Kurz bevor seine Eskorte den kleinen Anstieg zur Höhle erreicht hatte, fielen auf einmal Steine die Felswand hinab. Einer der Eichenkrieger blickte ruckartig auf, doch trotz der Fackel, die er mit sich genommen hatte, war nichts zu erkennen, das Gefahr bedeutete.
Zögerlich setzten sie ihren Weg fort. Als weiteres Rascheln und lose Steine in die Dunkelheit schallten, löste sich einer der Männer aus dem Zug, trat näher an die bewachsene Steilwand heran und nahm die Fackel, welche den Kriegern bisher Licht gespendet hatte, an sich, um ein Stück in die Schwärze zu leuchten.
Plötzlich kippte der Mann nach hinten wie ein gefällter Baum. Der kleine Fels, groß wie ein Kopf, hatte nur einmal seine Stirn treffen müssen, bevor er dumpf neben dem Krieger auf dem Boden aufschlug. Dessen Gefährten blieb zum Handeln kaum Zeit mehr.
Wie ein Geist, ein Dämon, sprang eine Gestalt aus einer Nische in der Felswand. Ohne größer auf Aigonn zu achten, rissen die Eichenkrieger ihre Schwerter aus den Scheiden, stürmten vor, der Fremde aber war schneller. Sein eigenes Schwert fällte den ersten Angreifer, den zweiten stieß er beiseite, dann sprintete er vor, direkt auf Aigonn zu.
Dieser wusste nicht, ob er versuchen sollte, die Flucht zu ergreifen oder der schwarzen Gestalt ein wenig Vertrauen zu schenken. Als die Klinge seine Fußfesseln durchtrennte, ersparte man ihm jegliche Entscheidung. Der Fremde, dessen Kleidung, Gesicht und Haut beinahe vollkommen mit Schlamm eingerieben waren, packte ihn an den noch immer gefesselten Armen und riss ihn mit sich, als würde der kommende Morgen auf dem Spiel stehen.
Aigonn hatte gerade den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, als eine Lanze eine Hand breit neben seinem Kopf vorbeiflog und sirrend im Boden stecken blieb. Der Luftzug blieb wie eine Erinnerung zurück und gab Aigonn zu verstehen, dass er sich auf einmal nicht mehr in der Position des kooperierenden Verhandelnden befand.
Dieser Gedanke hätte ihn beinahe veranlasst, sich gegen den Fremden zu wehren, aber ihm blieb keine Zeit für wirkungsvollen Widerstand. Mehr und mehr Lanzen schossen auf sie zu. Aigonn und der Mann rannten wie besessen in die Dunkelheit. Ersterer konnte nicht sagen wohin, musste ein Stück Vertrauen haben, auch wenn er nicht wusste, ob dies im Moment angebracht war.
Auf einmal streifte er niedrig hängende Äste, dann tat sich Dickicht vor ihnen auf. Ohne Rücksicht auf Verluste stürmten sie in den Wald hinein, während im Lager das halbe Heer zur Hilfe gerufen worden schien. Speere, Lanzen, selbst Jagdpfeile sirrten durch die Dunkelheit und wurden zu tödlichen Fallen, die Aigonn schmerzhaft zu spüren bekam.
Beinahe wäre er gestolpert, als sich ein Pfeil in seine Schulter bohrte – nicht tief. Doch der Schmerz explodierte in seinem Fleisch, die Kraft des Momentes verklang, und brachte auch die Schwäche und pochenden Qualen der vergangenen Tage zurück, die ihm schlagartig die Luft aus den Lungen sogen.
Doch ihm blieb keine Zeit, das wusste er. Der Fremde hatte innegehalten, zerschnitt nun auch Aigonns letzte Fesseln und versuchte, diesen auf die Beine zu ziehen. Aber eben diese versagten augenblicklich.
„Komm, Aigonn, bitte! Es ist nur noch ein kleines Stück, wir müssen hier weg!“
Eine Luftblase schien sich in seinen Ohren gebildet zu haben. Die Wirklichkeit sickerte nur dumpf und undeutlich hindurch, sodass Aigonn einen Moment brauchte, um zu begreifen, was sein Geist längst registriert hatte. Die Schmerzen waren vergessen. Aigonn schreckte hoch, spürte den Schwindel wie Nebelschleier vor seinen Augen, bevor er in der Schwärze ganz undeutlich die Silhouette des Mannes erkannte.
Er wollte nicht glauben, was er soeben vernommen hatte. Mit erschreckender Vertrautheit hallten die Worte, die Stimme des vermeintlichen Fremden in seinen Ohren wider – und im Grunde war es vollkommen logisch, auch wenn Aigonn selbst es nicht glauben wollte.
