Irritiert blickte Aigonn die fremden Männer an. Doch ohne ihm große Erklärungen zu liefern, zerrte einer der Krieger an seinen Fesseln und trieb ihn damit zum Laufen. Die restlichen Männer kreisten ihn ein, als ob sie seine Leibwache bildeten. Nach einer gewissen Zeit aber fragte Aigonn sich, wer in diesem Moment eigentlich vor wem in Schutz genommen werden sollte.
Auf diese Weise durchquerten sie das Heerlager, wie Aigonn nun erkennen konnte, das unweit einer größeren Siedlung gelegen war. Eine niedrige, baumbewachsene Talseite bot dem Domizil von der einen Seite her Schutz, während auf der anderen die Rur wie ein rauschender Grenzwall keinen Feind in Treffweite von Wurfgeschossen heranließ. Wälle mit Palisaden und Pfostenschlitzmauern machten die Ansammlung von Häusern zu einer Festung, die Behlenos wohl niemals hätte einnehmen können.
Aigonn war noch nie zuvor im Machtzentrum des Eichenfürsten gewesen, und er konnte nicht leugnen, dass er beeindruckt war. Die Siedlung der Eichenleute, die er und Anation – kurz nachdem er sie am Grab der Götter gefunden hatte – auf ihrer Rückkehr versehentlicher Weise entdeckt hatten, kam ihm wieder in den Sinn und war begleitet von einem Schuldgefühl, das auf einmal so nicht gekannte Größe erlangte.
Von dort waren die Späher gekommen, sicherlich. Ansonsten hätten die Eichenleute niemals einen so perfekten Angriff landen können. Es war Aigonn schleierhaft, warum außer ihm niemand sonst die Siedlung entdeckt hatte. Doch in diesem Moment war es für solche Spekulationen ohnehin zu spät.
Mit dem Eindruck schwanden gleichzeitig alle letzten Hoffnungen. Anation hatte man hierher verschleppt. Wäre die Siedlung von den Ausmaßen seiner Heimat gewesen, hätte eine Flucht noch im Bereich des Möglichen gelegen. Doch diese Barrieren mit ihren Wachen zu überwinden, schien Aigonn beinahe undenkbar.
Man führte ihn durch das wohl bewachte Haupttor bis tief in die Siedlung hinein. Die einzelnen Ställe und Lehmhäuser unterschieden sich in nichts von denen der Bärenjäger, sondern schienen lediglich mit dem Symbol eines Eichenblattes gebrandmarkt, das auf einmal wie eine Barriere zwischen die beiden Stämme getreten war.
Aigonns Weg endete auf dem großen Marktplatz, dessen Zentrum eine uralte, gewaltige Eiche dominierte. Der gesamte Ort war von allen Seiten mit Fackeln und Feuern erhellt. Eine Menschenmenge, als gelte es ein Gericht zu versammeln, umringte den Ort und öffnete wie von allein eine Gasse für den Eichenmann, der mit seinem Gefangenen vortrat.
Als er endlich das Innere des Platzes einsehen konnte, wurde Aigonn erschreckend deutlich bewusst, wie richtig er mit seiner Vermutung gelegen hatte. Sie befanden sich auf einer Gerichtsversammlung – nicht an den heiligen Orten, wie es üblich war, wenn sich alle Siedlungsangehörigen eines Stammes versammelten, sondern stattdessen direkt auf dem Marktplatz im Zentrum allen Geschehens.
Unweit der Eiche hatte man den ersten Angeklagten postiert. Behlenos wirkte trotz der gut und gern sieben Krieger, die ihn umringten, seine Fesseln hielten und mit gezogenen Lanzen jeglichen Fluchtversuch zum Scheitern verurteilten, weniger mitgenommen, als Aigonn vermutet hatte. Dafür aber hatte der Zorn ihm die Röte ins Gesicht gemalt, dass es fast ungesund wirkte. Die Schnitt- und Platzwunden der Schlacht schienen nebensächlich geworden, während er finster zu Aigonn herübersah und wohl längst nicht aller Wut, die in ihm tobte, freien Lauf lassen konnte. Diplomatische Beschlüsse würde Behlenos an diesem Tag nicht mehr veranlassen können, dies stellte Aigonn in einem Anflug von Selbstironie fest. Der leise Funken Humor aber verflog ebenso schnell, während er eine Gestalt erkannte, die man direkt an den Stamm der Eiche gebunden hatte.
Anation hing an dem Baum, als würde sie schlafen. Ihre Arme hatte man nach oben ausgestreckt an metallene Ösen gebunden, die dort in den Baum getrieben waren, und ihre Füße auf dieselbe Weise fixiert. Sogar Nacken und Taille hatte man mit Stricken gegen den Baum gepresst und dort mit Nägeln befestigt, sodass sie hing wie ein Stück Vieh, das es nun auszuweiden galt.
