Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle. Astrid Rauner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Rauner
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Von keltischer Götterdämmerung
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783862827732
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den Wehrgang der Palisaden schnell erreicht hatten. Auf dem Weg dorthin hatte Aigonn aus dem Haus seiner Eltern eine eiserne Hacke mit sich genommen, die ihnen helfen würde, die Erde des Grabhügels zu lockern. Die junge Frau warf einen prüfenden Blick zwischen den angespitzten Holzpfählen hindurch und reckte sich so weit sie konnte, bis sie fragte: „Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich hinunterspringen und bleibe unversehrt. Was ist mit dir? Du bist verletzt! Sollen wir ein Seil holen?“

      „Das dauert zu lange. Wir haben nicht die Zeit, hier ein Seil zu befestigen, ohne dass uns die Wachen bemerken. Geh einfach vor!“

      Die Dunkelheit hatte die junge Frau in eine schwarze Silhouette verwandelt, aber er spürte trotzdem, dass sie ihn skeptisch beäugte. „Du musst es wissen“, erwiderte sie nur. Dann ließ sie sich von Aigonn vorsichtig über die Palisaden heben und suchte zwischen den Pfahlspitzen Halt für ihre Hände.

      Lhenia war ein zierliches Mädchen gewesen. Trotzdem spürte Aigonn ihr Gewicht auf seine lädierten Rippen drücken, als hätte er einen erwachsenen Mann hochgehoben. In diesem Moment war er nicht mehr so sicher, ob er den Sprung aus gut und gern dreizehn Fuß Höhe wagen sollte. Doch ihm blieb keine Wahl.

      Es dauerte nur wenige Herzschläge, bis die junge Frau sich von den Palisaden abgestoßen hatte, sich drehte, jedoch etwas plump am Rand des Grabens aufkam, der die Verteidigungsanlage umsäumte. Nun war Aigonn an der Reihe.

      Die Hacke warf er als erstes hinab. Es fiel ihm nicht leicht, mit nur einem Arm Halt zwischen den angespitzten Baumstämmen zu finden. Als er feststellen musste, dass er sich kaum wie die junge Frau erst hängen lassen und dann abstoßen konnte, da ein Arm allein unmöglich sein ganzes Gewicht zu tragen vermochte, entschloss er sich für den kurzen, schnellen Weg. Aigonn dachte nicht darüber nach, wie schmerzhaft es sein würde. Er nahm zwei Schritte Anlauf, stemmte sich mit aller Kraft auf die Palisaden und schwang seinen Körper schließlich mit voller Wucht darüber.

      Die Schmerzen zermarterten ihn nicht, wie er zuerst geglaubt hatte, sondern wirkten augenblicklich betäubend. Er konnte nicht sagen, wie lange es dauerte, bis das Gesicht der jungen Frau wieder klar vor seinen Augen erschien. Doch er lag halb im Graben, halb auf der Wiese. Der Schmerz in seiner gebrochenen Rippe schien seinen Brustkorb auseinander zu reißen. Er schmeckte die Galle bereits im Mund, ungeachtet des verletzten Armes, der nun nicht weniger schmerzte.

      Die junge Frau gab ihm noch einen Moment Zeit, dann fragte sie: „Kannst du aufstehen?“

      „Ich kann es versuchen.“ Es schockierte Aigonn, wie tonlos seine Stimme klang. Der Schwindel hatte noch nicht von ihm abgelassen, als er sich mit Hilfe der jungen Frau wieder auf die Beine hievte. Dann schüttelte er ihre Hand von sich ab und versuchte, sich so gut wie möglich auf den Weg zu konzentrieren, der vor ihm lag.

      Die Totenaue lag ein Stück von der Siedlung entfernt hinter einem lichten Stück Wald. Auf dem Hinweg musste Aigonn sich mehrfach hinsetzen, innehalten, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. Er erinnerte sich daran, dass er diesen Weg schon einmal in einem viel schlechteren Zustand hinter sich gebracht hatte. Doch trotz allem erschien ihm die kurze Strecke dieses Mal fast unüberwindbar. Die junge Frau hatte ihn schon zweimal gefragt, ob sie nicht lieber umkehren und noch einige Tage warten wollten. Beim zweiten Mal aber hatte Aigonn sie so unwirsch zurückgewiesen, dass sie seitdem schwieg und ihn lediglich mit nachdenklichen Blicken beäugte. Das glaubte er zumindest.

      Die Nacht war stockfinster. Gewitterwolken hatten das Firmament überzogen und erstickten jegliches Licht, das der Mond hätte spenden können. Aigonn hatte mit einem Feuerstein eine Fackel entzündet. Deren spärliche, zuckende Flamme verwandelte den Weg über die Wiese aber mehr in einen grotesken Wachtraum, als dass sie eine wirkliche Hilfe darstellte.

      Als der Boden unter ihren Füßen endlich feuchter wurde, wusste Aigonn schon lange, dass sie die Totenaue erreicht hatten. Die Zeit schien in diesem winzigen Ort zwischen Bäumen und Sträuchern eingefroren. Episoden und Geschichten hatten den Lauf der Vergänglichkeit verlassen und waren unsterblich geworden – in dem Moment, da man die vielen Toten zu Grabe getragen hatte.

