Wie dächte ich denn?
Hüstelnd winkte er ab und brachte meinen Kopf in ein seitliches Profil. Dann hob er sacht mein Kinn. Welch außergewöhnliche Eleganz, murmelte er unterdessen, welch amazonenhafter Reiz … Ach, es seien der Aus- und Eindrücke einfach zu viele. Der Herrgott müsse mich ihm geschickt haben! Er bitte mich inständig, am nächsten Tag wiederzukommen, er sei noch lange nicht fertig mit mir. Mein Gott, was für eine Erscheinung!
„Aber die Erscheinung muss sich dennoch ernähren“, erinnerte ich ihn.
„Sofort, Madame, sofort!“
Als er zurückkam drückte er mir einen Bündel Scheine in die Hand. „Bis morgen, Verehrteste“, flüsterte er, „bis morgen“, und schob mich unversehens zur Haustür hinaus.
„Aber …“ Erschrocken starrte ich auf den Batzen Geld in meiner Hand. Kein Wunder, dass sein Bruder ihn knapphält, die Zahlen auf den Banknoten scheinen ihm nichts zu sagen.
„Aber das ist viel zu viel“, rief ich ihm noch hinterher, doch da hatte er die Haustür schon zugeworfen.
Es war spät geworden, und ich hatte Sorge, dass Dorin vor mir zu Hause eintreffen könnte, darum leistete ich mir den unerhörten Luxus einer Droschke für den Heimweg – zumal meine Beine noch schwächer geworden waren nach diesem absonderlichen Erlebnis.
12. Januar 1893
Liebe Zoe,
erst heute komme ich zum Weiterschreiben. Die letzten Tage waren anstrengend. Immer häufiger zwingt mich bleierne Müdigkeit in die Knie, sodass ich mich über die Mittagszeit hinlegen muss.
Nach wie vor gehe ich am Vormittag für zwei Stunden zur blinden Patronin und lese ihr vor. Inzwischen habe ich tatsächlich Geld dafür bekommen, wenn auch nur wenig. Sie schob es mir diskret in einem Umschlag zu, was bei der Summe ziemlich lächerlich wirkte. Aber dies ist ohnehin nicht mehr der Grund, warum ich komme, das Vorlesen ist nur ein kleiner Nebenerwerb, bei dem ich mich – wie die Gnädigste gern betont – aufwärmen und ausruhen kann. Die Nachmittage habe ich auf eine Stunde verkürzt, die restliche Zeit gehört ihrem Sohn Ludovic, ohne dass sie davon wüsste.
Nachdem ich mich von ihr verabschiedet habe, werde ich von Maria hinausgeleitet, nur um – nach einem deutlichen Zufallen der Haustür – in Herrn Ludovics Atelier zurückzuschleichen. Ich sitze, stehe und liege ihm Modell für eine Portraitreihe. Meinen „Charakterkopf“ hat er bereits in allen möglichen Positionen abgelichtet.
Es sei ihm schon lange ein Anliegen, eine Schwangere zu fotografieren. Die meisten jedoch hätten Furcht, ihr Ungeborenes könne Schaden nehmen und seelenlos zur Welt kommen. Der Aberglaube, man stehle dem abgelichteten Körper die Seele, sitze tief in der einfachen Bevölkerung. Und gebildete Frauen – ich möge verzeihen – würden sich normalerweise für so etwas nicht hergeben. Modell zu sitzen, flüsterte er mir zu, habe stets etwas Anrüchiges.
Ich errötete bei diesen Worten. Noch bevor sich der Gedanke, eine moralische Grenze überschritten zu haben, meiner bemächtigen konnte, brach er in helles Entzücken aus.
Nein, diese schamhafte Unschuld verkörpert in einer werdenden Mutter habe geradezu etwas Heiliges! Ach, könne er die Fotografien doch nur farbig herstellen. So bleibe ihm nichts weiter übrig, als sie im Nachhinein zu kolorieren. Ein Hauch Rötel auf meinen Wangen werde gewiss Wunder wirken.
Diese Verehrung ging mir etwas zu weit. Und doch schützte sie mich vor der intimen Nähe in seinem Atelier. Der Künstler und sein Modell – das hat die Leute schon immer zu erotischen Phantasien angeregt. Aber Herr Ludo, wie ich ihn nennen darf, steht über solchen Dingen, er ist durch und durch ein Ästhet.
Ich wunderte mich laut, dass er kein Maler geworden sei.
