„Was ist? Wer sind diese Leute?“
„Eichenkrieger. Diejenigen, vor denen du uns gerettet hast, als du in diese Welt zurückgekehrt bist.“
Auf einmal wandte einer der Männer seinen Kopf in ihre Richtung. Aigonn schnellte ins Dickicht, so leise wie möglich, doch das verräterische Knacken einiger Äste erschien selbst ihm wie ein Donnerschlag durch den Wald zu hallen. Für einen Moment wagte weder er noch Anation zu atmen. Er hörte die Eichenmänner einige Worte wechseln, die er nicht verstehen konnte. Schritte näherten sich ihnen. Schon nach kurzer Zeit aber kehrten sie um und verklangen auf einem von Sträuchern unbedeckten Stück Boden.
Erleichtert atmete Aigonn aus. Eine kurze Zeit lauschte er in das Dickicht, um sicher zu gehen, dass sie genügend Abstand gewonnen hatten, dann flüsterte er Anation zu: „Die sind bestimmt nicht alleine hier. Das kann nichts Gutes heißen. Wenn sie über die Späher von ihrem toten Stammesgenossen in unserer Siedlung erfahren haben, werden sie das Dorf bis zum Abend in Schutt und Asche legen!“
Entsetzt blickte Anation auf: „Habt ihr denn keine Krieger mehr? Es muss doch in dieser Nähe andere Siedlungen von eurem Stamm geben?“
„Gibt es, ja.“ Aigonn grinste witzlos. „Wir brauchen einen Tag, um sie zu erreichen. Die Krieger, die ihnen geblieben sind, könnten unserer Seite bis zur späten Nacht hin einen geringen Vorteil verschaffen – sollten wir solange ausharren. Behlenos hat die verbliebenen Männer nach der Schlacht heimgeschickt und zunächst sämtliche Späherposten abgezogen, damit sie die Siedlung vor Ort schützen können. Hätte er dies unterlassen, wären die Eichenleute uns nie so nahe gekommen. Doch es ist ja egal. Selbst wenn wir die anderen Krieger erreichen können, bleiben uns die Eichenleute mehr als überlegen. Daran lässt sich nichts ändern.“
„Heißt das, jetzt ist alles verloren?“ Anation war fassungslos. Aus ihren Augen konnte Aigonn dieselbe Bestürzung lesen, die auch er empfunden hatte, als Behlenos von seinen Verteidigungsstrategien berichtet hatte. Ihr Fürst war kein Mann des Krieges, das wusste Aigonn schon lange. Doch niemals zuvor hatte er das Resultat seines Fehlers, sich einzig und allein auf verstreute, übernächtigte Späher zu verlassen, so plastisch vor Augen gesehen.
Der Druck, keinen Laut von sich zu geben, zwang Aigonn regelrecht dazu, auf seinen Lippen zu kauen, während er angestrengt durch das Dickicht spähte. Viel tat sich nicht. Die Krieger schienen von anderer Stelle auf neue Befehle zu warten und vertrieben sich bis dahin die Zeit.
Erst, als er Blut im Mund schmeckte, flüsterte Aigonn: „Unser einziger Vorteil ist die Wehranlage. Wenn sie noch länger auf Anweisungen warten, bleibt uns vielleicht genügend Zeit, die Siedlung zu warnen.“
„Und wenn diese Männer nur Kundschafter sind?“
Aigonn zog zweifelnd eine Braue in die Höhe. „Schwer bewaffnet? Mit den heiligen Zeichen ihrer Ahnen bemalt und gesegnet? Ganz bestimmt nicht.“
Damit gab Anation ihre letzte Hoffnung auf. Sie wartete, bis Aigonn nach allen Seiten Ausschau gehalten hatte. Dann berührte er sie sacht am Arm und tastete sich rückwärts durch das Dickicht, immer die Krieger im Auge. Sein Herz schien seinen Schädel zum Zerplatzen zu bringen. Er wagte kaum, Atem zu holen, tastete sich mit einer fast unerträglichen Langsamkeit rückwärts, während er das Blut in den Ohren pochen hörte.
Vier Schritte, dann würde eine Wand aus Sträuchern schützende Deckung bieten. Einer der Eichenkrieger hatte munter die Stimme erhoben, während er blind in die Richtung der beiden Flüchtigen lief. Drei Schritte. Äste knackten unter seinen Füßen. Noch hatte er den Blick nach hinten gewandt, war mit einem der Krieger in ein Gespräch vertieft, während er eine große Farnpflanze niedertrat. Zwei Schritte. Ein niedriger Brombeerstrauch versperrte dem Eichenmann den Weg. Unwirsch wandte er sein Gesicht nach vorn, befreite ein Lederband seines Gürtels aus den Dornen, sah sich nach beiden Seiten um, prüfte, ob der Ort seinen Ansprüchen gerecht wurde.
Ein Schritt. Dann knackte es. Aigonn schien es, als würde sein Herz aufhören zu schlagen, als der Eichenmann ruckartig aufsah. Es dauerte keinen Herzschlag, ein schriller Schrei gellte durch den Wald. Dann blieb ihm keine Zeit mehr, um nachzudenken.
