„Dass wir um beider Wohlergehen bangen müssen?“
„Dass wir endlich wissen, wo sie stecken! – Jetzt kann ich ihrer habhaft werden, jetzt endlich kann ich Kontakt zu meinem kleinen Engel aufnehmen, der sich jämmerlich verflogen hat und dem Vogelfänger in die Falle zu gehen droht.“
„Diese entsetzliche Gefahr löst einen Freudentaumel in Euch aus?“, vergewisserte ich mich verständnislos.
„Aber ja! Gefahr erkannt, Gefahr gebannt, wie es heißt.“
„Und dass Dorin Euch in seinem Schreiben anfleht, Natalia gegenüber Stillschweigen zu wahren …“
„Werde ich selbstverständlich beherzigen. Dafür kenne ich meine Tochter gut genug. Sie würde es fertigbringen, auf immer mit ihm zu brechen, wenn sie herausfände, dass Dorin sich in seiner Not an mich gewandt hat. Da kennt sie kein Pardon, Liebe hin, Liebe her. Wer einmal ihr Vertrauen missbraucht, hat es für immer verloren.“
„So wie Ihr ihr Vertrauen verloren habt?“
Das war ein derber Schlag ins Gesicht, für den ich mich augenblicklich schämte. Ich weiß nicht, warum er mir entglitt. Etwas von der alten Judith brach in mir durch, die ich für immer hatte hinter mir lassen wollen. „Bitte verzeiht, Exzellenz!“, warf ich erschrocken hinterher. „Das habt Ihr nicht verdient. Ich weiß sehr wohl, dass Ihr Natalias Vertrauen niemals missbraucht habt, auch wenn sie an Eurer Liebe zweifelt. Ich weiß, dass sie keinen Grund dazu hat.“
Und dann dankte ich ihm, dass er mich sofort ins Vertrauen gezogen hatte. Zeigte es mir doch, dass er mich wieder an seine Seite holte – weil er mich brauchte.
Über genau diesen Ausdruck gerieten wir späterhin in einen Streit. Brauchen tue er niemanden, konstatierte er. Er habe mich wieder an seiner Seite gewünscht, weil er mich liebe, das sei der einzige Grund und habe nichts mit irgendeiner Notwendigkeit zu tun.
Ich fühlte mich tüchtig gerügt.
Als er erst nach Ablauf von zwei Wochen wieder bei mir vorsprach, nahm ich das Schlimmste an, so aschfahl waren seine Züge, so todtraurig der Blick.
„Was ist? Ist den beiden etwas geschehen? So sprecht doch!“
Geschlagen nahm er Platz und vergrub den Kopf in den Händen. Was er mir dann eröffnete, wäre unter normalen Umständen Anlass zum Jubel gewesen, doch der Keil, den es ihm ins Herz getrieben hatte, nahm ihm jegliche Freude und hinterließ nichts als eine klaffende Wunde.
Sein Bericht war konfus, irrwitzig und absurd. Und so konnte ich seinen Worten zunächst nichts weiter entnehmen, als dass Dorin fast in die Fänge eines Vampirs geraten sei. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er genau diesen Ausdruck gebrauchte, denn ich hatte extra nachgefragt, weil ich glaubte, mich verhört zu haben. Hatte er zuvor nicht von einem Vogelfänger gesprochen? Nein, es sei ein weitaus übleres Subjekt gewesen. Es hätte nicht viel gefehlt, und Dorin wäre für immer verloren gewesen, denn gegen das Gift dieses Bösen sei kein Kraut gewachsen.
Ich wagte nicht zu widersprechen. Dorin war also gerettet, entnahm ich den Worten, und somit auch Natalia. Das war die Hauptsache.
Nur dass sie rein gar nichts davon ahne, entgegnete er mir mit verzagtem Blick. Und der Kampf sei noch längst nicht entschieden, sondern beginne erst!
Ich begriff nichts von alledem, bis ich endlich erfasste, dass er den Kampf um seine Tochter gemeint hatte, die ihrem Vater unversöhnlich gegenübergetreten war. Sie werde auf keinen Fall zurückkehren, ihr Zuhause sei jetzt dort, bei Dorin, in seiner Heimat, in Iaşi. Und selbst wenn sie für den Rest ihres Daseins in ärmlichen Verhältnissen leben müssten, so sei dies allemal besser, als ohne jegliches Recht auf Selbstbestimmung von der Familie drangsaliert und missachtet zu werden. Die Unzufriedenheit ihres Bruders mit sich selbst habe eine Bestie aus diesem gemacht, die Strenge ihres Vaters sie auf immer vergrault.
„Du meine Güte, welch Dramatik!“, entfuhr es mir bei den wiedergegebenen Worten, die so gar nicht zu meiner Nichte passen wollten. Da wusste ich noch nicht, was dem Ganzen vorausgegangen war – ebenso wenig wie ihr Vater es bis dahin gewusst hatte –, denn sowohl Elena als auch Nicolae hatten ihm etwas Wesentliches verschwiegen.
