„Du kannst mir nicht erzählen, dass es erfüllend ist, tagtäglich in einem Keller zu stehen und totes Fleisch zu marinieren. Selbst wenn es nach deinen Worten eine Kunst und Wissenschaft darstellt und es irgendjemand für die Herrschaften tun muss. Aber warum du?“
„Kannst du das Thema nicht endlich ruhen lassen?“, funkelte er mich an.
Ich schluckte. Sein Blick war hart, unnatürlich hart. Ich saß mit einem Fremden am Tisch.
Als wir später zu Bett lagen, legte er seinen Arm um mich, aber ich schob ihn weg. Mehr noch, ich rückte von ihm ab. Eine plötzliche Kälte lag zwischen uns. Als wir fast am Verhungern waren, waren wir in heißer Liebe für einander entbrannt. Jetzt, wo es uns besser geht, droht sie zu erlöschen. Warum? Was ist geschehen?
Er drückte mir einen Kuss auf die Schulter, dann drehte er sich auf die andere Seite und schlief ein. Ich lag die ganze Nacht wach.
17. April 1893
Liebe Zoe,
ich bin kreuzunglücklich. Immer öfter sehne ich mich nach meiner Familie, nach meinem Zuhause.
Warum sucht Papa nicht nach mir? Hat er mich etwa aufgegeben? Ich weiß, dass ich diejenige war, welche die Bande durchschnitten, aber bei meinem Bruder hat er damals auch Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn zu finden. Und Nicolae war immerhin durch ganz Europa bis nach England geflüchtet. Ich befinde mich noch im selben Land, nur wenige Kilometer von der Heimat entfernt. Sind wir so gut darin gewesen, unsere Spuren zu verwischen?
Was ist mit Elena? Was mit Tante Judith? Sind wir ihnen denn inzwischen völlig gleichgültig geworden? Empfinden sie uns gar als Verräter, weil wir die Familie im Stich ließen? Aber so ist es doch gar nicht! Vielleicht aber wissen sie es nicht anders. Wer weiß, was Nicolae ihnen erzählt hat.
Zumindest die kleine Leo hat an mir gehangen, da bin ich mir sicher. Und auch Liviu. Selbst meinem Bruder Victor bin ich nicht ganz gleichgültig gewesen, obwohl er Zuneigung nur schlecht zeigen kann.
Sogar die Dienerschaft vermisse ich, vor allem meine Betty. Wie es ihr und ihrer kleinen Julie wohl geht – so ohne mich? Man wird sie doch wohl nicht entlassen haben?
Wenn ich in Sofias Gesichtchen schaue, muss ich weinen. Sie ist unverkennbar eine da Laruc, auch wenn sie dem Namen nach eine Dumitrescu ist.
23. April 1893
Liebe Zoe,
endlich hat die Sonne den Frost vertrieben. Die Straßen sind befreit von Eis und Schnee und die ersten Frühlingsblumen brechen durch die Krume und drängen ans Licht. So wie wir Menschen.
Dorin hat mir einen leichten Sommermantel gekauft mit passendem Hut. Nichts Aufwendiges, eher etwas Schlichtes, Unauffälliges, wie es mir durchaus gefällt. In Kornblumenblau, weil dies die Farbe der Saison sei, wie er mir erklärte. Er kennt sich darin besser aus als ich. Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln und er war es zufrieden.
Darauf ist zu achten, Zoe, denn Dorin wird von Tag zu Tag mürrischer. Mehr als einmal habe ich versucht, den Grund für seine plötzliche Reizbarkeit zu ermitteln, aber vergebens. Auf meine Fragen zu seiner Arbeit antwortet er meist einsilbig. Dies macht deutlich genug, dass sie ihm lästig sind, also lasse ich es lieber.
„Bist du eigentlich glücklich, Dodo?“, fragte ich ihn neulich.
„Aber ja“, versicherte er mir. „Wieso auch nicht? Wir kommen doch jetzt gut über die Runden, und in
Zukunft wird es sogar noch besser gehen. Du wirst schon sehen!“
„Warum bist du dann so ernst und wortkarg geworden? Ich sehe dich kaum noch lächeln. Irgendetwas betrübt dich doch, ich sehe es genau!“
„Du irrst, Taliţa, ich bin nur müde von der vielen Arbeit.“
„Und wieso wirst du von Tag zu Tag blasser?“
„Wie sollte ich nicht blass sein nach dem langen Winter und da ich kaum das Tageslicht zu sehen bekomme.“
Derart gehen unsere Gespräche, Zoe. Es ist nicht so, dass er keine Freude an uns zeigte. Im Gegenteil, er liebt unsere kleine Sofia heiß und innig, wiegt und liebkost sie, und wenn sie nachts schreit, trägt er sie durch die Wohnung, bis sie sich wieder beruhigt. Auch lässt er zufriedene Seufzer hören, wenn er dabei zuschaut, wie Sofia aus meiner Brust trinkt oder ich sie in den Schlaf singe. An seiner Liebe zu uns zweifele ich keinen Augenblick. Aber trotz gegenteiliger Beteuerungen schwebt ein Schatten über ihm. Etwas Dunkles beschwert meinen Liebsten. Das Schlimmste ist, dass er es vor mir geheim hält. Er schließt mich aus von diesem Teil seines Lebens.
