Am nächsten Morgen erwachte ich mit einer heftigen Migräne. Das ganze Leid meiner Familie und mein eigenes zerrten an mir.
Wie egoistisch ich gewesen war, nur an das meine zu denken, wo er mir gerade das seine im vollen Ausmaße offenbart hatte; wo ich seinem Schmerz direkt ins Antlitz geblickt hatte.
Mable musterte mich mit ängstlichen Blicken. Sie schien sich an die Zeit direkt nach Edwards Tod zu erinnern, in der ich kurz davor stand, den Verstand zu verlieren. Sie erinnerte sich glücklicherweise auch daran, dass der Graf allein es vermocht hatte, mich zu retten.
Die folgenden Tage musste ich das Bett hüten, von heftigen Kopfschmerzen und fruchtbaren Träumen geplagt. Ein Schüttelfieber gesellte sich dazu, wie immer wenn meine Gefühle für ihn mit im Spiel waren. Seltsam, erst da erkannte ich es. So spät.
Meine Mable hat Cupido gespielt. Nicht absichtlich, sondern weil sie sich keinen anderen Rat wusste zwischen all meinen selbstzerstörerischen Tränen und Träumen, die nicht enden wollten.
Mir war klar, dass, wenn ich von irgendeinem Nutzen für meine Familie sein wollte, ich mich wieder in den Griff bekommen musste; wusste, dass er wieder einen Fels in der Brandung brauchte, da er selbst am Boden zerstört war – ebenso wie der vom Vater ins Höhennest verbannte Nicolae; ebenso wie Natalia und Dorin, die fernab der Familie in einer für sie fremden und diesen Wesen feindlich gesinnten Welt ums Überleben kämpften; ebenso wie die arme Miss Farrell, deren Hochzeit geplatzt war wie eine schillernde Seifenblase, der Bräutigam in Ungnade, die einzige Freundin und Schwägerin in spe im Exil …
Aller Träume hatten sich von jetzt auf gleich in Nichts aufgelöst. Und ich lag da, wälzte mich auf tränen- und fieberfeuchtem Laken und bedauerte mich selbst. Scham überkam mich, sodass ich mich am liebsten in den dunkelsten Winkel der Welt verkrochen hätte, um nie mehr daraus hervorzukommen. Und diese Scham entfachte ein Fieber in mir, dass ich glaubte, daran zu verglühen.
Wie schon einmal vor vielen Jahren saß er plötzlich an meinem Bett. Draußen war es bereits dunkel. Seine kühle Hand auf meiner heißen Stirn tat gut. Besorgt blickte er mir ins Gesicht.
„Es ist meine Schuld“, sagte er geknickt und tauchte einen Schwamm in die nebenstehende Wasserschüssel. „Ich hätte Ihnen das nicht zumuten dürfen. Bitte verzeihen Sie mir.“
Behutsam tupfte er mir die Stirn. Sein bleiches Gesicht war, obwohl von Kummer gezeichnet, immer noch schön. Wie gern ich meine Hand danach ausgestreckt hätte, um es zu berühren, oder um die dunkle Haarsträhne, die ihm beim Vorbeugen ins Gesicht gefallen war, wieder hinter sein Ohr zu streifen. Sie war von etlichen grauen Haaren mehr durchzogen als damals.
„Es ist meine eigene Schuld, Exzellenz“, erwiderte ich mit fiebertrockenem Mund, „weil ich es immer noch nicht vermag, mein selbst angelegtes Korsett zu sprengen, obwohl ich mit der festen Absicht herkam, dies zu tun.“
„Werden Sie gesund, Judith, dann sehen wir weiter …“
Er erhob sich und gab Mable irgendwelche Anweisungen, bevor er ging. Sie schien erleichtert. Ich war es auch.
Aus Judiths Tagebuch IV
Vor der Zufriedenheit kam die Lust. Sie ist die Voraussetzung für Zufriedenheit. Nicht für die oberflächliche Zufriedenheit, die man auf die Frage „Wie geht’s“ antwortet, nur um den Fragenden zufriedenzustellen. Sondern für die tiefe, tatsächliche Zufriedenheit, die einen durch und durch erfüllt, sofern der Lust Genüge getan wurde.
Während die Zufriedenheit gesellschaftsfähig ist, man sich getrost zu ihr bekennen darf, ist die Lust etwas Verwerfliches. Sie unterstellt dem Menschen etwas Triebhaftes. In seiner Gier danach tut er Böses, um zu bekommen, was er sonst erst im Tod erreichen kann – Erlösung. Ich erfahre sie bereits auf Erden, denn ich bin eine Auserwählte. Das gibt es wirklich! Ich setze Glück an.