„Rowilan?“
„Ja“, antwortete dieser drängend. „Ich bin es. Aber wir müssen hier …“
Ein Schrei, erschreckend nah, machte Reden unnötig. Der Schamane packte Aigonn, ohne auf Proteste, Schmerzen und wackelige Beine zu achten, und riss ihn mit sich, so schnell dieser vorankam. Die Welt aber drehte sich vor Aigonns Augen. Unzählige Männer setzten ihnen nach, Stimmen wurden lauter, kamen immer näher. Die Lanzen schossen unheilbringend überall um die beiden Bärenjäger in den Boden, doch als ob der Herr Des Waldes selbst sie schützen würde, fand keine der Waffen ihr Ziel.
Endlich, wie aus dem Nichts, wehte Aigonn der Geruch eines Pferdes entgegen. Das kleine, aber kräftige Tier war nur mit einem lockeren Knoten an einen Baum gebunden, den Rowilan blind löste, darauf seinem Gefährten beim Aufsteigen nachhalf und bereits im Trab selber aufsaß.
Wie durch Magie hatte sich vor ihnen ein dünner Pfad aufgetan, den das Pferd im Galopp entlang sprengte, nur von Instinkten geleitet. Würde eine Wurzel oder ein großer Stein unglücklich liegen, wäre ihre Flucht in kürzester Zeit vereitelt. Doch Aigonn wollte nicht daran denken, auch nicht an die Frage, wie Rowilan diesen Ort in völliger Dunkelheit gefunden hatte.
Stattdessen lauschte er seinem bebenden Atem, dem Pochen seines Herzens und fühlte wie versteinert den erwachenden Sturm seiner Gefühle. Der Mann, derjenige, welcher der Schlüssel zur Freiheit seines Stammes und Aigonns Rache war, hatte ihn befreit und saß in diesem Moment direkt hinter ihm.
Rowilan
Es war schwer einzuschätzen, wie lange es dauerte, bis sich die Stimmen, Schreie und Schritte der Eichenkrieger im Wald verloren hatten. Die Flucht selbst hatte Aigonn nach wenigen Galoppsprüngen kaum mehr gekümmert, seine Gedanken hatten ihn erstarren lassen, sodass er wie eine alte Statue vor Rowilan auf dem ungesattelten Pferd saß und mit jedem Atemzug gleichmäßig den Geruch von Männerschweiß, Schlamm und altem Dreck in die Nase sog.
So musste Rache schmecken, glühend wie geschmolzene Bronze und unendlich zermalmend, während man so gefangen war wie Aigonn in diesem Moment – unfähig zu tun, was er wollte.
Die Welt vor den beiden Reitern war schwarz. Nur vereinzelt ließen im Wind vorbeiziehende Wolken den Mond zwischen den Baumwipfeln hindurchscheinen, dessen Licht geisterhafte Schatten auf den Boden malte. Aigonn war schleierhaft, auf welche Weise Rowilan sich in dieser Finsternis orientieren konnte, doch die Wucht des Kampfes war von beiden nicht abgefallen, bremste jegliche anderen Gefühle und machte das Denken anstrengend.
Nach einer Weile, Aigonn konnte nicht abschätzen wie lange, lenkte das Pferd fast wie von selbst nach rechts vom Weg ab ins Dickicht hinein und brachte seine Reiter nach kurzer Zeit schon in die Nähe einer steil aufragenden Felswand. Schwarz wie ein Schatten ragte sie in die Dunkelheit. Erst als Rowilan vom Pferd absaß und mit einigen großen Schritten einen Felsen erklomm, konnte Aigonn erahnen, dass die Wand terrassenartige Schichten ausgebildet hatte, die nun als flache Vorsprünge in den Wald hinausragten.
Noch immer saß Aigonn stocksteif auf Rowilans Reittier. Er bemerkte erst jetzt, dass sein Atem keuchend und stoßweise aus seiner Nase entwich, als ob er nicht genügend Zeit gefunden hätte, um die Anstrengung der Verfolgungsjagd hinter sich zu bringen. Rowilans Silhouette war nicht mehr zu erkennen, sondern nur noch durch Schritte und bröckelnde Steine auszumachen, bevor auf einmal in einer geschützten Nische eine Flamme aufloderte.
Den Schein des Feuers im Rücken, trat Rowilan vor, blickte in den Wald hinaus und rief Aigonn schließlich zu: „Nun komm! Willst du dort sitzen bleiben?“
Dieser entgegnete nichts. Wie ein lauerndes Raubtier glitt er vom Rücken des Pferdes, band es mit seinen Zügeln an einen nahen Baum und steuerte letztendlich auf den Felsvorsprung zu, den Rowilan zu ihrem neuen Lager erklärt hatte.
Nun war er auf der Jagd! Er hatte keine Waffe bei sich, also musste er Rowilan mit bloßen Händen überwältigen, bevor dieser Verdacht schöpfen konnte.