Meine teure Freundin, Königin Elisabeta, lebt in der Verbannung. Sie hat sich in ihre Heimat Deutschland zu ihrer gestrengen Frau Mama an den Rhein zurückgezogen, erzählt man sich. Elisabeta soll leidend sein.
Eine überaus peinliche Affäre ging dem Ganzen voraus. Ich kann kaum glauben, dass sie, die ich als äußerst verständige und pragmatische Frau kennengelernt habe, sich derart von einem kleinen Hoffräulein hat manipulieren lassen. Sie muss völlig vernarrt in diese gewesen sein, sie vielleicht als heimliche Tochter angesehen haben, die sie selbst nicht mehr hat und doch so schmerzlich vermisst. Wie traurig …
Was für eine emotionale Kälte muss am Hofe herrschen?
König Carol, der sich sonst von eiserner preußischer Disziplin zeigt, habe im letzten Jahr mehr als einmal die Beherrschung in Bezug auf seine Gattin verloren. Die Skandalblätter sollen brühwarm berichtet haben. Doch seit im Januar Kronprinz Ferdinand mit der überaus schönen, aber noch sehr jungen Maria – Enkelin Königin Victorias und Zar Alexanders II. – vermählt wurde, scheint Gras über die Sache zu wachsen. Die Gefahr für den rumänischen Thron ist beseitigt. Er ist wieder fest in europäischer Hand.
Nichts fürchten die Rumänen so sehr wie sich selbst.
Wie es Nicolae wohl geht? Ich sehe kaum noch etwas von ihm.
Er kann von Glück sagen, dass sein Vater ihn rechtzeitig in Sicherheit brachte. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten uns alle ausgelöscht. Alle wie wir da sind. Also auch mich.
Einem erneuten „Erdbeben“ sind wir nur knapp entkommen.
Sie vermögen uns immer dann aufzuspüren, wenn wir Schwäche zeigen, wenn die Familie nicht intakt ist. Weil wir nur als Ganzes funktionieren wie ein einziger lebender Organismus, der alle seine Gliedmaßen benötigt, um sich im Kampf zu behaupten, selbst den kleinen Zeh. Ja, ich beziehe mich mittlerweile mit ein, denn ich gehöre untrennbar zu ihnen, auch wenn es fast ein Leben lang brauchte, um dies zu begreifen.
Es ist wie einst in jener magischen Nacht beim „Auge des Herrn“, als ich scheinbar allein und von allem befreit ins Nichts eintauchte, und erst hinterher gewahrte, dass wir alle zugleich aus demselben Traum wieder aufgetaucht waren, einer einzigen Träne gleich, die an Seinem Wimpernrand hängen geblieben war. Mein Alleinsein war nur Trug gewesen. Ich stand gleich dem Gestirn im festen Verbund mit ihnen. Die Familie umgab mich schützend wie jeden einzelnen von uns. Nie zuvor hatte ich so viel Glückseligkeit empfunden wie damals auf der nächtlichen Picknickwiese, als Hansemann unterm Sternenhimmel Eminescu* rezitierte und Nicolae und Sergej ihren psychedelischen Tanz darboten, der selbst Maître Jacques, Meister des Tanzes, in Begeisterung versetzt hatte. Es war eine Nacht voller Zauber – verstörend klar und wirr zugleich.
Ich bin jungfräulich in die Ehe gegangen, so unglaublich das auch klingen mag. Er hat es mir in der Hochzeitsnacht von den Augen abgelesen und konnte es kaum fassen. Ich muss wohl schlotternd auf der Bettkante gesessen haben wie ein einfältiges Kind, das zum ersten Mal einem Manne in seiner ganzen Leibhaftigkeit begegnet – als wäre ich nicht jahrelang mit Edward verheiratet gewesen.
Offiziell war ich Mrs. Williams, das ist amtlich, so steht es in den Kirchenbüchern. Aber wir haben die Ehe nie vollzogen. Das heißt nicht, dass wir einander nicht zugetan gewesen wären. Es war eine durchaus zärtlich zu nennende Verbindung, die mich voll und ganz befriedigte. Mir mangelte es an nichts. Es war auch keineswegs so, dass mir Edward in unserer Hochzeitnacht nicht hätte näherkommen wollen. Nur war er ein sehr rücksichtsvoller Mensch. Vielleicht zu rücksichtsvoll. Niemals hätte er mir wehtun können, nicht einmal auf diese offiziell erlaubte, gesetzlich wie kirchlich abgesegnete Weise. Schließlich waren wir keine jungen Leute mehr, welche die Neugierde des bisher Verbotenen trieb. Kurz und gut, Edward hat mich heil gelassen. Wir machten uns beide nicht viel aus körperlichen Dingen, es waren mehr die geistigen Triebe, die uns verbanden.
