„Du enttäuschst mich. Ich hatte erwartet, dass du dich mehr mit den Dingen auseinander setzt, die in deiner Umgebung geschehen.“
„Ach ja?“
„Ja. Man nennt mich Khomal. Ich bin der Herr von all dem, das du hier siehst.“
Der Eichenfürst, schoss es Aigonn durch den Kopf. Er hätte es ahnen können.
Als endlich Erkennen in seinen Augen aufblitzte, lächelte Khomal zufrieden und trat ein Stück näher an seinen Gefangenen heran. Dieser aber wurde die Spielchen allmählich leid: „Dürfte ich erfahren, was mir vorgeworfen wird?“
„Oh …“ Khomal lachte. „Noch ein Angeklagter, der sein eigenes Vergehen nicht kennt. Es scheint ein erheiternder Abend zu werden.“
Auf einmal verschwand jegliches Lächeln aus dem Gesicht des Eichenfürsten. Eisige Kälte trat in seine Augen, während er Aigonn immer näher kam – ganz so, als galt es kein Urteil mehr zu fällen, sondern nur noch vor aller Augen zu vollstrecken.
„Sechs junge Leute aus unseren Reihen, zwei Mädchen und vier Männer, die kaum das Alter der Erwachsenen erreicht hatten, sind eurem dämonischen Zauber zum Opfer gefallen. Ich weiß nicht, zu was du, dein Schamane und alle …“ Sein Blick glitt zu Anation. „… anderen Wesen, derer Macht ihr euch bedient, in der Lage seid. Aber ich unterschätze euch nicht, wenn ich sage, dass ich noch niemals mit einem solchen Wahnsinn konfrontiert gewesen bin wie der, mit dem ihr unsere Kinder in den Tod getrieben habt.“
„Warum glaubt ihr so verbissen, dass es ein Bärenjäger gewesen ist?“ Aigonn kämpfte mit seiner Gelassenheit. Er spürte, dass er sich in diesem Moment auf eine Auseinandersetzung einließ, die er nicht gewinnen konnte. Doch er wagte es trotzdem. „Genauso gut kann es einer eurer Leute gewesen sein. Ihr wisst es doch ebenso wenig wie wir!“
„Jetzt lügst du, junger Mann.“ Junger Mann. Von nahem schien Khomal noch jünger zu sein als Behlenos, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt. Doch alles an ihm, sein Auftreten, seine Wortwahl schienen von Jahrzehnten der Lebenserfahrung zu zeugen.
Drohend fügte der Eichenfürst seinen Worten hinzu: „Ich weiß von deiner Schwester. Geschichten verbreiten sich schnell, vor allem, wenn man ihnen so viel Zeit lässt, wie seit ihrem Tod zurückliegt. Es ist tragisch, ich weiß. Aber ebenso sehr weißt du, wer an all diesen sinnlosen Toten die Schuld trägt!“
Khomal war so nah an Aigonn herangetreten, dass Letzterer nach dem Fürsten hätte greifen können, wenn man ihm nicht die Hände gefesselt hätte. Deshalb flüsterte er nur, als er fragte: „Was wollt Ihr von mir?“
„Die Wahrheit!“
Plötzlich schoss der Fürst herum. Er hatte die Arme ausgebreitet, als wollte er den Zorn der Götter beschwören, und für einen Moment hätte Aigonn dem auch geglaubt. Voller Inbrunst schrie Khomal über den Platz: „DIE ZEIT IST VORBEI, IN DER IHR EUCH HINTER EUREN LÜGEN VERSTECKEN KONNTET! Euer Fürst behauptet noch immer so eisern, wie jeher, dass er nichts von all dem weiß, obwohl hinter euren Palisaden der letzte dieser sechs Toten selbst verbrannt wurde. Wer von euch nicht getötet wurde, befindet sich in und um diese Siedlung. Sie wird also hier sein, die Person, die ich will.“
Er war wieder an Aigonn herangetreten. Der Atem des Eichenfürsten streifte sein Gesicht wie ein Windhauch, als dieser ausstieß: „Und du bist der, der weiß, von wem ich spreche.“
„Ihr konntet Rowilan nicht gefangen nehmen.“
„Nein.“ Auf einmal begann Khomal zu lächeln. Dieses plötzliche Gefühl von Erfolg und Genugtuung wurde so eindringlich, dass Aigonn nicht anders konnte, als sich mitreißen zu lassen.
„Wir jagen denselben Feind, Aigonn. Du scheinst ein Mann zu sein, der viel mehr sein könnte, wenn man ihn lassen würde. Ich glaube, wir würden uns besser verstehen, als du jetzt noch denkst.“
Aigonn lachte trocken. Er wusste nicht warum, doch Khomal ließ sich davon nicht beeindrucken. „Wenn es dir gelingt, ihn hierher zu schaffen, schenke ich dir das Leben deiner Leute. Aller. Nur Behlenos vielleicht nicht; um ihn gedenke ich mich zu kümmern. Aber ich glaube, das Angebot ist auch ohne ihn ansprechend genug?“
Aigonn konnte die Gefühle nicht beschreiben, die in ihm zusammenprallten. Eine Stimme aus seinem Innersten schrie, schrie um seiner Ehre willen, der Sache, der er sich seit seiner Jugend immer hatte versprechen wollen, all der großen Ideale. Doch sie erstickte in einer schwarzen Euphorie, die keinen Namen hatte. Nie war es ihm leichter gemacht worden. Er würde die Gerechtigkeit bekommen, die Derona und seiner Familie schon so lange verwehrt worden war, die anderen retten können, sich endlich nicht mehr verstecken müssen.