Er war bestürzt, seine Tochter so kalt und abweisend anzutreffen. Nicht einmal Dorins beschwichtigende Worte hätten ihre Haltung zu mildern vermocht.
Aber mehr noch als das habe es ihn erschüttert, sie anderntags mit einem Säugling an der Brust vorzufinden. Dorin sei es gewesen, der ihm die Kleine hernach in die Arme gelegt habe. Da habe er weinen müssen, was Natalia reglos zur Kenntnis genommen habe.
Das Kind, habe sie mit harter Stimme erklärt, welches ihn jetzt zu Tränen rühre, sei dasselbe Kind, welches Nicolae ihr aus dem Leib habe reißen wollen.
Das sei ihr einziger Kommentar gewesen, der ihn ungläubig zurückgelassen habe. Erst auf Dorins Drängen hin habe sie ihm geschildert, was damals in der Stadtvilla vorgefallen war.
Über ein Vierteljahr lang habe sie Dorin entbehren müssen, um mich – ihre alte Tante – aufzufangen, deren Leben in England gerade in Tausend Stücke zerbrochen war. Und dann, als sie ihre Sehnsucht nach ihrem Geliebten endlich habe stillen und ihm bei jenem heimlichen Stelldichein in der Stadtvilla die frohe Botschaft habe verkünden wollen, sei Nicolae in ihr kleines Idyll eingebrochen und habe alles zerschmettert. Halb tot habe er ihren armen Dorin geprügelt und sie als Gefangene abgeführt. In den Stadtpalast habe er sie gesperrt, unter strenge Aufsicht gestellt und Dorin fortan als persona non grata erklärt und des Palastes verwiesen.
Ich konnte kaum fassen, was der Graf mir da wiedergab. Was war bloß in Nicolae gefahren? Wie hatte er eine solche Entwicklung nehmen können? Wie konnte er es wagen, über das Leben seiner Schwester dermaßen zu bestimmen und ihr Glück zu zerstören?
Vergeblich suchte ich nach irgendeiner Erklärung.
„Was hättet Ihr getan, wenn Ihr Natalia in dieser verfänglichen Situation angetroffen hättet? Wäret Ihr nicht auch wütend geworden? Hättet Ihr sie nicht auch bestraft? Nicolae stand allein davor.“
„Ganz bestimmt hätte ich beiden eine gehörige Abreibung verpasst für all ihre Geheimnistuerei. Aber danach, Judith, hätte ich ihnen meinen Segen erteilt. Denn etwas Besseres, als Dorin gänzlich in unsere Familie einzubinden und damit der Gefahr, die von ihm ausgehen soll, ein für alle Mal Herr zu werden, hätte uns gar nicht passieren können. Es hätte uns alle glücklich gemacht. – Dennoch muss ich mir einen Teil der Schuld anrechnen, denn ich war es, der Nicolae einst die Verantwortung für seinen Cousin übertrug. Ich sagte ihm damals, dass er für den Rest seines Lebens auf diesen achtzugeben habe und ich Dorin töten würde, falls dieser ihm entglitte. Aber das war zu einer Zeit, wo sich beide im Jünglingsalter befanden und mit ihren besonderen Kräften noch nicht maßzuhalten wussten, da sie unreif und unerfahren waren; und Nicolae seinen Cousin in Dinge eingeweiht hatte, die uns alle in Gefahr hätten bringen können. Inzwischen ist Dorin längst einer von uns, er ist mir wie ein weiterer Sohn. Anfänglich war er labil, ich musste mehr als einmal einschreiten – man denke an die Sache in Berlin und später in Paris. Aber in den letzten Jahren hat er seinen Weg gefunden und ihn unbeirrt fortgesetzt. Ich bin stolz auf ihn. – Einen einfühlsameren und fürsorglicheren Ehemann hätte ich mir für meinen kleinen Engel gar nicht wünschen können. Und ein anderer käme für sie höchstwahrscheinlich auch gar nicht infrage. Er ist das einzige Wesen auf Erden, das imstande ist, meine Tochter mit all ihren Ecken und ihrer oft schroffen Art zu lieben – und umgekehrt. Wer sonst wäre in der Lage, Dorins eigenartiges Wesen anzunehmen und innige Gefühle für ihn zu entwickeln? Nein, beide sind füreinander geschaffen. Und verdammt noch mal, Judith, ich will beide zurück! Wie kann Nicolae es wagen, unsere Familie derart auseinanderzureißen? Hat er vergessen, wie angreifbar wir dadurch sind? Was bewiesen wäre durch die Gefahr, die ich in Iaşi beseitigen musste.“
„Ich verstehe nur nicht, warum sich Natalia so unversöhnlich zeigt, wenn Ihr all das zu ihr gesprochen habt, um sie von Eurer Liebe zu ihr zu überzeugen.“
Ein