28. April 1893
Liebe Zoe,
wenn ich bloß aufatmen könnte wie alle anderen Menschen in diesen frühlingsdurchfluteten Tagen. Wenn ich doch nur auch heiter und unbekümmert meine Schritte durch den langsam ergrünenden Park vor unserer Haustür lenken könnte, dem sorglosen Gebrabbel meines Kindchens lauschend, das ich mir in einem Tuch um den Leib gebunden habe.
Sofia greift lachend nach meiner Nase und ahnt nichts von der Welt um sich herum. Ihre Welt sind Dorin und ich.
Ich habe auf einer Parkbank Platz genommen. Einige Kinder füttern die Vögel mit mitgebrachten Brotkrumen, während ihre Mütter oder Gouvernanten in einem Plausch beieinander stehen. Alles scheint in schönster Ordnung, bis sich mir wieder diese fremden Blicke in den Rücken bohren.
Neulich auf dem Markt, spürte ich sie zum ersten Mal. Doch wann immer ich mich umschaue, kann ich niemanden entdecken. Ich gehe meist über Umwege nach Hause, mich immer wieder umblickend, ob ich verfolgt werde. Es ist nie jemand zu sehen.
Gestern passierte es mitten auf dem Boulevard. Ich stand an einem Kiosk und las die Überschriften der Zeitungen. Da war mir, als erfassten mich abermals fremde Augen. Als sich mir die Nackenhaare aufrichteten, drehte ich mich blitzschnell um, sodass sogar ein Passant irritiert in meine Richtung schaute. Aber es war wieder niemand zu sehen, der mich anstarrte. Ich drückte Sofia fest an mich und eilte nach Hause.
Ich traue mich nicht, Dorin davon zu erzählen. Ich weiß nicht, was mich davon abhält. Vielleicht weil ich fürchte, dass er mir dann ein Ausgehverbot erteilt. Oder es ihm auf die Laune schlägt.
So weit ist es also schon gekommen, dass wir Geheimnisse voreinander haben. Er vertraut sich mir nicht an, ich vertraue mich ihm nicht an. Also vertrauen wir einander nicht mehr. So ist es doch?
8. Mai 1893
Liebe Zoe,
ich musste mich jemandem anvertrauen. Wenn Dorin nicht mehr zur Verfügung steht, muss eben jemand anderes herhalten. Ileana, die gute Seele, kommt dafür nicht infrage, ich kann nicht sicher sein, was sie ihrem Mann am Abend weitererzählt und ob es somit Dorin zu Ohren kommt.
Also bin ich wieder zu Maria gefahren, in das Haus der Patronin, zu den Vianus.
Zu meiner Überraschung war der Arzt-Sohn zu Hause. Ich war nicht darauf gefasst gewesen, ihm zu begegnen, und es war mir alles andere als angenehm. Natürlich fragte er mich, ob Dorin sich bereits mit seinem Kollegen Dr. Georgescu in Verbindung gesetzt habe. Ich log, dass er inzwischen anderweitig untergekommen sei und dankte ihm vielmals für sein Hilfsangebot, insbesondere, da er uns ja gar nicht kenne.
Nun, was meinen Gatten angehe, hätte ich sicherlich recht, entgegnete er mir mit einem Schmunzeln, doch was meine Person anbelange, habe er sich ein ziemlich genaues Bild machen können.
Ich errötete tief, als mir bewusst wurde, dass er auf die Fotografien seines Bruders anspielte.
Es gebe keinen Grund, sich dessen zu schämen, beschwichtigte er mich umgehend, er wisse nur zu gut, wie penetrant sein Bruder auftrete, wenn es um seine Kunst gehe. Zudem sei ich ganz offenbar in einer finanziell heiklen Situation gewesen. Aber das äußere Bild habe er eigentlich gar nicht gemeint. Vielmehr habe seine Mutter ihm in den höchsten Tönen vorgeschwärmt, was für eine außergewöhnlich gebildete wie couragierte junge Dame mit dem Wagemut eines wahren