Ihre wächsernen Züge, die unter der hohen Haube streng hervortraten, erstarrten nun vollends. Wie in Stein gemeißelt wirkten die senkrechten Furchen zu beiden Seiten ihrer markanten Nase, die in einem verkniffenen Mund endeten. Schwer hingen die dunkel umschatteten Lider über den getrübten Augen. Sie zeigte keinerlei Regung mehr. Fast zweifelte ich daran, einem menschlichen Wesen gegenüberzustehen.
Nachdem dies nun festgestellt sei, krächzte sie plötzlich in einer herben Stimmlage, ob ich nun vielleicht die Güte besäße, meinen Alphabetismus unter Beweis zu stellen.
Welche Lektüre auch immer, antwortete ich ihr.
Sie ließ es sich nicht nehmen, ein Heldenlied auf Ştefan den Großen auszuwählen, eine alte Schrift, die in Kyrillisch verfasst war. Herrisch wies sie mit ihrem Stock auf ihren gut bestückten Bücherschrank und beschrieb mir auf das Exakteste, an welcher Stelle sich das Werk befinde. Dann gab sie unter dreimaligem Klopfen ihres Stockes auf den Fußboden, wo sich bereits eine deutliche Kuhle im Parkett eingedrückt hatte, das Zeichen mit dem Lesen zu beginnen. Ihre ganze Pose zeugte von der Siegesgewissheit, mich mit dieser überaus anspruchsvollen Lektüre aus dem Rennen zu katapultieren. Aber unser Vater hat uns nicht umsonst eigenhändig die beste Bildung angedeihen lassen. Mühelos und mit der richtigen Intonation ließ ich Ştefan den Großen, Fürst der Moldau, auf- und hochleben. Die Gnädigste musste sich geschlagen geben.
Nun gut, sie wolle einen Versuch mit mir wagen, verkündete sie säuerlich, ich dürfe morgen wiederkommen.
Du kannst Dir meine Erleichterung nicht vorstellen, Zoe. Die Erleichterung darüber, eine Arbeit gefunden zu haben, vor allem aber, das Haus Basarab würdevoll vertreten zu haben, denn sie hat nicht mein Gesicht sehen können, während ich ein Loblied auf Ştefan den Großen und seine tapferen Bojaren sang. Bunic wäre stolz auf mich gewesen, dessen bin ich mir sicher.
Mögen sie hier in Iaşi über noch so gute wissenschaftliche Fakultäten und Kulturkreise verfügen, wir stehen ihnen in Bukarest in nichts nach. Es ist damals, nachdem Cuza unsere beiden Fürstentümer vereint und zum Staat Rumänien proklamiert hatte, nicht umsonst nach nur einem Jahr zur Hauptstadt ernannt worden, was den Iaşiern immer noch ein Dorn im Auge zu sein scheint.
Gleichviel, ich kam also fünf Tage hintereinander in das Haus der blinden Patronin, um ihr vorzulesen. Die ersten beiden Tage für jeweils zwei Stunden am Vormittag. Währenddessen ließ sie sich Tee servieren und knabberte Früchte und Gebäck. Sie kam keineswegs auf die Idee, auch mir etwas anzubieten, schließlich war ich nicht mehr als eine Dienerin. Dabei knurrte mein Magen überlaut. Immerhin saß ich in einem vornehm möblierten und geheizten Zimmer. Kaum dass ich noch weiß, wie es ist, nicht zu frieren, trotz des kleinen Ofens, den ich ständig in mir herumtrage. Hin und wieder gab die Gnädigste ein leises Seufzen von sich. Schwer zu sagen, ob aus Wohlgefallen oder Missbehagen.
Am dritten Tag forderte sie mich auf, am Nachmittag wiederzukommen. Es gelüste ihr ein wenig nach Baudelaire. Ich sei doch wohl des Französischen mächtig?
Ich käme gerne, erklärte ich ihr, aber wir hätten noch nicht über das Finanzielle gesprochen.
Dafür sei ihr Sohn zuständig, winkte sie ab, mit solch profanen Dingen gebe sie sich nicht ab.
Ich wolle zumindest wissen, mit welchem Lohn ich rechnen könne, denn der Weg zu ihr sei weit. Zumindest am Nachmittag müsste ich mir eine Droschke für die Heimfahrt leisten können.
Ich brauchte pro Strecke eine gute halbe Stunde und das Laufen fiel mir von Tag zu Tag schwerer. Das sagte ich ihr natürlich nicht.