„Ich war, mein liebes Kind, ich war!“ Jedoch habe niemand seine Bilder gewollt, gestand er leutselig. Er sei nicht modern genug, lege keinen Wert auf Grobes oder Gebrochenes, Geometrisches oder Gepunktetes. Er liebe klare Konturen, starke Kontraste, das Spiel mit Licht und Schatten als verstärkendes Element. Das unverhüllte Gesicht etwa, mit all seinen Nuancen, es selbst erzähle eine Geschichte; die gekräuselte Stirn, die geschürzten Lippen, die geweiteten Pupillen oder der halb gesenkte Wimpernkranz, all das lasse einen tiefen Blick in die Seele des Abgebildeten zu.
So?, fragte ich ein wenig kokett. Und was lese der Meister in der meinen?
Das sei es ja gerade, in der meinen finde er Alles und Nichts. Etwas Göttliches schimmere in ihr, etwas der Welt längst Entschwundenes, gleich der Wiedergeburt einer antiken Gestalt; der Persephone etwa oder der Hestia.
„Hestia“, lachte ich auf und blickte auf meinen Bauch. „Nun, für die ewige Jungfrau ist es jetzt wohl etwas zu spät.“
„Ach, ihr Frauen wollt alle immer nur eine Aphrodite sein“, klagte er. „Wer aber sorgt dann für Ordnung in der Unterwelt?“
In ihm sei übrigens in den letzten Tagen der Wunsch entstanden, mich zu malen, nur so für sich, für sich ganz allein. Nachdem er die Fotoreihe mit mir abgeschlossen habe, verstehe sich, denn dies sei nun einmal sein Hauptgeschäft. Man müsse auch in der Kunst mit der Zeit gehen und sich des Fortschritts bedienen, um en vogue zu sein. Die malende Zunft habe ihn damals verschmäht. Mich in Öl auf Leinwand zu bannen, damit wolle er sich lediglich einen ganz persönlichen Wunsch erfüllen.
Herr Ludo hat also noch einiges mit mir vor, Zoe. Aber die Zeit drängt. Lange werde ich ihm nicht mehr sitzen können!
Auf jeden Fall hat er unser Weihnachtsfest gerettet. Ich konnte uns von dem Geld, das er mir beim ersten Mal so zerstreut in die Hand gedrückt hatte, einen herrlichen Braten und eine teure Flasche Wein kaufen, von der ich vorgab, sie ganz günstig erstanden zu haben. Es reichte sogar noch für ein Geschenk. So kaufte ich für Dorin einen neuen Kragen samt Binder und war überglücklich, ihn damit überraschen zu können.
Er war gerührt, als ich vorgab, dafür meine Strumpfbänder aus Brüsseler Spitze versetzt zu haben, und beschämt, weil er mir kein Geschenk hatte kaufen können. Erinnere Dich, Zoe, dass er zu jenem Zeitpunkt vergebens um einen Lohnvorschuss gebeten hatte.
Was dies zähle?, beschwichtigte ich ihn. Hauptsache sei doch, dass wir beide unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest in Zweisamkeit …
Da fiel er vor mir auf die Knie und beugte sein Haupt. Zitternd griff er nach meinen Händen.
„Taliţa, mein Herz“, flüsterte er und sah mir verzagt in die Augen auf. „Taliţa, willst du hier und heute meine Frau werden?“
Ich musste lachen. „Aber Dodo, bin ich das nicht schon längst? Trage ich denn nicht dein Kind unter meinem Herzen? Wird die Frucht unserer Liebe nicht bereits in wenigen Wochen das Licht dieser Welt erblicken?“
„Im Geiste, gewiss, gewiss …“, murmelte er, „aber ist es nicht an der Zeit, bevor unser Kindchen kommt, unser Ehegelöbnis auch vor Gott zu bekunden?“
Und dann, Zoe, streifte er mir einen Ehering über den Finger, geflochten aus einer Strähne seines Haares, als Stellvertreter für den goldenen mit Brillanten besetzten, der folgen sollte, sobald …
Weiter kam er nicht. Weinend rutschte ich ihm in die Arme.
„Was sollen mir Gold und Edelsteine, wenn ich das Wertvollste bereits besitze?“, fragte ich ihn unter heißen Küssen. Und dann liebten wir uns so leidenschaftlich, wie es mein Umfang noch zuließ.
Er habe einen Popen bestellt, verkündete er mir hinterher, während er sich eine meiner Locken um den Finger wickelte. In dem Bezirk, in dem er aufgewachsen sei. Dieser habe ihn in den Kirchenbüchern ermitteln können und sei gewillt, uns auch ohne Papiere –
„Doch gewiss nicht ohne Geld!“, fiel ich ihm erschrocken ins Wort.
„Nun, das allerdings nicht …“
„Woher nehmen, wenn nicht stehlen, Liebster?“
Ich solle ohne Sorge sein, ein Kollege habe ihm ausgeholfen und etwas Geld vorgestreckt. Dieser sei