In Bukarest wurde ich in eine schicke möblierte Wohnung nahe dem Stadtpalast einquartiert, so lange die Stadtvilla für mich renoviert wurde. Dadurch blieb ich außen vor und bekam von den jüngsten Ereignissen und internen Familienangelegenheiten kaum etwas mit. Es kränkte mich, dass ich von allem ferngehalten wurde, als ginge es mich nichts mehr an, als wäre ich nur eine entfernte Verwandte, die zu Besuch gekommen war und irgendwo beherbergt werden musste – nach allem, was ich zusammen mit dieser Familie durchgestanden hatte.
Was blieb mir anderes übrig, als geduldig in meiner neuen Bleibe auszuharren? Immer mehr versank ich in Selbstzweifel. Sollte ich mich in allem so sehr getäuscht haben? Hatte ich mir die starken Bande nur eingebildet? War ich aus purer Trauer einer Träumerei erlegen oder einem Wunschbild aufgesessen? War ich, wie einst, einfach nur die englische Tante?
Wie hätte ich wissen sollen, wie es in seinem Herzen aussah?
Er führte mich gelegentlich aus, wirkte aber trotz seines charmanten Gebarens angespannt und mit den Gedanken woanders. Meinen Nachfragen wich er geschickt aus.
Meist verabschiedete er mich mit einem galanten Handkuss auf offener Straße. Im nächsten Augenblick sah ich nur noch seinem Schatten in der abfahrenden Kutsche hinterher. Wie sehr hätte ich mir zu jener Zeit gewünscht, dass er mich wenigstens einmal bis nach oben vor meine Wohnungstür begleitet …
Ich spürte keine Nähe mehr, keine Verbundenheit, was mein Gefühl von Verlorensein aufs Unermessliche steigerte. Völlig fremd kam mir diese Stadt vor, in der ich früher so viele Jahre gelebt hatte. Völlig fremd auch meine Familie, zu der ich nicht mehr richtig dazugehörte.
Erinnerungen an unser damaliges Familienleben, als die Kinder noch klein gewesen waren, stiegen in mir auf; Erinnerungen an intime Momente, die ich nicht zu würdigen gewusst, ja sogar ignoriert oder schlimmer: als lächerlich abgetan hatte.
Die entstandene Distanz versetzte meinem Herzen schmerzhafte Stiche, die zeitweise Panik in mir auslösten. Was tat ich hier? Was hatte ich, eine englische Wissenschaftlerin, hier zu suchen am anderen Ende Europas? Es erinnerte sich keiner mehr an mich. Und auch ich erinnerte mich an niemanden mehr.
Die Straßen waren bevölkerter als früher. Bauernkarren und elegante Kutschen gaben sich ein Stelldichein neben einem ausgebauten Liniennetz an Pferdebahnen. Schon da war im Gespräch, dass die Metropole eine Elektrische bekommen soll. Der Einzug moderner Zeiten wird hier wie immer hungrig begrüßt. Die Kehrseiten sind noch jenseits alles Vorstellbaren.
Die Tage bis zu unserem Wiedersehen versuchte ich so gut es ging mit Arbeit auszufüllen. Ich war wieder in die Administration mehrerer Krankenhäuser eingebunden und unterhielt Kontakte zur medizinischen Fakultät, die er für mich hergestellt hatte. Ich wusste meine Zeit also durchaus sinnvoll zu verbringen. Aber eigentlich war es nichts als Warten. Warten auf ihn!
Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus, fuhr zum Stadtpalast und sprach bei Elena vor. Ich gestand ihr meine Gefühle für ihren Vater. Sie erblasste. Mir war klar, dass sie fürchtete, ich könnte ihn ihr abspenstig machen, was absurd ist. Er ist derjenige, der entscheidet – sogar zwei Frauen gleichzeitig zu lieben.
Er würde sich nicht noch einmal zum Idioten machen lassen, sagte sie im anklagenden Ton, als hätte ich sie damals vor den Kopf gestoßen und nicht ihn.
Aber ja, ich verließ die Familie und damit auch sie. Ich hatte ihnen allen wehgetan mit meinem Fortgehen.
Wie sollte er annehmen, fuhr sie mit ungewohnt kaltem Blick fort, dass meine Empfindungen für ihn über all die vielen Jahre – Jahre der Abwesenheit! – plötzlich gewachsen seien? Meine privaten Umstände seien doch wohl hoffentlich nicht der einzige Grund …?
Sie müsste mich eigentlich besser kennen.
Nun, die seinen hätten sich jedenfalls geändert. Er habe sie vor fast fünf Jahren geehelicht und nunmehr zwei Kinder mit ihr. Und ja, sie sei endlich glücklich und hoffe es auch weiterhin zu bleiben!
