Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Er wird von mir abprallen. Denn ich bin es tatsächlich – ohne Sünde.
14. März 1893
Liebe Zoe,
der Winter will einfach nicht weichen. Noch immer herrscht klirrende Kälte dort draußen. Seit Wochen hocke ich am fremden Ofen mit unserer kleinen Sofia, wie wir Krümelchen genannt haben. Sie lässt Dorin und mich jeden Tag aufs Neue staunen über das Wunder, das wir vollbracht haben, und hält uns am Leben.
Die Geburt war ohne Komplikationen, aber unerträglich lang. Sofia hat sich geziert. „Es wird ein Mädchen“, ahnte Dorin, „die müssen sich erst einmal hübsch machen, bevor sie vor die Tür treten.“
Woher nimmt er nur solche Großmutter-Weisheiten?
Dorin war die beste Hebamme, die ich mir hätte wünschen können, obwohl ich ihn fürchterlich gequält habe. Mehr als einmal musste er mir den Mund zuhalten, damit meine Flüche nicht unser kommendes Kind treffen. Zum Dank habe ich ihm in die Hand gebissen, sobald er sie fortgezogen hat. Auch habe ich unter den Wehen nach ihm geschlagen.
Die alte Vettel stand wutschnaubend in der Tür. Wir sollten gefälligst ins Geburtshaus gehen, wozu gäbe es diese wohl. Das habe man nun davon, dass man unzivilisiertes Volk bei sich aufnehme. Das sei der Dank für ihre Gutmütigkeit. Wir würden ihr noch die anderen Mieter vergraulen. Erst monatelang dieses Gestöhne, jetzt stundenlang dieses Geschreie …
Da wurde es Dorin zu bunt. Schämen solle sie sich!
„Schämen? Ich?? Auf die Straße setze ich euch! Sobald das Kind da ist, könnt ihr sehn, wo ihr abbleibt! Unverschämtheit!“
Eine Unverschämtheit sei vielmehr, konterte Dorin, dass sie an den Wänden horche, seine Frau ihrer Herkunft wegen beleidige und vor allem, dass sie für diese Drecksbude auch noch Geld verlange. Damit hatte er ihr die Tür vor der Nase zugeknallt.
„Morgen seid ihr draußen, mit Sack und Pack!“, hörten wir sie hinter der geschlossenen Tür keifen.
Wut und Verzweiflung ob dieser unfassbaren Herzlosigkeit hatten sämtliche Kräfte in mir gebündelt. Mit einer allerletzten gewaltigen Anstrengung habe ich unser Kind in diese Welt gedrückt. Doch statt vor Erleichterung und Freude zu weinen, weinte ich vor Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit und schämte mich schrecklich deswegen. Dorin musste sich allein um alles kümmern, nachdem ich völlig entkräftet in meine Kissen gesunken war; unser Kindchen von mir entbinden, es waschen und wickeln und mir an die Brust legen.
„Schau doch nur, Taliţa! Schau das Wunder, das du vollbracht hast. Schau, wie hübsch unser Kind ist. Und hab ich’s nicht gesagt? Ein Mädchen!“
Dem stolzen und überglücklichen Vater rannen die Tränen über die Wangen. Verzagt schaute ich zu ihm auf.
„Nur das ist es, was zählt, mein Herz“, sagte er. „Lass die alte Vettel reden, sie ist nur neidisch auf deine Jugend und Schönheit. Und darauf, dass du geliebt wirst. Von mir, und nun auch von unserem Krümel. Schau, wie kräftig ihre Fäustchen durch die Luft rudern und wie gierig ihr Mündchen nach deiner Brustwarze schnappt! Lass sie einen Augenblick saugen, dann gib sie mir, damit du dich ausruhen kannst. Und mach dir keine Sorgen, mein Herz. Wir werden schon irgendwie über die Runden kommen.“
Seine Zuversicht tat mir gut. Mir kam es so vor, als hätten wir die Rollen getauscht. Vorher war ich diejenige, die ihm Mut zusprechen musste. Jetzt war er der Stärkere von uns beiden. Und doch huschte ein kummervoller Zug über sein Antlitz, wenn er sich unbeobachtet glaubte.
Die alte Vettel hat ihre Drohung tatsächlich wahr gemacht, Zoe. Gleich am nächsten Tag hat sie uns die Kündigung unter der Tür durchgeschoben: wir hätten binnen vierundzwanzig Stunden die Wohnung zu räumen!