Die Wut, die Aigonn plötzlich bei diesem Anblick überkam, war unbeschreiblich. Für einen Atemzug überkam ihn der Drang, wie ein Wahnsinniger um sich zu schlagen, sich mit allem zu wehren, das ihm zur Verfügung stand. Doch ebenso schnell fand er die Einsicht, dass er damit weder seine noch Anations Lage merklich aufbessern würde.
Stattdessen nahm er es hin und beäugte sie nur mit einem entsetzten Blick, wobei ihm bei näherem Hinsehen derselbe rote Ocker in ihrem Gesicht und an ihren Händen auffiel, mit dem man auch ihn bemalt hatte.
Fürchten sie uns und unsere Fähigkeiten? Dieser Gedanke beschwor ein grimmiges Lächeln auf seinen Lippen. Die Unwissenheit eines Feindes war auch eine gewisse Macht, die man nutzen konnte; eine Waffe, die in solchen Situationen zur Entfaltung ungeheurer Wirkung in der Lage war. Doch im Moment waren derartige Möglichkeiten für Aigonn zu fern, um sie zu nutzen. Er war nicht in der Lage, seine Fähigkeiten und das Wissen der Eichenleute abzuschätzen, um ein glaubhaftes Szenario zu inszenieren. Und insgeheim war er sich fast sicher, dass auch ein fremder Schamane sein Spiel schnell enttarnen würde.
Man führte Aigonn somit unbehelligt bis zur Wurzel der Eiche ins Zentrum des Geschehens, sodass er Anation auf einmal so nahe war, dass er mit einiger Konzentration ihren bebenden Atem hörte.
Noch immer hatte sie die Augen geschlossen. Ihre Lider zuckten, als hätte sie sich in einen rituellen Rausch versetzt. Aigonn deutete es als ihre eigene Art, die Umstände zu beherrschen und durchzustehen – auch wenn er insgeheim hoffte, dass sie zu Dingen fähig sein würde, die keiner der Anwesenden erahnen konnte.
Jedoch vereinnahmten bald ganz andere Menschen seine Aufmerksamkeit. Die Fesseln an seinen Handgelenken wurden gelöst, nur um sie danach durch zwei stärkere Hanfstricke zu ersetzen, mit welchen man ihn zwischen zwei in den Boden gerammten Pfählen fesselte. Danach nahmen die Eichenkrieger Abstand, beobachteten ihn aus einiger Entfernung, während sich ein Mann gelassen aus der Menge löste.
Schon von weitem war ersichtlich, dass es sich um eine Person von Einfluss handelte. Goldschmuck und ein schwerer Torques, ein Halsring, desselben Metalls waren gut sichtbare Würdezeichen, die von der besonderen Feinheit und reichen Verzierung seines langen Mantels noch einmal unterzeichnet wurden. Kaum eine Schramme verriet, dass dieser Mann an der Schlacht jenes Tages teilgenommen hatte. Jedoch war Aigonn überzeugt davon, dass er unmöglich diesen Triumphzug seines Volkes versäumt hatte.
Als wäre er zu einer Feierlichkeit geladen, schritt der Mann auf den freien Platz vor die Eiche und musterte Aigonn einen Moment lang abschätzig, fast belustigt. Das schwere, reichverzierte Schwert an seiner rechten Seite schätzte Aigonn als eine Waffe ein, die vor allen Dingen einem repräsentativen Zweck diente – und er war froh darüber. Sollte doch das Unmögliche Wirklichkeit werden und sich ihm eine Chance eröffnen, von diesem Gericht zu fliehen, würde sein Richter ihm im Kampf Schwert gegen Schwert benachteiligt sein. Doch ein Schwert musste Aigonn erst einmal erreichen können.
Ihm blieb keine Zeit mehr, sich über derlei Dinge den Kopf zu zerbrechen. Jener einflussreiche Mann hatte seine Musterung beendet und meldete sich lächelnd zu Wort: „So, so. Du bist der besagte Geisterbeschwörer, den selbst sein eigener Fürst genügend fürchtet, um ihn unter Bewachung zu stellen.“
Aigonn traute seinen Ohren nicht.
„Du bist überrascht?“ Der Mann lachte selbstgefällig. „Nun, ich weiß mehr, als du glaubst. Immerhin zähle ich mich zu den Menschen, die all ihre Kriege angemessen planen, bevor sie sich ins wilde Schlachtengetümmel stürzen.“
Dieser Stich ging an Behlenos und er traf. Der Fürst der Bärenjäger gab einen unverständlichen Grunzlaut von sich, der seine Missachtung preisgab. Dann spuckte er aus: „Du solltest dich nicht zu früh freuen!“ Weiter kam er jedoch nicht. Ein Schlag in seinen Rücken brachte den Fürsten jäh zum Verstummen.
Der Eichenmann für seinen Teil überging die Unterbrechung ohne ein Anzeichen des Wahrnehmens und erkundete stattdessen Aigonns Miene. „Weißt du, wer ich bin, Aigonn?“
„Nein.“ Es war die pure Wahrheit, und Aigonn schämte