Wenn er schon wegen des Standesunterschiedes nicht als mein Geliebter noch wegen des zu geringen Altersunterschiedes als mein Vater in Betracht käme, dann vielleicht als mein großer Bruder?
So verlor ich mich in albernen Tagträumereien bis in den späten Abend hinein. Die Nacht gehörte ganz ihm – also gedanklich. Ich lag im Hotel auf meinem Queensize-Bett und hatte seine Stimme im Ohr, seinen Rasierwasserduft Taylor of Old Bond Street in der Nase und seinen tiefen Meeresblick vor Augen.
Hotelier … Darum grüßten ihn alle so respektvoll, darum hatten wir den schönsten Tisch bekommen. Ein reicher Hotelbesitzer also. Den hatte man ihm während des Ausflugs jedoch nicht angemerkt. Er ist leger gekleidet gewesen, wahrscheinlich aus Rücksicht auf mich. Trotzdem wirkten sein Polohemd und Sportjackett wie alles an ihm exklusiv. Er war ausgelassen, hat gelacht und gescherzt. Stolz hat er mir den gotischen Prachtbau präsentiert, die Mutterkirche der anglikanischen Glaubensgemeinschaft.
Anschließend hat er mich in einen Pub geführt. Es waren ganze Familien dort versammelt gewesen, Jung und Alt. Nicht wie bei uns, wo in schmierigen Eckkneipen nur ein paar olle Suffköppe rumhängen und ihr kümmerliches Dasein fristen, ein Skatblatt nach dem anderen dreschen oder mürrisch vor sich hin grummelnd Bier und Korn kippen. Percy bestellte mir eine Apple Pie mit Custard zum Tee. Er selbst trank lediglich ein Stout und rauchte zwei Zigaretten. Wieder traute ich mich nicht, in aller Öffentlichkeit eine von ihm anzunehmen, man hätte sonst meinen können, der große Bruder verführe seine kleine Schwester zum Rauchen. Als ich mit meinem Apfelkuchen fertig war, beugte er sich lächelnd vor und wischte mir mit dem Daumen einen Krümel aus dem Mundwinkel. Es war eine fürsorgliche, eine fast zärtlich zu nennende Geste. Ich hätte ihm die Hand dafür küssen mögen, wenn nicht noch mehr.
Das böse Erwachen erfolgte erst am Montagmorgen mit dem Erscheinen meiner Tante. Ich habe keine Lust, sie näher zu beschreiben, denn sie ist mir durch und durch unsympathisch, und diese Antipathie verstärkte sich noch um ein Vielfaches, nachdem sie mir diese verworrene Geschichte um die Ohren geschlagen hatte.
Aber der schlimmste, der allerschlimmste Faustschlag, der mich mitten in die Magengrube traf, war, als Percy hinzutrat und meine Tante mit einem Wangenkuss begrüßte. Hielt ich sie für eine Schrecksekunde noch für ein Liebespaar, wurde in der nächsten dieser Irrtum aufgeklärt, indem er sie ebenfalls mit „Tante“ anredete. Percy ist mein Großcousin. Und ich hasse ihn gründlich dafür.
Übermorgen reise ich ab, komme was wolle. Und dann kann diese ganze englische Mischpoke mich mal kreuzweise. Ich will nichts mit ihnen zu tun haben.
Und diese Bruchbude hier können sie auch geschenkt haben!
Nur warum komme ich mir dann wie eine Verräterin vor?
Warum erfüllt es mich mit einer solchen Traurigkeit, das Cottage zu verlassen?
Der letzte Spross (1) – Das Leben der Elke Hansen
Kürzlich fand ich beim Aufräumen einiger Schubladen die Reisenotizen meiner Mutter wieder. Sie hatte sie in ein dickes Heft geschrieben in ihrer mädchenhaft verspielten Schrift, ihre Punkte glichen kleinen Kringeln. Fast ist mir, als verströme das Papier noch immer den unschuldigen Geruch von Kaugummi und Zigarettenrauch – der Inbegriff der damals revoltierenden Rockabilly-Jugend, die noch keine Ahnung von der echten Jugendrevolte hatte, die nur wenige Jahre später über die westlichen Gesellschaften hinwegrollte und diese nachhaltig verändern sollte. Ob ausschließlich zum Besseren, darf bezweifelt werden. Die pastellige Doris-Day-Welt meiner Mutter jedenfalls wurde dabei brutal zerstört und durch schrille Flower-Power ersetzt. Sex & Drugs getarnt als Love & Peace. Erlaubt war alles außer Spießertum. Wie dieses definiert wurde, entschied eine einzige Generation und deren intellektuellen Unterstützer. In Deutschland stempelte diese die vorherige völlig undifferenziert zu Biedermännern, sprich Mitläufern, oder Nazis, sprich: Täter ab. Wer einen Gartenzwerg zwischen den Beeten stehen hatte und Volksmusik hörte, machte sich zwangsläufig verdächtig. Die Kohlroulade am Sonntag setzte dem Ganzen die Krone auf.