      Es schauerte Aigonn, als die ersten Silhouetten der Grabhügel in der Dunkelheit erschienen. Stimmen umgaben diesen Ort, vergessene Erinnerungen der Menschen, die längst den Weg der Sterblichen gegangen waren. Zum ersten Mal wurde Aigonn die Bedeutung der Worte bewusst, als die junge Frau von zurückgelassenen Erinnerungen gesprochen hatte. Das Gräberfeld war erfüllt von ihnen. Aigonn schwankte zwischen Beklemmung und Faszination, während er diesen Ort, der zu seinem Leben gehörte wie das Dorf und seine Familie, zum ersten Mal mit ganz anderen Augen sah.

      Der leichte Geruch von Moder verriet schließlich den See, der ein baldiges Ende ihres Weges verhieß. Aigonn fluchte lauthals, als er eine der unzähligen Wasserpfützen in Ufernähe übersah und bis zu den Waden im Schlamm versank. Doch er bremste sich ebenso schnell wieder, wie ihm die Worte entkommen waren. Die Stille des Ortes hatte fast etwas Plastisches. Sie schien ein zerbrechliches Gebilde zu sein, das mit jedem unbedachten Laut, jedem Ausruf klirrend in Dutzende Scherben zersprang.

      Schließlich, keiner der beiden konnte recht einschätzen, wie viel Zeit vergangen war, verloren Aigonns Schritte an Geschwindigkeit. Die Schwärze der Nacht hatte ihn fast blind gemacht, die Fackel war erloschen und die Totenaue verschmolz schwarz und schemenhaft mit dem angrenzenden Wald. Diesen Grabhügel aber, abseits der Ruhestatt seiner Sippe errichtet, hätte Aigonn wohl mit verbundenen Augen gefunden. Wie von selbst waren seine Füße den Weg gegangen, den er oft zu meiden versucht hatte. Er entsann sich, wie selten er im Grunde seine Schwester besucht hatte. Zweimal vielleicht war er an ihr Grab gekommen – dann, wenn sein Gewissen ihn lange genug gequält hatte. Jahrelang hatte er sie, ihren unglücklichen Tod und all das Verderben, das er mit sich gebracht hatte, vergessen wollen, sie aus seinem Leben streichen wollen. Doch Derona war keine Legende, die verschwand, wenn man aufhörte, sie zu erzählen.

      Ihr Grab lag nun vor ihm, als ob es all die Jahre auf ihn gewartet hätte. Fast einladend hatte ein Holunder des Waldrandes den mannshohen Hügel umrahmt. Seine letzten weißen Blüten schienen erlöschende Sterne in der Dunkelheit zu sein.

      „Das ist es“, sagte Aigonn knapp. Das Gras schien nach seinen Beinen zu langen, ihn festzuhalten, seine Füße schienen Wurzeln zu schlagen. Hier, wo die Vergangenheit auf ihn wartete, hatte die Gegenwart keine Macht. Das Verlangen in seinem Kopf, einfach panisch davonzurennen, wurde einen Herzschlag lang übermächtig, doch dann erlosch es. Aigonns Geist war taub geworden. Er wartete lediglich darauf, dass die junge Frau ihm ein Zeichen gab.

      Sie stand vier Schritte von Aigonn entfernt, dort, wo sich die einzige heute noch logisch erscheinende Stelle für einen Zugang zur Grabkammer befand. Sie musterte den Ort einen Augenblick schweigend, bevor Aigonn sie fragen hörte: „Sind die Grabhügel hinter uns in den vergangenen Jahren hinzugekommen?“

      „Nein. Es sind die ältesten Hügel der ganzen Aue. Sie haben Derona zwischen unseren Vorfahren begraben, weil sie glaubten, deren Geister könnten sie am ehesten davon abhalten, aus der Anderen Welt zurückzukehren, um das Dorf zu tyrannisieren.“

      Ein witzloses Lachen war aus der Dunkelheit zu hören. Ihre Stimme klang abwesend, als die junge Frau sagte: „Die Grenze zur Anderen Welt ist hier dünn. Warum baut man eine Siedlung in die Nähe eines solchen Ortes?“

      Ihre Worte waren keine echte Frage, denn sie spürte wohl, dass auch Aigonn darauf keine Antwort wusste. Eine kurze Zeit hielt sie noch inne, dann nahm sie Aigonn die Hacke aus der Hand und begann, die Erde auf der Seite des Grabhügels zu lockern, die dem Wald am entferntesten war.

      Aigonn versuchte, seine Herzschläge zu zählen, doch nach wenigen dreißig gab er es auf. Als die junge Frau nach einer geraumen Zeit immer noch kaum vorangekommen war, nahm er ihr die Hacke aus der Hand und bemühte sich, trotz seines verletzten Arms, die Grabkammer freizulegen.

      Es schien Tage zu dauern, bis sie endlich auf eine Trockenmauer trafen. Aigonn befürchtete, bereits den Morgen grauen zu sehen. Doch die Wolkendecke ließ eine Zeitmessung nicht zu.

      Die Beklommenheit, die seit dem Betreten der Totenaue alles in ihm bestimmte, verstärkte sich, als er mit spitzen Fingern die Steine zu lockern versuchte. Es gelang ihm schlecht. Er musste zweimal