Sie gab ein empörtes Schnaufen von sich. Ob ich nicht über ein Paar gesunde Füße verfügen würde? Was so ein junges Weibsbild sich kutschieren lassen müsse wie eine Grand Dame?
Ich konnte ihr ja schlecht sagen, dass ich hochschwanger war, dann wäre ich die Anstellung sofort wieder losgeworden. Das Hausmädchen hatte bisher dichtgehalten.
Ich sei doch wohl bei guter Gesundheit?
So, wie sie die Frage gestellt hatte, war es ratsam, dies umgehend zu bejahen.
Na, also! Ihr Sohn sei Arzt und würde meinen Gesundheitszustand am Ende meiner Probezeit überprüfen. Sie wolle sich schließlich keine Seuche dauerhaft ins Haus holen. Erst dann gebe es Geld.
Wie lange die Probezeit denn –
So lange, wie sie es für richtig erachte, schnitt sie mir rüde das Wort ab.
Das gehe leider ganz und gar nicht, konterte ich in Hinblick auf unsere desolate Situation. Spätestens zum Ende der Woche wolle ich entlohnt werden.
Ich pokerte hoch, aber noch hatte ich ja nichts zu verlieren.
Wieder schnaufte sie verdrießlich. Nun gut, sie würde es von meiner Aussprache des Französischen abhängig machen.
Also kam ich am Nachmittag wieder – zu Fuß. Denn wovon hätte ich eine Droschke bezahlen sollen?
Ausgerechnet Baudelaire! Das soll ja wohl ein Witz sein, dass sich die alte Schreckschraube etwas aus Les Fleurs du Mal macht, und dann auch noch die Brüsseler Ausgabe, welche die in Frankreich zensierten Gedichte enthält! Sie wollte mich damit gewiss nur testen.
Zähneknirschend ließ sie mich bestehen. Man sah ihr an, wie sehr es sie ärgerte, dass an meinem Französisch nichts auszusetzen war und ich noch nicht einmal über die erotischen Verse ins Stolpern geraten bin.
Naja, grummelte sie, immerhin besser als die Muttersprache, was allerdings ziemlich traurig sei!
Ich erinnerte sie an die Bezahlung. Wann der Herr Sohn –
Er komme erst spät am Abend aus seiner Praxis heim, dort herrsche wegen der zurzeit grassierenden Grippe Hochbetrieb. Außerdem hätte ich mich im Deutschen noch nicht unter Beweis gestellt. Kleist und Hölderlin fänden sich auch in den Regalen.
Du meine Güte, seufzte ich innerlich. Mir blieb aber auch gar nichts erspart!
Um es vorweg zu nehmen, entgegnete ich, ich sei auch des Englischen mächtig. Falls ihr also der Sinn nach Shakespeare stehe …
So weit komme es noch!, prustete sie verächtlich – rein, weil der Vorschlag von mir stammte, versteht sich. Denn ich hatte sowohl Hamlet, Macbeth als auch den Kaufmann von Venedig im Regal stehen sehen.
Um es kurz zu machen, ich bediente sie auch am Folgetag sowohl am Vor- als auch am Nachmittag mit ausgesuchter Lektüre in allen möglichen Sprachen. Wieder erinnerte ich sie an die Bezahlung. Sie antwortete darauf nicht. Gedanklich sah ich uns Weihnachten bereits über der üblichen Schüssel wässriger Suppe sitzen.
Als die große Pendeluhr in der Halle fünf schlug, schlug ich laut Hölderlins Gedichtband zu und blieb auf meinem Stuhl sitzen.
Worauf ich noch warten würde, fragte die Gnädigste ungnädig.
Auf meinen Lohn, ich hätte jetzt bereits zwölf Stunden für sie gearbeitet.
Naja, Arbeit könne man das wohl kaum nennen, wich sie aus. Sie würde sich ohnehin fragen, wer hier wem einen Gefallen tue. Schließlich würde ich mir in ihrem gut geheizten Salon auf einem recht bequemen Stuhl die Füße ausruhen können und dabei auch noch in den Genuss geistig anregender Lektüre kommen, etwas, das man in Muntenia* – sie sprach es mit viel Verachtung aus – bestimmt vergebens suche.
Ich war drauf und dran ihr zu erzählen, dass ihr Bücherbestand einen lächerlichen Bruchteil dessen darstellte, was unsere Bibliothek daheim aufzuweisen hätte. Aber ich biss mir rechtzeitig auf die Zunge. Zu meinem Ärger knurrte mir in genau jenem Moment