Die paar Habseligkeiten zusammenzukramen war nicht der Rede wert, nur wo sollten wir hin? „Zu Manuel und Ileana“, sagte Dorin. „Sie werden uns gewiss für ein paar Tage bei sich aufnehmen, bis wir etwas anderes gefunden haben.“
„Und wovon sollen wir etwas anderes bezahlen? Die im Voraus bezahlte Februarmiete wird uns das alte Weib bestimmt nicht anteilig erstatten. Sie hat durchblicken lassen, dass sie davon eine neue Matratze wird kaufen müssen.“
Entmutigt ließ ich die Schultern hängen.
„Das sehen wir dann, Taliţa. Erst einmal gehörst du ins Wochenbett.“
Natürlich stellten uns Ileana und Manuel ihren Diwan zur Verfügung. Aber auch ihre Wohnung ist klein, wenn auch etwas heller und besser ausgestattet. Ileana kümmert sich rührend um mich und Sofia. Sie hält den Ofen am Brennen, hilft mir das Kindchen zu versorgen und beim Wäschewechsel, kocht und backt, wäscht und wischt. Wir sind zum Mittelpunkt ihres Familienlebens geworden. Doch ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein eigenes Heim und komme mir furchtbar undankbar vor. Wir leben auf ihre Kosten, obwohl sie doch selbst so wenig zum Leben haben. Oft muss ich aus heiterem Himmel weinen, sodass ihrer kleinen Oana ebenfalls die Tränen kommen und sie nach dem Schürzenband ihrer Mutter greift.
„Dorin, mein Liebster“, sprach ich zu ihm nach zwei Wochen unter fremdem Dach, „bringe uns hier raus, ich bitte dich! Ich mag den Romanescus nicht länger zur Last fallen. Es sind herzensgute Leute, nur …“
„Ich weiß, mein Herz“, tröstete er mich, „ich arbeite daran. Spätestens nächste Woche, du wirst schon sehen.“
Aber ich sehe noch immer nicht, Zoe. Unterdessen wird Dorin immer blasser und stiller.
29. März 1893
Liebe Zoe,
am Ende der vierten Woche bei den Romanescus bat ich Ileana, nach Sofia zu sehen, nachdem ich sie gestillt hatte. Ich hätte etwas zu erledigen. Zunächst wollte sie mich nicht gehen lassen, es sei noch zu früh, dass ich vor die Tür ginge, und überdies viel zu kalt. Wohin ich denn überhaupt wolle?
Da hatte ich mir bereits meinen Mantel geschnappt, das Wolltuch um meinen Kopf geschlungen und war zur Tür hinaus. Ein frostiger Wind griff mit eisigen Pranken nach mir und zerrte mich hin und her. Erst da wurde mir bewusst, wie geschwächt ich noch war und zog den Schal enger. Ich wünschte mir die Pelzkappe zurück, die Liliana mir wegen der bitterkalten Winter hier oben mitgegeben hatte. Doch sie war eine der ersten Dinge, die ich habe versetzen müssen, um ein Stück Fleisch zu kaufen. Danach waren die gefütterten Handschuhe an der Reihe gewesen, gefolgt vom Fuchskragen, der den Mantel einst zierte.
Unsere Misere war einfach zu groß. Ich musste jemanden um Hilfe bitten, und zwar den einzigen Menschen, den ich in dieser Stadt außer den Romanescus kenne und der mir gut ist – Maria.
Sie freute sich, mich wiederzusehen, und schimpfte mit mir, weil ich mein Kind nicht mitgebracht hatte. Dann wollte sie alles wissen: wie die Geburt gewesen sei, wie es mir und dem Kindchen gehe und was mich herführe. Da erzählte ich ihr von unserem Unglück.
„Sie hat euch einfach auf die Straße gesetzt? Mitten im Winter? Mit einem ein Tag alten Säugling?“ Marias Stimme hatte sich vor Entrüstung überschlagen. „Was für ein Unmensch! Der Teufel soll die alte Vettel holen!“
Dann erzählte sie mir, wie ihre Gnädigste getobt habe, nachdem ich nicht mehr gekommen sei. Wie sich daraufhin ihre Laune täglich verschlechtert habe, obwohl dies ja kaum noch vorstellbar sei. Ihr Künstler-Sohn aber habe mich nicht verraten und sie glauben lassen, ich sei fortgezogen. – So mir nichts, dir nichts? Ohne ein Wort zu sagen? – Ein Notfall in der Familie, eine kranke Tante …
„Jaja, Tanten müssen immer für alles herhalten“, merkte ich mit einem kläglichen Lächeln an, als Maria mir das