Nicolae: An der Quelle - Band 7. Aurelia L. Porter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Aurelia L. Porter
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Nicolae-Saga
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347053854
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entfuhr es mir bestürzt, „sprecht Ihr etwa von …“

      „Natalia.“

      „Ich verstehe nicht, was heißt: sie ist fort? Ist sie etwa von zu Hause weggelaufen?“

      „Schlimmer“, antwortete er, indem er sein Kinn ein wenig in meine Richtung hob. „Sie wurde vertrieben – von ihrem eigenen Bruder. Er schickte sie in die Verbannung. Sie floh in ein freiwilliges Exil, wo immer das auch sein mag. Ich kann sie nicht erreichen, sie hat, wie damals Nicolae, die Bande zu mir gekappt. Jetzt ist sie ganz auf sich allein gestellt.“

      Es folgte ein stimmloser Seufzer, mit dem sämtliche Kraft aus ihm zu weichen schien.

      „Sie fand keinen Rückhalt, denn ich war nicht da. Ich hatte einen langjährigen Freund zu betrauern … Doch selbst wenn ich zum fraglichen Zeitpunkt dagewesen wäre, hätte sie sich mir nicht anvertraut. So sehr fühlte sie sich von mir allein gelassen.“

      Ich sah ihn schlucken, und als er seinen Blick endlich auf mich richtete, schimmerten seine Augen dunkler denn je.

      „Seit wann …“, fragte ich mit versagender Stimme.

      „Kurz vor Weihnachten“, kam die unglaubliche Antwort, worauf er tief Luft holte und sich beim Ausatmen übers Gesicht fuhr.

      Fassungslos saß ich neben ihm und versuchte zu begreifen.

      Das also waren die Familienangelegenheiten, mit denen sie mich nicht hatten belasten wollen … Die bleichen Gesichter kamen mir wieder in den Sinn, Elenas verweinte Augen, Nicolaes erstarrte Züge, des Grafen zorniges Funkeln, derweil ich Natalia bei Miss Farrell im Karpatenschloss glaubte. Keiner hatte mir etwas gesagt.

      Die Hochzeit sei verschoben worden, hatte man mir kurz darauf mitgeteilt, Miss Farrell fühle sich seit geraumer Zeit nicht ganz wohl, was mir Nicolaes anschließenden und dauerhaften Aufenthalt im Karpatenschloss erklärte.

      Erst jetzt erfuhr ich, dass der Graf ihn dorthin verbannt hatte.

      Es sei übrigens nicht nur Natalia betroffen. Zuvor sei Dorin von Nicolae des Hauses verwiesen worden – ausgerechnet er!

      „Dorin?“, wunderte ich mich. „Aber warum?“

      „Weil die beiden Verschwundenen sich lieben.“

      „Dorin und Natalia sind ein Liebespaar? Das habe ich nicht gewusst“, erklärte ich idiotischerweise, denn offenbar hatte es keiner gewusst. Obwohl, wenn ich heute so darüber nachdenke, hatte sich bereits zu Londoner Zeiten eine traute Zweisamkeit zwischen den beiden entwickelt. Allerdings hatte ich nie mehr darin gesehen als eine innige Beziehung zwischen Cousin und Cousine, die in ihrer jeweils eigentümlichen Art begründet lag.

      „Ich habe es gewusst“, erwiderte er.

      Überrascht blickte ich zu ihm auf.

      Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas und ließ ihn langsam die Kehle hinunterlaufen.

      „Ich wusste, wie es in Natalias Herzen aussah, seit sie damals nach dem Angriff auf Dorin nicht mehr von seiner Seite hatte weichen wollen; seit Dorin die Flucht nach Wien ergriffen hatte, sobald er wieder zu Kräften gekommen war, um sie sich aus den Kopf zu schlagen; und seit er das ganze letzte Jahr vor lauter Nervosität das Zittern bekam, sobald er mich sah, weil er sich zu sehr fürchtete, bei mir um ihre Hand anzuhalten. – Ich hätte ihm entgegenkommen können, aber ich wollte, dass er sich überwindet; dass er um meine Tochter kämpft; dass er seinen Mann steht … Wie hätte ich all das absehen können, wie hätte ich ahnen sollen, dass Nicolae derart überreagiert?“

      Mich traf sein verzweifelter Blick.

      „Der schlimmste Schlag jedoch ist nicht einmal Nicolaes Verhalten, der immer mehr unserem Vorfahren nachkommt, ohne dass ich es zu verhindern wüsste, sondern der Brief Dorins und Natalias, der mich kurz vor Weihnachten erreichte und in dem meine Tochter mir ihr Vertrauen entzog. Ihre Worte erschüttern mich noch immer, und doch muss ich zugeben, dass … aus ihrer Sicht …“

      Seine Stimme versagte, ich sah ihn um Fassung ringen.