Doch plötzlich bremste er sich. Er blickte zu Anation, als er sagte: „Sie! Ich will auch sie.“
Auf einmal gerieten die Menschen am Rande der Menge in Bewegung. Als würde man ihn in diesem Moment zu Tode schlagen, brüllte Behlenos aus all seiner unterdrückten Wut: „VERRÄTER! MISSGEBURT, DIE ICH ZEIT MEINES LEBENS BESCHÜTZT HABE! DIE GÖTTER MÖGEN DICH VERFLUCHEN, VERDAMMEN …“
Dann gelang es den Eichenkriegern, ihm einen solchen Schlag zu versetzen, dass sein Zornesausbruch ein jähes Ende fand. Khomal schenkte dem verfeindeten Fürsten ein mildes Lächeln, bevor er sich wieder Aigonn zuwandte und diesmal ernster anbot: „Darüber sollten wir sprechen, wenn du in die Reihen unserer Schamanen aufgenommen wurdest. Es sollte noch nicht deine Sorge sein.“
Aigonn nickte nur. Es war das erste Mal, seit Khomals Angebot gefallen war, dass er echte Zweifel an diesem Spiel hegte. Die Genugtuung in seinem Innersten aber schob sie beiseite.
Anation selbst war seit dem Beginn dieser Verhandlung noch kein einziges Mal aus ihrer Trance erwacht. Lediglich dann, als Khomal ihm den Rücken zuwandte und ein Stück weiter auf den Platz hinausging, flackerten ihre Lider und ihr Kopf drehte sich, als wüsste sie ganz genau, dass sich Aigonn in ihrer Nähe befand.
Kaum hörbar raunte sie: „Ich bin zurück.“ Eine Windböe verschluckte ihre nächsten Worte, doch dann verstand Aigonn wieder: „… hierher. Ich weiß es. Alles liegt hier verborgen.“
„Anation!“, flüsterte er. Doch ihm blieb keine Zeit mehr, um auf eine Antwort zu warten. Zwei Krieger lösten die Fesseln an seinen Handgelenken, um sie eine kurze Zeit später wieder hinter seinem Rücken zu verschnüren. Von derselben Eskorte geleitet, die ihn bereits auf den Marktplatz gebracht hatte, verließ Aigonn nun wieder diesen Ort. Als er noch einmal einen Blick auf Khomal erhaschte, sah er in eine hochzufriedene Miene, mit welcher der Fürst seinem Gefangenen zurief: „Ich freue mich.“ Und Aigonn konnte es verstehen. Sein Plan war aufgegangen. Im Augenwinkel noch schien es, als verwandelte sich im Feuerschein das befriedigte Antlitz in eine dämonische Fratze, die die Natur des soeben besiegelten Geschäftes widerzuspiegeln schien. Aber die Zweifel, die ihn diesmal mit noch größerer Stärke überkamen, blieben wieder ohne Erfolg. Er wollte nicht daran hadern, was sich ihm nun eröffnet hatte – nicht jetzt.
Der Rückweg schien schneller hinter sich gebracht, als Aigonn den Hinweg in Erinnerung hatte. Das Zwielicht außerhalb der Siedlung beschwor zuerst bunte Flecken vor seinen Augen, bis er sich an die stärker werdende Dunkelheit gewöhnte und die Gesichter der Eichenkrieger erkennen konnte, die wie ein Heer von Insekten mit ihren Zelten die gesamten Wiesen um die Siedlung belagerten – so weit, wie er bei dieser Dunkelheit sehen konnte.
Es musste auf Mitternacht zugehen, doch Aigonn konnte sich auch täuschen. Er vermochte nicht genau einzuordnen, wo in der Landschaft die Eichenleute ihr Domizil errichtet hatten, sodass er keinen markanten Punkt finden konnte, den er kannte und von dem er wusste, zu welcher Zeit der Mond sich zu ihm hin und von ihm wegbewegte.
Doch es spielte keine Rolle. In seinem Kopf tobten die Gedanken und Emotionen, dass ihm die Schläfen schmerzten. Es kostete ihn beinahe rohe Gewalt, sie wie unwichtige Erinnerungen beiseite zu schieben und sich darauf zu konzentrieren, was er wirklich wollte. Immerhin hatte er ein Ziel vor Augen, einen Erfolg, der in greifbare Nähe gerückt war. Wenn er Rowilan finden und überwältigen konnte, würde er alle retten, die noch am Leben waren. Insgeheim