Ich könne ruhig dort sitzen bleiben. Sie habe kein Geld im Haus, denn die Dienerschaft würde sich ihre Blindheit schamlos zunutze machen; die stählen wie die Raben.
Gut, erwiderte ich hochnäsig, da ich mit meiner Geduld am Ende war, dann solle sie ihren Sohn gefälligst bitten, etwas Geld für den nächsten Tag dazulassen, schließlich stehe Weihnachten vor der Tür. Oder ob sie sich den Ruf einer Mrs. Scrooge* erwerben wolle? Für den würde ich jedenfalls zu sorgen wissen, falls sie mich morgen wieder mit leeren Taschen fortschicke. Derartiger Tratsch fände in ihren Kreisen doch gewiss dankbare Abnehmer und Verbreiter.
Da sie nicht noch mehr erblassen oder versteinern konnte, hob sie ihren Stock und schlug damit mehrfach auf die Tischplatte, dass das Gedeck nur so klirrte und schepperte. Das Zimmermädchen kam hereingestürzt und rettete, was noch zu retten war. Sie schien an solche Ausfälle gewöhnt. Dennoch warf sie mir beim Hinausgehen einen strafenden Blick zu.
„Es liegt ganz bei Ihnen, Madame“, verabschiedete ich mich von der wutschnaubenden Patronin. „Sobald Sie mich anständig bezahlen, bin ich gerne bereit, weiterhin in Ihr Haus zu kommen und mich Ihren Gemeinheiten auszusetzen. Ansonsten: Adieu!“
„Halt!“, gebot sie mir mit donnernder Stimme. „Das letzte Wort ist in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen. A bientôt!“
Ich trat hart mit der Hacke meines Stiefels auf, bevor ich mich umwandte, um zu gehen. Sie schickte mir wüste Verwünschungen hinterher.
Im Flur sank mir das Herz zu Boden ob unserer verzweifelten Lage. Warum nur konnte ich nicht demütig den Kopf beugen und schweigen, der Patronin die Rechte küssen und mich ihrer Gnade unterwerfen, wie es mir all unsere Untertanen von frühester Kindheit an vorgelebt hatten? Mein Stolz brachte uns nun an den Hungerstab und demnächst auch noch um ein Dach über dem Kopf. Wenn wir doch bloß jemanden kennen würden in dieser verdammten Stadt!, dachte ich.
Noch vor Verlassen des Hauses, verlor ich die Fassung. Da fing mich das Hausmädchen ab, packte mich am Ärmel und zog mich eilig in die Küche. „Essen Sie!“, gebot sie mir und setzte mir einen Teller frisch gekochter Hühnersuppe vor. „Und halten Sie durch, ich beschwöre Sie! Bisher hat jede der Bewerberinnen spätestens am dritten Tage heulend das Haus verlassen, Sie sind die Erste, die –“
„Erst am vierten Tag heulend das Haus verlässt?“, fiel ich ihr ins Wort.
Bekümmert blickte sie mir ins Gesicht. „Kommen Sie auf jeden Fall morgen wieder“, beschwor sie mich flüsternd und schenkte mir einen zuversichtlichen Blick. Sie werde mit dem Herrn Sohn sprechen, sobald er nach Hause komme.
Was ihr daran liege, dass ich bliebe, verlangte ich zu wissen.
Ganz einfach, die Zeit, die ich mit der Gnädigsten verbrächte, sei die einzige, in der diese nicht auf ihr herumhacken könne.
Ich war verblüfft über diese ehrliche Antwort. Wir sahen uns stumm in die Augen, dann kicherten wir beide los.
„Psst!“, rügte sie mich, „nicht so laut! Die Gnädigste mag blind sein, aber ihr Gehör funktioniert umso besser.“
Und tatsächlich hörte ich die Patronin ungehalten nach Maria klingeln. Ich löffelte derweil in Ruhe meinen Teller leer und stopfte mir die Taschen mit dem zugeschobenen Brot voll.
Ich wollte mich gerade aus dem Haus schleichen, während Maria von ihrer Gnädigsten im Salon herumgescheucht wurde, als die Tür auf der anderen Seite des Flures aufging und ein Herr mit zerzauster Mähne in ihr erschien. Ich weiß nicht, warum, vielleicht weil sein unerwarteter Anblick mich erschreckte, oder weil ich mich wie ein Dieb auf frischer Tat ertappt fühlte mit meinen Taschen voll fremden Brotes, jedenfalls blieb ich wie angewurzelt stehen. Langsam kam er auf mich zu und wurde, je mehr er sich mir näherte, in seinen Schritten verhaltener, als glaubte er, ein Gespenst vor sich zu sehen, welches er fürchtete, zu verscheuchen. Und auch ich starrte ihn an, als wäre er ein Geist, unfähig zu irgendeiner Handlung oder gar einem Wort.