      Bestürzt saß ich neben dem geschlagenen Vater, dem ohnmächtigen Grafen, dem flügellahmen Engel, der so kläglich am Boden flatterte, dass ich es kaum ertragen konnte. Tröstend hob ich meine Hand, um sie ihm auf die Schulter zu legen, ließ sie aber wieder sinken. In mein anfängliches Mitleid mischte sich helle Empörung.

      Über ein Vierteljahr lang, stieß ich atemlos hervor, habe er diesen Kummer mit sich herumgetragen und gemeint, ihn ganz allein stemmen zu müssen? Warum ich ihm nicht wie früher zur Seite stehen dürfe? Warum er diese Last nicht mit mir teile? Ob ich keinerlei Recht mehr dazu besäße? Ob ich nicht mehr zur Familie gehörte, ob ich in seinen Augen denn gar nicht mehr zählte …

      Und im selben Maße, wie sich nun meine Tränen an die Oberfläche drängten, stockten die seinen. Überrascht schaute er mir ins Gesicht. Dann durchfuhr ihn ein jäher Schmerz und mir war, als ob er sich mir von einer Sekunde zur nächsten wieder verschließe.

      Enttäuscht wandte ich mich ab. Er sagte sekundenlang nichts, dann reichte er mir wortlos sein Taschentuch. Ich nahm es mit geflüstertem Dank entgegen und knetete es in meinen Händen. Der aufsteigende Duft – sein Duft – entfachte die Sehnsucht in mir. Behutsam trocknete ich mir damit die Wangen. Dann räusperte ich mich und bat ihn um Verzeihung. Es sei äußerst unpassend von mir, in dieser Situation die Gekränkte zu spielen. Wir sollten lieber überlegen, was zu tun sei.

      „Aber ich habe Sie gekränkt, Mrs. Williams“, erwiderte er und steckte das tränenfeuchte Tuch ein. Er erhob sich, um nun mir einen Armagnac einzuschenken. Als er mir das Glas reichte, zitterten meine Hände derart, dass ich es nicht entgegennehmen konnte.

      „Sehen Sie?“, sagte er und stellte es auf dem Tischchen neben mir ab. „Genau das habe ich vermeiden wollen. Sie sind noch in Trauer, Mrs. Williams, Sie haben die Selbsttötung Ihres Gatten und die fragwürdigen Umstände noch nicht überwunden.“

      Es sei morgen auf den Tag genau ein Jahr her, rief ich ungehalten. Viel schlimmer als das Ende meines bisherigen Lebens, sei, dass ich mein neues nicht antreten dürfe. Ich hätte gehofft … Weiter wagte ich nicht zu sprechen.

      „Nehmen Sie einen Schluck, Mrs. Williams.“

      „Ich will aber keine Mrs. Williams mehr sein!“, schrie ich ihm ins Gesicht, während ich ihm das dargebotene Glas aus der Hand schlug. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war, dass ich derart die Beherrschung verlor. Beschämt sah ich zu, wie er sich die Flüssigkeit vom Revers seines Rockes tupfte.

      „Ich werde wohl besser gehen“, murmelte er daraufhin.

      „Nein! Das will ich erst recht nicht.“ Es mag zwar besänftigt, aber dafür ziemlich verzweifelt geklungen haben.

      „Was wollen Sie denn?“

      „Ich will zurück in Eure Welt.“

      „Ich stehe nur eine Armlänge von Ihnen entfernt, Mrs. Williams, Sie bräuchten nur einen einzigen Schritt zu tun.“

      „Ich weiß nicht, wie.“

      „Tun Sie ihn einfach!“

      „Könntet Ihr mir nicht Eure Hand reichen?“

      „Nein, ich habe sie oft genug nach Ihnen ausgestreckt. Ich will mir nicht den Vorwurf machen lassen, ich hätte Sie gegen Ihren Willen gezogen. Diesmal müssen Sie ganz allein eintreten. Die Türen stehen Ihnen offen, wie sie es stets getan haben …“

      Mit diesen Worten erhob er sich und ging.

      Ich heulte die ganze Nacht, zerrte mir an den Gliedern und riss mir an den Haaren. Ich glaube, ich war niemals zuvor so verzweifelt in meinem Leben wie in jener Nacht. Mable, die ich mit meinem Getobe immer wieder aus dem Schlaf riss, hatte ihre liebe Not.

      Er hatte mich fernhalten wollen von seinem Leid, weswegen ich ihm zürnte. Da begriff ich, dass er mich hatte schonen wollen, weil er wusste, dass sein Leid auch mein Leid war, welches er mir nicht zusätzlich hatte aufbürden