirklichkeit. Dünne Rauchschwaden hatten sich in der Zwischenzeit an der niedrigen Decke gesammelt, die ihn unvermittelt husten ließen. Als er sich beruhigt hatte, fühlte er jedoch eigene Panik. Die Grabkammer schien ihm plötzlich unendlich eng, klaustrophobisch. Ohne große Rede schob er die junge Frau beiseite und flüchtete sich mit aller Kraft nach draußen.
Dort empfing ihn dämmriges Morgenlicht. Die frische, feuchte Luft der Wiesen spendete ihm solche Erholung, dass er sich von einem Moment auf den anderen wie erschlagen fühlte. Seine Beine schienen das doppelte Gewicht als üblich zu haben, als er sie aus dem Eingang hinauszog. Und erst mit dem Versuch aufzustehen bemerkte er das Zittern, das seinen ganzen Körper erfasst hatte.
Es dauerte nicht lange, bis die junge Frau ebenfalls aus dem Grabhügel kletterte. Aigonn saß wie das lebende Elend im regennassen Gras, kreidebleich, zittrig. Sie wagte kaum, ihn an der Schulter zu berühren, als sie sich neben ihm niederließ.
„Verzeih mir!“ Die Entschuldigung hatte sie Aigonn nur zugehaucht. Doch dieser schlug im selben Moment die Augen auf und fragte: „Wofür?“
„Ich hatte nicht erwartet, dass es so heftig werden würde. Ich selber kann mich nur entsinnen, dass eine viel größere Distanz zwischen dem Sehenden und den Erinnerungen bestehen müsste. Vielleicht habe ich mich geirrt, weil du zu ganz anderen Dingen in der Lage bist als ich.“
Aigonn antwortete nicht. Er starrte zwischen den Grabhügeln auf den See hinaus, wo Nebelschwaden lautlos über dem Wasser schwebten. Sein Innerstes tobte noch. Er wusste gar nicht, wie er die Unmassen an Gefühlen, Bildern und Erinnerungen verarbeiten sollte. Zwar spürte er, dass es vorbei war, nicht zu ihm gehörte, doch ihn schockierte, was Derona all die Monate über ertragen hatte.
Die Frage schien seinen eigenen Gedanken zu entstammen, als die junge Frau fragte: „Was hast du gesehen? Was hat euer Schamane versucht, mit deiner Schwester zu erreichen?“
„Ich weiß es nicht genau. Es hatte den Anschein, als wären sie auf der Suche nach Seelen gewesen, die den Weg in die Andere Welt nicht gefunden haben. Aber ich kann dir nicht sagen, zu welchem Zweck.“
„Hat es vor einigen Jahren bei euch Krieg gegeben?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
Die junge Frau presste nachdenklich die Lippen aufeinander. Ihr Ausdruck war unbefriedigt. Sie schien sich mehr von diesem Ritual erhofft zu haben, das Aigonn fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Morgenlicht erreichte endlich die Schatten am Rande des Waldes. Die junge Frau gab Aigonn noch einen Moment Zeit, bevor sie anmerkte: „Allmählich sollten wir das Grab verschließen und zurückkehren. Man wird uns vermissen.“
„Nein.“
Sie sah auf. Aigonn blickte sie nicht an, als er wiederholte: „Ich gehe nicht zurück in die Siedlung. Nicht jetzt. Noch nicht.“
„Sondern?“
„In den Wald. Ich bin nicht in Stimmung, irgendjemandem Rede und Antwort zu stehen. Weder Efoh, noch Rowilan, noch sonst wem.“
Die Frage nach dem Schicksal
Es waren lange und stille Momente, welche die junge Frau zusammen mit Aigonn im Wald verbrachte. Nachdem sie seinem Wunsch gefolgt waren und die Schatten des Waldes als Zuflucht gesucht hatten, versank er tief in seinen Gedanken und focht lange über das Gesehene mit sich selbst und seiner Vergangenheit.
Auf diese Weise wurde Morgen unbemerkt zu Mittag. Die Sonne wanderte weiter und brannte über dem Dorf mit all ihrer Kraft und Sommerhitze. Im Wald jedoch nahmen die beiden Gefährten keine Notiz davon. Aigonn selbst kannte die alten Bäume, die sich ihren Platz zwischen steinigen Hängen und feuchten Talsenken gesucht hatten, wie eine zweite Familie und folgte der Kontur des Waldrandes irgendwann in einiger Entfernung Richtung Dorf zurück.
Die junge Frau hatte sich lange zurückgehalten, aber schließlich musste sie ihrer Neugier nachgeben und fragte vorsichtig: „Was … glaubst du, hat deine Schwester zum Selbstmord getrieben?“
Zwei Atemzüge lang herrschte Stille. Dann antwortete Aigonn, ohne aufzusehen: „Die Geister, Wahnvorstellungen, irgendetwas dieser Art.“
„Trägt Rowilan Schuld daran?“
Nun