Wieso überraschte mich die Anwesenheit einer weiteren Person, die kein Dienstbote war, so sehr? Wieso war ich in dem Glauben gewesen, die alte blinde Frau schalte und walte allein in diesem Hause? Vielleicht weil niemand anderes als der stets abwesende Arzt-Sohn bisher Erwähnung gefunden hatte.
Inzwischen stand der zerzauste Kauz direkt vor mir und musterte mich mit schief gelegtem Kopf, während er sich den krausen Bart kraulte. Dann hob er seine Rechte und fuhr mit ihr langsam Millimeter für Millimeter in der Luft meine Kontur entlang, als überlegte er, ob ich wohl durch die Haustür passte. Sein Blick erfasste meine Gestalt jedoch nur am Rande, als nähme er mich gar nicht richtig wahr, als wäre ich nur eine Erscheinung, durch die man hindurchgreifen könnte. Schließlich ließ er die Hand wieder sinken und räusperte sich. Da erwachte auch ich aus meiner Starre, murmelte eine Entschuldigung und wollte mich zum Gehen umwenden.
„Nicht bewegen!“, gebot er mir streng. „Bleiben Sie, bleiben Sie genau so!“ Er rannte zurück in den Raum, aus dem er gekommen war. Ich hörte ihn wie wild darin hantieren. Nach einer Weile kam er mit einem Stativ zurück und baute es vor mir auf. „Ich bitte Sie, junge Frau, erlauben Sie mir, Sie abzulichten.“
„Ich muss gehen“, flüsterte ich, „ich dürfte schon längst nicht mehr hier sein. Die Gnädige –“
Jaja, er wisse schon, unterbrach er mich mit einer wegwerfenden Geste, aber es müsse sein. Er werde sich beeilen.
„Es geht wirklich nicht, mein Herr, ich werde zu Hause erwartet. Wenn mein Mann –“
Er bitte nur um einen winzigen Moment Geduld, der allein der Kunst geschuldet sei.
Es gehe leider nicht. Aber ich käme morgen wieder.
„Nein!“ Hektisch fuhr er sich durchs Haar. „Denn sehen Sie, dieser Augenblick ist einmalig. Dieses Licht … das Licht wird morgen nicht so sein wie heute. Nichts wird so sein wie heute, so wie jetzt.“
Dieser Moment sei einzigartig, fuhr er eindringlich fort, dieses Schattenspiel auf meinem Haupte, dieser verzweifelte Ausdruck in meinem Gesicht, die gleichsam wilde Entschlossenheit in meinem Blick, der Stolz in meiner Haltung … Mein Gott, ich müsse ihm einfach erlauben, eine Fotografie von mir anzufertigen, er würde mich auch gut bezahlen.
Augenblicklich wurde ich hellhörig. Ja, ich gebe es zu, Zoe, der Gedanke an Geld ließ all meine Grundsätze in einer einzigen Sekunde zu einem Häufchen Nichts zusammenschmelzen.
„Wie viel Geld?“, hörte ich mich bereits mit einer gewissen Gier in der Stimme fragen, vor der ich selbst erschrak.
„Sehr viel“, antwortete er.
„Und wann?“ Ich ließe mich auf keinerlei Handel mehr ein, die Patronin habe mich bereits um meinen Lohn geprellt, und in drei Tagen sei Weihnachten. Ich wolle sofort bezahlt werden.
Er habe kaum Geld im Haus, stotterte er ungeduldig, sein Bruder halte ihn knapp, aber er gebe mir alles, was er dahabe, wenn ich nur noch einen kleinen Augenblick warten könne … Damit lief er abermals zurück in sein Zimmer und ich hörte ihn hektisch verschiedene Laden aufziehen und darin herumkramen.
Alles wäre besser als nichts, ging es mir unterdessen durch den Kopf, selbst wenn es nur für einen Hühnerschenkel reichen sollte.
Ich ließ ihn sein Foto machen. Und danach noch eins. Die Patronin blieb in ihrem Salon und bekam von alldem nichts mit, dafür sorgte Maria, die auf die Szene aufmerksam geworden war, als sie das Teetablett hatte hinaustragen wollen. Sie hatte es kurzerhand auf einer Anrichte im Flur abgestellt und war zurück in den Salon geeilt, um der Gnädigsten den seltsamen Trichterapparat anzustellen, aus dem kurz darauf schrachelnde Töne kamen.
Maria sei die gute Fee im Haus, zwinkerte mir der Fotografen-Sohn zu. Ohne sie, ohne seine Maria … schüttelte er schelmisch den Kopf, während er an seinen Gerätschaften herumnestelte.
Als das Dienstmädchen kurz darauf