„Echte Viktorianer“, flüsterte mein jetziger und einzig wahrer Gatte ungläubig und löste mein Nachtkleid. „Ich will dich ganz, Judiţa“, sagte er, während er seine Blicke zärtlich über meinen unberührten Leib gleiten ließ, „mit Leib und Seele, denn beides gehört untrennbar zu dir und nunmehr auch zu mir. Gib dich mir hin, mein unschuldiges Herz, so werde auch ich mich dir heute Nacht hingeben. Verliere dich in mir und wandle mit mir zusammen durch mein Reich, das kein Sterblicher bisher zu sehen bekam.“
Es war kein romantisches Liebesgeflüster, es war eine Einladung, die Welt unserer Vorfahren zu erkunden. Und so taten wir die folgenden drei Nächte …
Aus Judiths Tagebuch VI
Mein Gott, wie lange es gebraucht hat, diesen Sprung zu tun! Den Sprung über den eigenen Schatten. Den Sprung in ihn.
Mable stieß mich. Sie könne die selbst bereiteten Qualen der Herrschaften nicht länger ertragen. Man sollte mich mit ihm in ein Turmzimmer sperren und erst wieder herauslassen, wenn …, grummelte sie und schüttelte verständnislos den Kopf. Worauf ich noch warten würde? Mehr Gelegenheiten könne ein Mann seiner Angebeteten doch wohl kaum bieten.
Nur, dass ich diese mal wieder alle übersehen hatte.
Aber wäre es nicht an ihm, sich mir zu erklären?, wandte ich ein.
Ob er das nicht schon genug getan hätte mit seinen täglichen Besuchen? – Es war die Zeit, nachdem er mir von Natalias und Dorins Verschwinden erzählt hatte und ich fiebernd zu Bett lag. – Und all die Blumen, das viele Obst, die teuren Pralinen, ganz zu schweigen von den Blicken! Von solchen könnten sie daheim in England doch nur träumen. Jeder Blinde sehe, dass er mich anbete.
Ich glaube, ich wurde tatsächlich rot.
Ich malte mir tausend und eine Situation aus, doch sobald sie Realität zu werden drohte, wurde ich wieder zu einer Gefangenen meiner selbst. Hinterher verfluchte ich mich dafür. Ich wusste ja, dass ich nur einen einzigen Schritt zu tun brauchte. Nur einen!
Je mehr Mable mich drängte, je mehr ich mich selbst nötigte, desto unmöglicher erschien es mir. Bis ich in eine völlige Starre verfiel, sobald er in meiner Nähe war.
Eines späten Abends Anfang Mai – ich hatte mich inzwischen von meinem Fieber erholt und er führte mich regelmäßig zu kleinen Spaziergängen aus, bei denen wir nebeneinander auf der Parkbank saßen, sodass sich zumindest unsere Kleidung berührte oder sich unsere Hände beim Aufstehen zufällig streiften, bevor wir sittsam eingehakt den Parksee umrundeten – kam er in meine Wohnung gestürmt. Gestürmt ist das richtige Wort, denn Mable wich ängstlich vor ihm zurück, nachdem sie ihm die Tür geöffnet hatte, wie sie mir hinterher berichtete. Er stand mit sichtbar gehendem Brustkorb im Flur, drückte ihr – ohne ihr wie sonst ein Zwinkern zu schenken – Stock und Hut in die Hand und verschaffte sich, ohne sich anmelden zu lassen, Zutritt in mein Schlafgemach, wo ich mich gerade für die Nacht zurechtmachte. Erschrocken fuhr ich von meiner Frisierkommode hoch und griff nach meinem Schultertuch.
„Exzellenz“, stieß ich überrascht aus, doch er ließ sämtliche Anstandsregeln fallen und wedelte ohne ein Wort der Begrüßung mit einem Brief vor meiner Nase. Noch nie zuvor hatte ich ihn in einem solch aufgewühlten Zustand erlebt.
„Endlich …“ keuchte er atemlos. „Er wurde mir vor einer halben Stunde zugestellt.“
„Ist er etwa von –“
„Dorin!“ Er war derart erregt, dass er kaum einen Satz herausbrachte. „Lesen Sie selbst, Judith!“, drängte er mich, was ich tat.
Unterdessen schritt er unruhig im Zimmer auf und ab.
„Wissen Sie, was das bedeutet?“, fragte er ungeduldig, während ich noch in die Zeilen vertieft war. „Begreifen Sie das Ausmaß?“
Nach Beendigung der Lektüre starrte ich ihn fassungslos an. Eine Hochstimmung schien von ihm Besitz ergriffen zu haben. Aber Dorins Zeilen gaben alles andere als Anlass dazu, im Gegenteil, sie versetzen mich in Angst und Schrecken. Zwar begriff ich nicht die Zusammenhänge, aber doch so viel, als dass sich beide in furchtbarer Gefahr befanden. Mit