Sein Gesicht versteinerte, indes seine Augen um Hilfe schrien.
Ich breitete meine Arme aus. Er zögerte kurz, dann ließ er sich hineinfallen und wir hielten uns minutenlang umschlungen.
Plötzlich spürte ich Tränen auf meine Schulter tropfen.
Es war das erste Mal nach Sofias Geburt, dass wir uns liebten, Zoe.
„Vielleicht“, murmelte er in seinem befriedigten Zustand, vielleicht, mein Herz, war es ein Fehler, dass wir das sichere Nest deines Vaters verließen; vielleicht wäre es besser gewesen, sich in die Verbannung schicken zu lassen; vielleicht …“
Wütend unterbrach ich ihn: „Wäre es auch besser gewesen, man hätte uns unserer Sofia vorzeitig beraubt? Du scheinst vergessen zu haben, dass mein Bruder sie mir hat aus dem Mutterleib reißen wollen. Und nicht nur sie, auch dich wollte er mir entreißen, Dorin. Wir wären auf immer getrennt gewesen. Wäre auch das besser gewesen? Willst du mir das damit sagen? Liebst du mich denn gar nicht mehr? So kommt es mir zuweilen jedenfalls vor.“
Die Antwort bestand aus Tränen, vermengt mit leidenschaftlichen Küssen.
Wodurch sind wir nur so unglücklich geworden, Zoe? Ich weiß es einfach nicht.
17. Mai 1893
Liebe Zoe,
mittlerweile freue ich mich auf die Tage bei Frau Anca, wie ich Madame Vianu inzwischen nennen darf, und habe sie deshalb auf zweimal wöchentlich erhöht. Sie lenken mich bestens von meinen düsteren Gedanken ab. Der anschließende Plausch mit Maria in der Küche tut mir ebenfalls gut.
Allerdings weiß ich nicht, ob ich die Beziehungen zum Hause Vianu fortsetzen kann, ob ich dort in Kürze überhaupt noch geduldet bin.
Dr. Vianu kam letzte Woche früher aus seiner Praxis nach Hause. Er sei froh, mich noch anzutreffen. Er wirkte verlegen, was zu seinem sonst so souveränen Auftreten kaum passen wollte. Er müsse mich dringend unter vier Augen sprechen.
Damit führte er mich am Arm in sein Arbeitszimmer, was die Dringlichkeit seines Anliegens noch deutlicher machte. Was er mir dort eröffnete, Zoe, brachte den Boden unter meinen Füßen ins Wanken. Ob wir sehr hoch verschuldet seien, forderte er zu wissen. Falls dies so sei, wolle er uns gerne unter die Arme greifen, denn er könne es nicht ertragen mit anzusehen, wie eine junge, hoffnungsvolle Familie sich in den Abgrund stürze. Es müsse doch möglich sein, auf anständigem Wege …
Wovon er überhaupt spreche? Wir hätten keine Schulden. Im Gegenteil, wir seien endlich auf einem aufsteigenden Ast. Die Zeiten der Not lägen hinter uns. Mein Mann arbeite viel und verdiene gut, sodass wir uns inzwischen hätten ordentlich einrichten können.
Ich wisse aber schon, womit mein Gatte seine Brötchen verdiene?
Mag sein, antwortete ich ihm fest, dass es in den Augen der Öffentlichkeit kein ehrbarer Beruf ist, aber einer, der notwendig sei. Irgendwer müsse die Toten derart herrichten, dass die Angehörigen in Frieden von ihnen Abschied nehmen könnten, insbesondere wenn sie durch Unfälle furchtbar entstellt –
Madame Popescu, unterbrach er mich, wie er sehe, sei ich keineswegs im Bilde. Er hüstelte und wusste anscheinend nicht, wie er fortfahren sollte.
Er brauche keine Rücksicht auf mein weibliches Gemüt zu nehmen, ich sei es gewöhnt, die Dinge beim Namen genannt zu bekommen.
Daraufhin setzte er mich davon in Kenntnis, dass Dorin Leichen für illegale Forschungen zur Verfügung stelle; den Verstorbenen würden vor der Beisetzung Organe entnommen, die durch Lumpen ersetzt würden; Tote, die bereits ein christliches Begräbnis erfahren hätten, würden nach Erteilung der heiligen Sakramente wieder ausgegraben, um –
Was er da rede?, entfuhr es mir heftiger als gewollt. Wolle er meinen Mann etwa der Leichenfledderei beschuldigen?
Ich hatte mich brüsk von dem Besucherstuhl erhoben, den er mir angeboten hatte.