Aigonn hetzte los. Er konnte Anation gerade noch am Arm packen, als dieser beinahe der Sprung über eine Erdgrube misslungen wäre. Wie von allen Dämonen seiner Welt verfolgt, jagte er durch den Wald, mitten durch das Dickicht. Unzählige Äste verfingen sich in seiner Kleidung, seinen Haaren, Aigonn hatte gar nicht den Sinn, auf diese Dinge zu achten. Das Trommeln seines Herzens übertönte jegliche Geräusche, während er wie blind durch Sträucher und Büsche rannte, ohne auch nur ein einziges Mal nach hinten zu sehen.
Irgendwo, wie in unendlicher Ferne, waren die Hufschläge eines Pferdes zu hören. Ihre Verfolger ritten zu Pferd. Aigonn hätte aufschreien können! Ihr letzter Vorteil blieb die Unwegsamkeit des Dickichts. Sie mussten nur schnell genug zum Waldrand gelangen.
Plötzlich hallten weitere Schreie zwischen den Bäumen hindurch. Einer Stimme antworteten Dutzende, Hunderte, Tausende. Ihr Echo klang so laut, dass niemand mehr zu sagen vermochte, wie viele Männer soeben den Ruf ihres Anführers vernommen hatten. Doch im Grunde kümmerte Aigonn dies nicht. Es war die Tatsache, dass der Angriff längst begonnen hatte, die Panik weckte.
Er überhörte bereits sein eigenes Keuchen, als endlich der Waldrand in Sicht kam. Voller Entsetzen sah Aigonn einen Strom aus Kriegern von allen Seiten aus dem Wald herausbrechen. Die Wucht des Krieges und die Gewissheit auf den Sieg hatten den Eichenleuten schier übermenschliche Kräfte verliehen. Vielleicht dreißig Fuß zu seiner Rechten entfernt preschte ein Trupp Reiter zwischen den Bäumen hervor. Doch ihn beachteten sie nicht. Sie hatten ein Ziel, waren fixiert darauf, diesen einen Angriff zu landen, der ihnen befohlen worden war.
Als wäre er noch in der Lage, irgendetwas zu ändern, versuchte Aigonn, ein weiteres Mal zu beschleunigen. Schmerz und Erschöpfung machten sich in ihm breit. Mit aller Kraft stürmte er über Sträucher und Wurzeln, sah die letzten Bäume immer näher rücken, dann ließen seine Kräfte nach.
Der Schmerz durchfuhr ihn so dumpf und heftig, dass Aigonn den Schrei nicht bei sich behalten konnte. Röchelnd kam er wieder zu Atem, das Gesicht schmerzverzerrt und so verdreckt, dass er im ersten Moment kaum die Augen aufschlagen konnte.
Sein ganzer Körper zitterte, als er sich die Erdkrumen und Blätterreste von der Wange wischte. Jede Bewegung erschuf krampfartigen Schmerz. Es brauchte mehrere Ansätze, bis er sich umdrehen konnte, nach hinten sah und die hochstehende Wurzel erblickte, für welche sein letzter Sprung zu niedrig gewesen war. Irgendwann, mit gut dreißig Schritten Abstand, hetzte schließlich Anation zwischen den Bäumen hervor. Er wollte bereits wieder aufspringen, doch die Schmerzen raubten ihm jeglichen Atem. Die Muskeln hatten über seiner gebrochenen Rippe zu pochen begonnen. Sie fügten sich ein in das gleichmäßige Reißen, das von seiner linken Ferse aus die Wade hinaufstrahlte.
Ein namenloser Fluch entkam Aigonns Lippen. Die Wurzel, die ihn zum Stürzen gebracht hatte, traf all seine Wut, während er mit dem unverletzten Bein dagegen trat. Doch wie um ihn zu verhöhnen, rührte sie sich kaum und schwang immer wieder, bei jeder kleinen Bewegung, in ihre ursprüngliche Stellung zurück. Verzweifelt versuchte Aigonn, sich auf die Beine zu rappeln, aber sein Körper gehorchte seinem Willen nicht mehr.
Als es ihm endlich gelungen war, wackeligen Halt auf dem verletzten Bein zu finden, zogen ihn auf einmal zwei Hände zum Boden zurück. Vor lauter Wut hätte er beinahe nach hinten ausgetreten, doch als er Anation erkannte, bremste er sich und brüllte stattdessen nur: „LASS MICH! ICH MUSS ZUM DORF ZURÜCK, ZU MEINEN LEUTEN! SIE WERDEN SIE ALLE UMBRINGEN, DIESE MISTKERLE, DIESE …“
„BLEIB STILL, DU WAHNSINNIGER!“ Sie presste ihn mit voller Kraft auf den Boden zurück. Aigonn wehrte sich wie ein Besessener. Nur mit Mühe gelang es Anation, seine Abwehr zu durchbrechen. Mit bebendem Atem beschwor sie ihn: „Du kannst nichts mehr tun. Die Entscheidung der Schlacht liegt allein in den Händen deines Stammes und ihrer Fähigkeit, dieses Dorf mit seinen Palisaden lange genug zu verteidigen. Es wird ihnen keine Hilfe sein, wenn du dich jetzt heroisch in den Tod stürzt!“
Aigonn hatte innegehalten.