Die Botschaft war angekommen.
Aus Judiths Tagebuch II
Ich will zurück in Eure Welt.
Ich stehe nur eine Armlänge von Ihnen entfernt, Mrs. Williams, Sie bräuchten nur einen einzigen Schritt zu tun.
Ich weiß nicht, wie!
Tun Sie ihn einfach.
Könntet Ihr mir nicht Eure Hand reichen?
Nein, ich habe sie oft genug nach Ihnen ausgestreckt. Ich will mir nicht den Vorwurf machen lassen, ich hätte Sie gegen Ihren Willen gezogen. Diesmal müssen Sie ganz allein eintreten. Die Türen stehen Ihnen offen – wie sie es stets getan haben.
Ich habe es getan. Ich bin eingetreten. In sein Reich. In ihn.
Aus Judiths Tagebuch III
So einfach, wie ich es niedergeschrieben habe, war es in Wahrheit nicht. Höchstens aus der verklärten Erinnerung. Die Qual – unser beider Qual – habe ich erfolgreich verdrängt. Wie so vieles, was sich in jenen Tagen zugetragen.
Eine erschreckende Blässe hatte sein Gesicht an jenem Abend überzogen. Ich konnte nicht einfach darüber hinwegsehen. Wir kamen von einer Gesellschaft und ich bat ihn um einen Spaziergang im Cişmigiu, bevor er mich wie immer unten vor meiner Wohnung absetzen würde. Ich hoffte, er würde sich mir dort, ohne lauschende Ohren um uns herum, endlich öffnen. Es war einer der ersten milden Abende. Es mag im April gewesen sein, so genau weiß ich es nicht mehr. Die Zeit zwischen meiner Ankunft in diesem Land und meiner tatsächlichen Rückkehr in die Familie ist von Nebel umhüllt, in dem sich nur ab und zu die Sicht auf kleine Episoden klärt. Das Wort ist eigentlich schon zu groß gewählt, es ist eher wie ein Aufblitzen von Eindrücken – Erinnerungsfetzen.
Wir blieben am Seeufer stehen und blickten den Ruderbooten mit den verliebten Pärchen hinterher, die traumwandlerisch durch das dunkle Wasser glitten. Die Laternen am Heck warfen warme Schimmer auf die romantische Szenerie. Ich erinnere mich an den intensiven Duft von Flieder, der den Park erfüllte. Still schlenderten wir weiter, ein wenig befangen von so viel spürbarer Liebe um uns herum. Im Geheimen verfluchte ich mich, dass ich hierher hatte ausgeführt werden wollen, denn es gab wohl kaum ein Paar, das nicht in Abständen eng umschlungen stehen blieb, sich in einer lauschigen Ecke heimlich küsste oder zumindest Hand in Hand … jedenfalls wurde es mir zu anstrengend, das allgegenwärtige Liebesgeflüster zu ignorieren, und so bat ich ihn, mich nach Hause zu bringen. Ich rechnete damit, wie immer vor der abfahrbereiten Kutsche verabschiedet zu werden, doch diesmal begleitete er mich hinauf. Natürlich bat ich ihn auf ein Getränk herein, allein der Anstand gebot es. Wie hätte ich annehmen sollen, dass er meiner Einladung Folge leisten würde, so gänzlich woanders er mit seinen Gedanken den Abend über gewesen war. Fraglich, ob er mich an seiner Seite überhaupt bemerkt hatte.
Ich schenkte ihm Armagnac ein, denn er sah so aus, als könnte er einen gebrauchen. Dankend nahm er das Glas entgegen, ließ sich auf dem Kanapee nieder und starrte geistesabwesend zum Ofen hin. Nachts wurde es immer noch klamm in den Räumen, weswegen ich Mable gebeten hatte, diesen am Brennen zu halten. Nachdem ich ein Scheit nachgelegt hatte, warf ich meine Mantille über den Sessel und setzte mich zu ihm. Er bemerkte es nicht einmal.
Es lag nicht in meiner Absicht, Euch aufzuhalten … stand ich im Begriff anzumerken, als er, die durch die Ofenklappe schimmernde Glut nicht aus den Augen lassend, erstmals den Mund auftat. Diesmal, um mehr als ein paar Höflichkeitsfloskeln herauszulassen.
„Sie hat mich verlassen …“, sagte er tonlos.
Verwirrt blickte ich zu ihm auf.
„Mein Engel, mein kleiner Engel …“ ergänzte er, das kummervolle Gesicht mir zuwendend. „Er hat mir kein Vertrauen mehr geschenkt … und nun ist er fort.“
Er nippte von seinem Armagnac und begann das Glas in seiner Hand zu drehen, den Blick nunmehr in die bernsteinfarbene