Meine Mutter war ein Kriegskind ohne Eltern, mit einem unbekannten Vater und einer Mutter, die plötzlich keine mehr war. So hatte es ihr eine auf einmal auftauchende Sippschaft verkündet. Meine Mutter wurde in mehrfacher Hinsicht komplett entwurzelt.
Eine Erbschaft rief sie damals, im Jahr 1961, von Deutschland nach England, wo ihr höchst Merkwürdiges widerfuhr. Ihre Erlebnisse hat sie in ihren Reisenotizen niedergeschrieben, die ich zu Beginn dieser Aufzeichnungen wortgetreu wiedergegeben habe.
Verwirrt reiste sie zurück nach Hamburg, die einzige Heimat, die sie bis dahin gekannt hatte. Nachdem ihre dort in dürftigen Verhältnissen lebende Ziehmutter ihr plötzlich die Tür wies, kam ihr ihre Heimatstadt mitten im heißen August plötzlich kalt und fremd vor. Sie schlüpfte vorübergehend bei ihrer Freundin Gisela unter, suchte sich eine Stelle als Stenotypistin bei einer großen Handelsfirma im Hafen, mietete eine muffige Bude mit Blick auf einen düsteren Hinterhof und ging sonntags zum Tanztee, in der Hoffnung … na, wie man eben damals meinte, sich einen Ehemann angeln zu können, um gemeinsam in eine vermeintlich bessere Zukunft zu segeln.
Es funktionierte nicht. In jedem jungen Mann, dem sie begegnete, suchte sie den von ihr offen gehassten und heimlich geliebten Percy. Diesen als bloße Urlaubsbekanntschaft zu bezeichnen wäre ein britisches Understatement. Sie vermisste seine meeresblauen Augen ebenso wie seine etwas dandyhaft nonchalante Art, den Duft seines teuren Rasierwassers ebenso wie sein Grübchen am Kinn.
Ein Teenie-Schwarm? Nein, eher ein Traumprinz, der wie eine Seifenblase zerplatzte, sobald sie ihn berührte. Zudem ihr Großcousin.
Mehr und mehr wurde ihr bewusst, dass er – sowie die noch inniger gehasste Tante Nelly – die einzigen Verwandten waren, zu denen sie hätte Kontakt aufnehmen können. Die andere Hälfte der Sippschaft lebte hinter dem Eisernen Vorhang. Fremde Leute, die aus einer fremden Kultur und einer fremden Kaste stammten.
Obwohl meine Mutter sich geschworen hatte, nie mehr nach England zurückzukehren, wo man ihr ihr ganzes bisheriges Leben gestohlen hatte, spürte sie mit Einzug des Herbstes so etwas wie eine unerklärliche Sehnsucht in ihrem Herzen. Sobald sie ihr düsteres Zimmer nach einem arbeitsreichen Tag betrat, kehrten ihre Gedanken zu dem Cottage zurück, in dem sie für ein paar herrlich zwanglose Sommertage mit Cola und Zigaretten gehaust hatte. Sie bestand immer auf den Ausdruck „gehaust“, will heißen: jenseits jeglicher Kontrolle und Benimmregeln.
Meine Mutter kehrte vorerst nicht dorthin zurück, denn wenige Monate später kam ich zur Welt. Wer eins plus eins zusammenzählen kann, braucht nicht mehr nach meiner Augenfarbe zu fragen.
Der letzte Spross (2) – Die verlorenen Seiten
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass die Reisenotizen meiner Mutter erst der Anfang einer äußerst seltsamen Reise in die Vergangenheit waren, die anzutreten sie mir strikt untersagte. Und doch hatte sie Spuren für mich ausgelegt, denen ich zu folgen nicht widerstehen konnte.
Ihre „wehmutsvolle Phase“, wie ich diese zu nennen pflegte, war die einzige Zeit, in der wir uns als Mutter und Tochter nahe waren. In dieser überreichte sie mir die herausgefallenen Tagebuchseiten der in ihren Reisenotizen erwähnten Judith, welche ihr in ihren letzten Tagen im Cottage auf so ominöse Weise abhandengekommen waren. Sie hatte sie bereits durchnummeriert, um sie in die richtige Reihenfolge zu bringen.
In deren Besitz war sie auf höchst profane Weise gelangt. Eines Tages wurden sie ihr in einem großen braunen Umschlag per Kurier zugestellt. Ich erinnere mich noch, ich mag fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, dass sie tagelang in diese vertieft war und verstört wieder aus ihnen auftauchte. Sie reichte Urlaub ein, brachte mich bei einer Freundin unter und kehrte Wochen später noch verstörter nach Hause zurück.
AUS JUDITHS TAGEBUCH
189 … ? (leider unleserlich, da die Tinte verwischt ist, doch offensichtlich zu einem deutlich späteren Zeitpunkt notiert als die Handlung)
Mein Weg zum Ziel war beschwerlich