Aigonn nickte nur stumm. Was sollte es auch nützen, wenn sie sich gerade jetzt zurückzogen? Mit zwei scharfen Schlägen blitzten feine Funken auf. Binnen weniger Atemzüge entzündete sich eine Flamme, deren Licht sich langsam wie die Morgensonne ihren Weg in die Dunkelheit suchte, die seit fast einem Jahrzehnt ungestört war.
Zwischen den Überresten eines Schaffells ruhten erblichene Knochen im Erdengrab. Aigonn wurde plötzlich wieder zum Kind, sah zu, wie seine Mutter Tontöpfe voll Korn, Honig und Obst neben seine Schwester bettete. Die Glasperlenkette an ihrem Hals und die bronzenen Reifen an ihren Armen waren die kostbarsten Schmuckstücke, die Moribe ihrer Tochter auf die Schnelle mit in die Andere Welt hatte geben können.
Die Wirklichkeit war ein verblichenes Abbild dieser Tage. Aigonn starrte Augenblicke lang auf die Überreste von Derona, auf das, was von ihr geblieben war, bis er die junge Frau sagen hörte: „Es ist so weit! Bist du bereit?“
‚Nein‘, wollte Aigonn rufen. Er würde niemals bereit für diesen Moment sein. Doch er konnte dem Gefühl keinen Namen geben, das ihn vorwärtstrieb, während er auf die junge Frau zulief. Sie selbst kniete neben dem frischen Eingang zur Grabkammer. Das Loch im Hügel war kaum groß genug, um einen einzelnen Mann hindurchzulassen. Aigonn hätte gern noch einmal mit ihr gesprochen, sich vielleicht doch zurückgezogen. Doch bevor er die Gelegenheit fand, hatte sich die junge Frau bereits gebückt und suchte sich einen Weg in die Grabkammer hinein.
Aigonn wollte es nicht. Er wollte weglaufen, all das vergessen, sich bei Rowilan entschuldigen und versuchen, alles so sein zu lassen, wie es hätte sein können. Aber er wusste, dass es keinen Zweck hatte. Noch einmal atmete er tief durch, bewahrte sich den Geruch der Nacht und des Sees, bevor er die Augen schloss und blind in den Grabhügel kroch.
Es waren nur wenige Fuß, dann öffnete sich vor ihm die Grabkammer. Der winzige Raum war gut zwei Fuß tief in den Boden gegraben und kaum groß genug, dass man neben der Toten noch Töpfe und Schalen abstellen konnte. Die junge Frau hatte sich ans Fußende gezwängt. Die mit Holz gestützte Decke war so niedrig, dass sie sich selbst im Sitzen bücken musste, während sie behutsam die Gefäße zwischen die Beine der Toten legte, um sich Platz zu schaffen.
Noch bevor Aigonn sich recht hinsetzen konnte, musste er husten. Der Staub klebte auf seinen Schleimhäuten. Er atmete lange in Richtung des Ausgangs, um seine Lungen mit frischer Luft zu füllen, während die junge Frau die Fackel so schräg in das Erdreich steckte, dass sie die Decke nicht ansengte.
Als er sich wieder beruhigt hatte, stellte Aigonn eine große Tonkanne beiseite und nahm oberhalb des Kopfes seiner Schwester Platz. Zwei leere Augenhöhlen starrten zu ihm auf. Er konnte nicht sagen, ob er Abscheu oder Furcht vor dieser Sammlung von Knochen empfand, die einmal Derona gewesen waren. Ihn schockierte der Gedanke, dass er soeben ihre Ruhe gestört, ein heiliges Gesetz seines Volkes gebrochen hatte.
Aber es dient nur dazu, dass du Gerechtigkeit erhältst! An diesen Gedanken klammerte er sich und sprach ihn im Geist immer wieder aus, als würde er damit Deronas Seele besänftigen können.
Die junge Frau hatte sich in der Zwischenzeit gesammelt. Sie wartete auf den Moment, der ihr angemessen erschien, bis sie Aigonn zuraunte: „Lass uns beginnen! Ich kann dir helfen und dich dorthin führen, wo wir finden werden, was wir suchen. Aber sei dir bewusst, dass der Erfolg dieser Sache von dir abhängen wird – fast ausschließlich!“
Aigonn nickte.
„Bist du bereit?“
Er nickte abermals.
„Gut. Umfass ihren Schädel mit beiden Händen. Der Kopf war der Sitz ihrer Seele. Er ist der Ort, wo sie ihre Erinnerungen zurückgelassen hat. Du musst versuchen zu fühlen, was geblieben ist!“
Aigonn schloss die Augen. Seine Fingerspitzen zitterten, als sie den Knochen berührten. Solange er nicht hinsah, hätte es auch ein Tierschädel sein können, die Reste eines toten Schafes, das sein Vater geschlachtet und ausgenommen hatte. Der Gedanke widerte ihn an, aber er bewahrte ihn für den Moment vor den immer gleichen Bildern, die sich in seinen Kopf drängen wollten.