Ich möge mich bitte beruhigen. Er habe lange gezögert, mich auf dieses überaus heikle Thema anzusprechen, doch es gingen schon seit Längerem Gerüchte, die sich immer mehr erhärten würden. Es seien bereits Ermittlungen gegen das Institut, für das mein Mann arbeite, eingeleitet worden. Er selbst sei kürzlich von einem Kollegen angesprochen worden, der wisse, dass ich regelmäßig bei ihnen verkehrte. Dieser habe ihn gewarnt, dass unter diesen Umständen der gesellschaftliche Umgang mit mir ein schlechtes Bild auf sein Haus werfe.
Wie bitte? Wer so etwas sage? Und warum?
So sei nun einmal der Stand der Dinge. Solchen Skandalen gingen, wie ich gewiss wisse, stets wilde Spekulationen voraus. Er habe keineswegs die Absicht, mich seines Hauses zu verweisen, das liege ihm fern, aber er sehe es als seine Pflicht an, mich von den Vorgängen zu unterrichten. Ich möge verzeihen, dass er sich nicht direkt an meinen Gatten wende, doch sei ihm dieser leider noch nicht vorgestellt worden.
Und nun? Was soll ich nun tun, Zoe? Ich traue mich noch nicht einmal, Dorin mit diesen ungeheuerlichen Anschuldigungen zu konfrontieren. Kaum auszudenken, wie er darauf reagieren würde.
Ach, in was sind wir da nur hineingeraten? Am liebsten würde ich fort. Fort aus dieser Stadt. Fort von allem.
19. Mai 1893
Liebe Zoe,
Dr. Vianu hatte mit seiner Vermutung recht! Wir sind tatsächlich hoch verschuldet. Dorin hatte seinen Rock nachlässig über den Sessel geworfen, als er kurz nach Mitternacht nach Hause gekommen war. Als ich zu frühmorgendlicher Stunde Sofia die Brust gab, bemerkte ich ein Stück Papier auf dem Boden liegen. Es muss ihm aus der Rocktasche gefallen sein. Ich hob es auf und erkannte einen Schuldschein!
Beim Frühstück habe ich Dorin darauf angesprochen, denn wenn ich jetzt nichts sage, obwohl ich darum weiß, mache ich mich mitschuldig. Schließlich trage auch ich Verantwortung für unser Leben. Er kann sich nicht einfach darauf berufen, dass es allein seine Angelegenheit sei, wenn er im Schuldengefängnis landet und Frau und Kind ihrem Schicksal überlassen muss.
Genau das entgegnete ich ihm, als er mir ausweichen wollte.
Ich solle nicht gleich alles dramatisieren, es sei nur eine vorübergehende Flaute, er habe sich etwas verspekuliert.
Verspekuliert?! Sei er unverhofft an Kapital geraten, dass er jetzt sogar schon an der Börse spekuliere? Oder wie hätte ich das zu verstehen?
So ähnlich. Er habe sich etwas Geld geliehen, in der Hoffnung, dies klug einsetzen und vermehren zu können. Er habe einen sicheren Tipp bekommen.
Du hast also Spielschulden, stellte ich ungläubig fest. Du trägst dein sauer Verdientes allabendlich ins Kasino und verspielst unser Leben? Antworte! Ist es das, was du tust?
Er wurde höchst ärgerlich und wiegelte ab. Ich hätte keine Ahnung von diesen Dingen und solle ohne Sorge sein, er würde den Schuldschein in den nächsten Tagen schon auslösen.
Indem du Leichen ausbuddelst und verkaufst?
Ich hatte es nur geflüstert, weil der ungeheuerliche Verdacht, der sich bei mir seit Tagen als unerträglicher Gedanke eingenistet hatte, immer mehr Gestalt annahm.
Dorin erstarrte. Er wusste anscheinend nicht, wie er darauf reagieren sollte, deshalb reagierte er gar nicht. Schließlich erhob er sich vom Frühstückstisch und starrte aus dem Fenster. Sekundenlang, minutenlang. Dann wandte er sich zu mir um. Er müsse los. Nach einem flüchtigen Kuss auf die Wange lief er einfach aus der Wohnung.
Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, brach ich in Tränen aus. Es ist also wahr! Die Gerüchte sind wahr. Dorin hatte noch nicht einmal den Versuch unternommen, sie zu dementieren. Ich weiß nicht, ob dies von Größe oder Kleinmut zeugt, ob es Stärke oder Schwäche ist.
Ich bin verzweifelt, Zoe. Wieder einmal. Das Leben an Dorins Seite lässt mich verzweifeln. Ich suche nach einem Rettungsanker, während die Flut uns immer weiter auseinandertreibt. Aber ich finde keinen.