Dass er Percy heißt, schlussfolgere ich nur aus ihren Reisenotizen; mir gegenüber hatte sie den Namen nie erwähnt. Was mag er ihr bloß angetan haben, dass ihre amouröse Begegnung darin unerwähnt blieb?
Entschuldige, Mama, flüsterte ich und senkte beschämt mein Gesicht. Ich wolle keine alten Wunden aufreißen. Es sei egoistisch von mir, darauf zu bestehen …
Nun seien wir schon einmal hier, und ich würde ja ohnehin sonst keine Ruhe geben, seufzte sie und stieg den Klippenweg wieder empor. Ich hätte ja recht, gab sie keuchend zu, als wir oben ankamen, es sei nicht fair, mir den Vater vorzuenthalten, sie habe es nur zu meinem Schutze getan …
Was sie nicht ahnen konnte, war, dass genau dieser Satz meine Neugierde erst recht anstachelte. Ich musste wissen. Punkt!
Der letzte Spross (5) – Gemälde
Spätestens jetzt sollte ich erwähnen, dass ich schon in jungen Jahren die Malerei für mich entdeckt hatte. Als mich meine Mutter nun zum Cottage führte, blieb ich wie vom Schlag getroffen davor stehen.
Erkennst du es wieder? Fragte sie mit bangem Lächeln.
Wie sollte ich nicht? Es war das kleine reetgedeckte Haus mit der blauen Tür und rosa Clematis, die sie umrankte – ein Motiv, das ich wieder und wieder gemalt hatte. Ebenso die mit einem Rosenbogen überdachte Gartenpforte, die Stockrosen an der Sandsteinmauer und die Linde mit der Bank darunter – alles Motive, die ich auf etlichen Aquarellen verewigt hatte, ohne je hier gewesen zu sein. Wie war das möglich?
Im Gegensatz zu den Schilderungen in ihren Reisenotizen war das Cottage in einem Topzustand. Die Wände waren frisch getüncht, die altmodischen Möbel – antik trifft es eher – allesamt geleimt und aufpoliert, Sofa und Sessel neu gepolstert und bezogen. Einer der beiden kleineren Räume wurde von einem modernen breiten Bett dominiert, bezogen mit Rüschen umrandeten Kopfkissen und einer Patchwork-Tagesdecke. Eine zartrosa gestrichene Spiegelkommode stand auf einem weißen Flokati, davor ein weiß lackierter Stuhl mit einer Sarah-Kay-Puppe darauf. Der andere Raum war vollgestellt mit Leinwänden verschiedenen Formats. Unterhalb des Fensters war eine große Arbeitsplatte angebracht, darauf lagen diverse Farbkästen und Pinsel sowie die unterschiedlichsten Sorten von Zeichenpapier. Und in dem an das Wohnzimmer angrenzenden kleinen Wintergarten stand nebst zwei Korbsesseln und einem Tischchen eine große Staffelei.
Sprachlos sah ich mich darin um. Es wirkte alles so, als ob es einzig und allein für mich hergerichtet worden wäre, als ob das Cottage bereits auf mich gewartet hätte.
Das hat es, hörte ich meine Mutter mit heiserer Stimme murmeln. Seit Jahren schon. Es gehört dir.
Ich konnte nicht fassen, was ich da sah und hörte, und ließ mich kraftlos auf das Sofa in der kleinen gemütlichen Stube sinken.
Hier also hast du damals deine schlaflosen Nächte verbracht?
Sie ließ einen verklärten Blick darüber gleiten. Dann ging sie hinaus, um Wasser aus dem Pumpbrunnen in einen zerbeulten Kupferkessel zu füllen. In der Küche nebenan machte sie Feuer im Herd.
Kurz darauf tranken wir im Wintergarten Darjeeling-Tee und knabberten dazu schottisches Buttergebäck.
Als ein schwarzer Vogel angeflogen kam, der sich ganz in der Nähe auf einem Ast niederließ, ließ Mutter die Teetasse sinken und starrte zu ihm hinaus, als würde sie einen Geist sehen. Für Minuten war sie nicht ansprechbar. Mir schien, als ob sie lausche. Aber im Haus war alles still.
Kurz danach sind wir abgereist.
NATALIAS BRIEFE AN ZOE
Iaşi, 9. Januar 1893
Liebe Zoe,
wie schnell die Not einen beim Nacken packen kann. Heimtückisch und hinterrücks. Obwohl ich sie sich habe anpirschen sehen.
Mit einem mächtigen Satz hat sie zugeschlagen. Brutal und erbarmungslos. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und wir wären verhungert und erfroren.
Dorin hat eine Woche nach meinem letzten Brief endlich eine Anstellung bekommen, bei einem Leichenpräparator. Wenn er sich bewähre, würde man weiterschauen … Er sei sich nicht zu schade, ganz unten anzufangen, Hauptsache Arbeit, sagte Dorin und versuchte Zuversicht auszustrahlen. Es hat mir das Herz bluten lassen.