„Konzentrier dich! Du darfst nicht versuchen, der Situation zu entfliehen. Sonst hat das alles hier keinen Zweck!“
Er atmete tief durch. Der Kopf seiner Schwester. Mit einem Mal schien Derona ganz nahe zu sein. Die Präsenz ihres Geistes flammte auf, berührte ihn an der Schulter, bevor sie versiegte. Seine Atmung entspannte sich. Aigonn wurde ruhiger.
„Das ist gut so! Nun versuch, ihren Schädel zu spüren, so, als ob er ein Teil von dir wäre. Versuch zu sehen, was sie gesehen hat.“
In diesem Augenblick umfasste die junge Frau sein Fußgelenk mit einer Hand und sandte die ruhige, fließende Kraft aus, die sie in sich trug, die sie umgab. Sie wurde zu einer Stütze, die ihm Stärke verlieh.
Mit jedem Herzschlag wurde sein Atem ruhiger, bis sein Geist ganz langsam das Band zur Wirklichkeit durchtrennte. Die Schwere der Welt fiel von ihm ab. Als würde er über dem Boden schweben, fühlte er nur noch den Schädel in seinen Händen, sonst nichts mehr.
Aigonn öffnete die Augen. Er starrte auf die Gebeine seiner Schwester, versuchte zu sehen; etwas, das geblieben war, einen Funken ihres Geistes.
Plötzlich stürmten Bilder auf ihn ein. Die Wucht schien ihn im ersten Moment zu erschlagen, bis er dem Strom der Erinnerungen die Geschwindigkeit nehmen konnte. Dann sah er das Dorf vor sich. Ein fünfjähriger Junge jagte ein Schaf über die Wiese vor den Palisaden, und Aigonn musste verwundert feststellen, dass er sich selbst beobachtete.
Doch das war es nicht, was er suchte. Die nähere Vergangenheit musste er finden, die letzten Monate aus Deronas Leben. Aigonn versuchte, sich in einem Gewirr aus Bildern, Stimmen und Gefühlen zurechtzufinden, während er immer tiefer in sie hineingezogen wurde.
Auf einmal stand er barfuß im nassen Gras. Regenwolken säumten den Himmel von allen Seiten und sandten steifen Wind durch die Bäume des nahen Waldes. Zwei starke Arme hielten ihn umschlungen. Ihre Wärme ließ ihn erschauern und gab ihm eine Art von Geborgenheit, die Aigonn selbst so nur von seiner Mutter kannte.
Rowilans Gesicht war dem seinen so nah, dass der Atem des Schamanen wie eine Brise über seine Haut strich. Es war nicht der Rowilan, der Aigonn in dieser Nacht erschöpft und ausgezehrt entgegengekommen war, sondern ein junger Mann, kaum zwanzig Jahre alt, mit einem Strahlen in den Augen, das er so von seinem Schamanen nicht kannte.
„Ich glaube, du beschäftigst dich zu sehr damit. Du darfst dich nicht hinreißen lassen, für all diese Seelen Mitleid zu empfinden! Wir sind auch nur Menschen und keine Götter, das wissen sie.“
Rowilans Hand streichelte seinen Rücken. Die Berührung erweckte in ihm ein Gefühl, das Aigonn selbst überrumpelte. Er konnte sich erinnern, dass er so einmal für ein Mädchen empfunden hatte – doch niemals in dieser Stärke, dieser Intensität. Deronas Gefühle überforderten ihn. Es schockierte ihn fast, wie sehr sie Rowilan geliebt hatte und gleichzeitig erschreckte ihn die Situation, denn im Moment hatte er ihre Rolle übernommen.
Doch noch während er sich mit dem Gedanken beschäftigte, wie es sich anfühlte, einen Mann zu lieben, trübte sich dieses Gefühl. Er spürte eine tiefreichende, unterschwellige Angst, fast Panik, die nicht die seine war. Sein Körper versteifte sich. Rowilans Miene verlor einen Funken ihres Strahlens und wurde stattdessen besorgt. Aigonns Lippen zitterten, als er ausstieß:
„Es hat nichts damit zu tun, dass ich mich zu sehr mit den Geistern beschäftige. Sie lassen von mir nicht ab. Sie kommen zu mir, nachts, tagsüber. Sie drängen mir ihre Geschichten auf und flehen mich an, ihnen ein Tor zu öffnen. Dabei kann ich ihnen gar nicht helfen.“
Rowilans Blick wurde finster. Sein Griff um Aigonns Arme, die eigentlich die