Früher aß ich lediglich, um meinen Hunger zu stillen. Ich aß nur so viel, bis ich gesättigt war und mein Körper mir signalisierte, dass er genug hatte. Die Mahlzeit diente einem puren Zweck. Jetzt esse ich über diesen Moment hinaus – aus purer Lust. Einer sinnlichen, aber nicht maßlosen Lust, die zu genießen er mich gelehrt hat.
So wie er mich gelehrt hat, meinen Körper zu genießen, ihn mit Freude zu erleben. Früher war mein Körper lediglich ein Werkzeug meines Geistes und wurde ausschließlich für die Arbeit eingesetzt. Genuss kannte er nicht. Wenn ich meinen geplagten Leib zu Bett legte, meinte ich so etwas wie Zufriedenheit zu verspüren, die meine Glieder durchfuhr. Der nachlassende Schmerz war mir Lob eines arbeitsreichen Tages.
Er hat mich Lust gelehrt. Lust, die vor der Zufriedenheit kommt, sie bedingt. Lust am Wahrnehmen, um Genuss überhaupt erst zu empfinden. Er hat all meine Sinne zum Leben erweckt. Nicht im sündigen Sinne, sondern im gottgefälligen.
Ich genieße echte Glücksmomente. Seine Liebe geht in die Tiefe, ist allumfassend. Mein Herz ist voll von ihm und voll von Glück.
Kaum vorzustellen, dass ich je ohne ihn war.
Er nennt mich Judiţa. Wie zärtlich das im Rumänischen klingt!
Judiţa hat nichts mit der alten Judith gemein. Sie ist eine völlig andere Frau. Judiţa ist vor allem eine Frau!
Aus Judiths Tagebuch V
Wir machen Spazierfahrten auf der Kiseleff. Wie verändert mir die Stadt plötzlich vorkommt. So vornehm, so mondän. Es sind in den letzten Jahren viele neue Gebäude vorwiegend im französischen Stil entstanden. Schicke Hotels und Paläste sowie öffentliche Gebäude.
Es lebt sich gut in Klein-Paris, wie es dieser Tage genannt wird. Sogar einen Triumphbogen haben wir seit unserer Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich, wenn auch nur aus Holz.
Daneben werden auch viele neue Häuser im neo-rumänischen Stil gebaut, worauf Vitalie mich regelmäßig hinweist. Hier stehe Ost neben West, fügt er augenzwinkernd hinzu, während wir Hand in Hand in der offenen Kalesche die prächtigen Villen an uns vorüberziehen lassen. Man kann zwischen all dem grünen Blattwerk nur hier und da einen kurzen Blick auf sie erhaschen, so dicht sind die Kronen der Straßenbäume entlang der Chausseen. Dann aber kitzelt das Auge ein verspieltes Detail nach dem anderen aus Stuck, Schmiedeeisen oder buntem Glas. Es gibt wohl kaum eine Stadt, in der mehr antike Götter und Sagengestalten bemüht werden, verzierte Söller und Balkone zu tragen, prächtige Portale zu bewachen oder hinter Rundkuppeln versteckt die Wege der Menschen zu beobachten. Während dort noch eine Putte mit Amors Pfeil auf einen Passanten zielt, grinst demselben die dämonische Fratze eines Satyrs vom gegenüberliegenden Erker hinterher. Die Vorübergehenden ahnen nicht einmal, wer ihre Geschicke lenkt.
Gelegentlich führt uns unser Weg in die Casa Capşa. Die Ananastörtchen dort sind ein Traum! Man trifft auf wichtige Männer aus Kultur und Politik, manchmal sogar mitsamt ihrem schmückenden Beiwerk, zu dem ich mich jetzt ebenfalls zählen darf.
Seltsam, dass es mir gar nichts ausmacht.
An seiner Seite zu sein, ist mehr als genug. Es ist eine Ehre. Die ich endlich zu schätzen weiß.
Zuweilen habe ich Angst. Angst vor dem Erwachen. Es ist schön in seinem Traum zu leben. Erfüllend.
Am Abend sprechen wir über das Erlebte. Er lässt mich hinter die Kulissen schauen, zeigt mir die wahren Gesichter. Es sind nicht alle hässlich und von Habsucht oder Geltungsdrang verzerrt. Es gibt noch Menschliches aus Fleisch und Blut unter den Mächtigen, wenn auch selten. Diese gilt es zu stärken. Diesen gilt es zu den richtigen Kontakten zu verhelfen, damit sie ihre Kräfte bündeln können.
Unser König ist übrigens eine Marionette. Die Strippenzieher sitzen im Café Capşa oder im Grand Hotel Broft – Aristokraten, Diplomaten und Militärs aller Herren Länder.
Dort, in der Podul Mogoşoaiei – die jetzt Calea Victoriei heißt, seit 1878 der Siegeszug nach dem gewonnenen Unabhängigkeitskrieg hindurchführte –, wird die Zukunft gebraut: beim Mittagessen, beim Fünfuhrtee oder beim Souper;