Bisher haben wir noch kein Geld gesehen. Lohn gäbe es erst Ende eines vollen, also dieses Monats. Noch nicht einmal den Anteil für die bereits im Dezember geleistete Arbeit wollten sie ihm im Voraus bezahlen. Wir hätten Weihnachten also am kalten Herd verbringen müssen.
Die Januarmiete jedoch wird am fünfzehnten fällig. Wenn wir bis dahin immer noch nicht zahlen können, sind wir obdachlos. Die alte Vettel wird kein Erbarmen kennen, das spüre ich. Sie wird uns trotz – oder sogar wegen – meines Zustandes auf die Straße setzen.
Meine mitgeschmuggelten Schmuckstücke habe ich längst versetzt, für die ersten beiden Monatsmieten und Lebensmittel. Alles bis auf die Perlenkette meiner Mutter, die mir Peter Cornelly einst schenkte. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie wegzugeben. Sie ist die einzige Schnur, die mich mit meiner leiblichen Mutter verbindet – und mit meinem Leben in England, das ich dieser Tage furchtbar vermisse. Ich habe nicht gewusst, was für eine glückliche Zeit mir dort beschieden war, obwohl sie mir damals keineswegs so vorkam. Aber das ist anscheinend das Los des Menschen, dass er sein Glück immer erst im Nachhinein erkennt.
Was blieb mir also anderes übrig, als mich vor Weihnachten heimlich auf die Suche nach Arbeit zu machen? Es bestand ja nun keine Gefahr mehr, dass ich Dorin dabei über den Weg laufen würde, wusste ich ihn doch in einem Leichenkeller.
So bin ich also tagelang durch die eisigen Straßen gelaufen und habe in allen Kontoren der Stadt nach Schreibarbeit gefragt. Immerhin bin ich des Maschineschreibens mächtig. Aber mit meiner Kugel, die sich beim besten Willen nicht mehr verbergen lässt, wollte mich keiner einstellen. Es bräuchte ja keine Festanstellung zu sein, nur für wenige Wochen, bis mein Kindchen da sei, bettelte ich. Darauf wollte sich erst recht keiner einlassen. Vielleicht hat aber auch mein walachischer Zungenschlag sie davon abgehalten.
Jeden Morgen studierte ich die Stellenanzeigen in den Zeitungen. Es werden vorwiegend Gouvernanten und Domestiken gesucht, aber dafür komme ich in meinem Zustand erst recht nicht infrage.
Zehn Tage vor Weihnachten war ich nahe am Verzweifeln. Dorin kam zu jener Zeit jeden Abend erschöpfter von der Arbeit zurück. Ich hatte ihm schon seit Tagen nichts anderes vorsetzen können als die immer gleiche Kohlsuppe, die ich jedes Mal mit mehr Wasser streckte. Brot hatten wir schon lange keines mehr gesehen. Wovon hätte ich es kaufen sollen? Das letzte bisschen Geld war für Feuerholz draufgegangen.
Es war ein eisiger Morgen, die Bürgersteige gefährlich glatt gefroren. Vorsichtig tastete ich mich zum Kiosk in unserer Nähe und las die Anschläge. Jemand suchte für seine erblindete Mutter eine Vorleserin/Gesellschafterin. Ich stellte mich umgehend vor.
Meine anderen Umstände seien kein Hindernis, versicherte mir das Hausmädchen, das mich einließ, denn die gnädige Frau würde ohnehin alle Gesellschafterinnen binnen einer Woche wieder vergraulen. Der Herr Sohn sei verzweifelt und kurz vorm Aufgeben.
Na, das ließ ja hoffen! Ich straffte die Schultern und machte mich auf die fürchterlichste Woche meines Lebens gefasst. Es war mir egal. Für einen Braten und eine Flasche Wein war ich bereit, alles über mich ergehen zu lassen. Etwas Entwürdigenderes, als nicht zu wissen, was man am Weihnachtstag auf den Tisch bringen soll, kann es wohl kaum geben.
Und wie es das gibt! Die ganz in Schwarz gewandete Patronin, die mit hochmütiger Miene auf einer Art Thron posierte, zerriss mich mit ihren blinden Augen in lauter Einzelteile, noch bevor ich ihren Salon richtig betreten hatte. Demonstrativ fächelte sie sich Luft zu, als das Mädchen mich zu ihr vorließ. Nachdem sie mich mit ausdrucksloser Stimme aufgefordert hatte näherzutreten, verzog sie angewidert das Gesicht und hielt sich ein Eau-de-Cologne-Tuch an die Nase, als würde ich stinken wie ein Fischweib. Bei aller Armut halten wir uns dennoch sauber, liebe