So schnell sitzt man auf den Trümmern seines Lebens – und das ganz ohne Krieg, ganz unverschuldet und in so jungen Jahren.
Dabei war ich am Sonntag noch so glücklich.
Wohl zu glücklich. Das kommt davon!
Percy duldet nämlich keine Absagen. Ein Mann wie er ist es nicht gewohnt, stehen gelassen zu werden. Also holte er mich aus dem Cottage, weil ich nicht zum verabredeten Zeitpunkt am Straßenrand stand. Auf meinen Einwand, ich müsse den ganzen Tag im Hotel bleiben, um auf meine Tante zu warten, eröffnete er mir, dass diese erst am Montagmorgen anreisen werde, denn sie müsse am Sonntagabend in London noch an einer Finissage teilnehmen – was immer das auch sein mag. Und hätte ich nicht am gestrigen Abend vor dem Ober im Hotelrestaurant Theater gespielt, so wäre mir dieser Umstand längst bekannt. Insofern stünde einem Sonntagsausflug nichts im Wege.
Woher er denn wissen wolle, was in der Notiz an mich gestanden habe. Ob er befugt sei, fremder Leute Nachrichten zu lesen?
Ich könne ohne Sorge sein, eines solchen Vergehens würde er sich niemals erdreisten. Er habe diese Nachricht ebenfalls erhalten.
Wieso denn bitte schön meine Tante ihn darüber in Kenntnis setzen sollte? Was ihn das überhaupt anginge?
Als Hotelier, der von ihr den Auftrag erhalten habe, ein Auge auf ihr unbekanntes deutsches Mündel zu haben, ginge ihn dies sehr wohl etwas an. Immerhin sei ich noch minderjährig und befände mich zudem in einem fremden Land. Die Frau Tante trage schließlich die Verantwortung für mich und habe diese – solange sie nicht vor Ort weile – an ihn übertragen.
Oh, verstehe, Sie sind also mein Aufpasser?, entfuhr es mir gereizt. Da waren wir längst Richtung Canterbury unterwegs.
Er warf mir einen amüsierten Blick zu. Und zwar äußerst gern, versicherte er mir, auch wenn er es mit meinem Trotzkopf nicht leicht habe. So viel Widerspenstigkeit habe er nicht erwartet, als er der verehrten Frau Tante das Versprechen gegeben habe, ihr diesen Gefallen zu tun. Andere Teenager wären gewiss entzückt gewesen, in einem solch luxuriösen Hotel logieren zu dürfen. Die gute Tante habe sogar Anweisungen erteilt, mich in London entsprechend ausstaffieren zu lassen. Doch da ich von Anfang an durch Abwesenheit geglänzt hätte, habe er mich erst einmal suchen und sich mir von anderer Seite nähern müssen, unter anderem um sicherzustellen, dass ich nicht zu fremden Männern ins Auto stiege!
Ich wurde knallrot, wofür ich mich am liebsten geohrfeigt hätte. Aber er lachte nur und drehte das Autoradio lauter – ein Transistorradio von Philips, das Neueste vom Neusten! Ich muss leider zugeben, dass es mich tief beeindruckte. Es spielte „Walking Back To Happiness“ von Helen Shapiro und er sang es lauthals mit. Er schien fest entschlossen, sich den Tag nicht von einem übellaunigen Teenager verderben zu lassen.
Ich schwieg und schaute mir die an uns vorbeirauschende Landschaft an, während im Radio späterhin ein Elvis-Song nach dem nächsten gedudelt wurde, sogar einer auf Deutsch.
„Wooden Heart“ sei seit Wochen auf Platz eins der Charts, klärte mich Mr. Sinclair fröhlich auf.
Schwarzwaldkitsch! Nicht jeder in Deutschland trage Lederhosen, esse Sauerkraut und habe eine Kuckucksuhr im Haus, klärte ich ihn auf. Danach hing ich wieder meinen Gedanken nach.
Wieso habe er sich mir nicht gleich als „Hotelier im Auftrag Seiner Majestät“ vorgestellt? Warum der ganze Mummenschanz?
Weil er einem freiheitsliebenden Teenager die paar Tage in Freiheit einfach habe gönnen wollen.
Also aus reiner Kinderfreundlichkeit? Wie nett!
Er grinste sein makelloses Grinsen.
Irgendwie machten seine Erklärungen die Sache nicht besser. Meine Laune sank immer mehr. Sie hatten mich nämlich meiner Illusion beraubt, dass ein attraktiver Herr aus der High Society meiner selbst wegen meine Gesellschaft suchte und freundlich zu mir war, und nicht nur, weil er den Auftrag dazu erhalten hatte!
Bei diesem Gedanken kamen mir vor lauter Enttäuschung fast die Tränen. Stur starrte ich aus dem Seitenfenster in die üppig grüne Landschaft hinaus und versuchte, meine Gefühle wieder in den Griff zu bekommen.
Nach einer Weile des Schweigens sagte er, dass er am vorherigen Tag sowohl den Kaffee als auch das Abendessen mit mir ungemein genossen habe. Es sei ihm währenddessen völlig entfallen, dass es sich nur um einen Auftrag handele.
Ich wischte mir unauffällig die Augen und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. Mir wurde plötzlich bewusst, wie kindlich ich auf ihn wirken musste mit meinem wippenden Pferdeschwanz und dem hellblauen Sommerkleid mit großen weißen Tupfen und bravem weißem Krägelchen. Ich passte einfach nicht in solch einen schicken Sportwagen neben einen eleganten Herrn, und das ärgerte mich maßlos. Heimlich musterte ich ihn von der Seite. Hatte ich gestern noch geglaubt, er müsse Ende zwanzig sein, so glaubte ich jetzt, er wäre bereits um die vierzig oder gar älter. Schließlich passte er auf mich auf wie ein Vater; ein reicher, gut aussehender Vater, so einen, wie ich ihn mir immer erträumt hatte. Mutti hatte mir nämlich früher, als ich klein war und oft nach meinem Vater gefragt hatte, das Märchen von einem attraktiven Soldaten auf Heimaturlaub erzählt, dem sie einmal sein herrlich glänzendes Haar habe schneiden dürfen. Ein höchst gebildeter junger Mann sei er gewesen, der eine vielversprechende Zukunft als Ingenieur vor sich gehabt habe. Er habe ihr nach ihrer Liebesnacht versprochen gehabt, ihr – sobald dieser Wahnsinn endlich ein Ende habe – einen Heiratsantrag zu machen. Leider sei er nie aus diesem verdammten Krieg zurückgekehrt. Geblieben sei ihr nur die Erinnerung an eine einzige Liebesnacht – und ich.
Was für eine grandiose Lügnerin Mutti doch ist! Aber die Hoffnung stirbt zuletzt, und so hatte ich mir als Kind oft vorgestellt, wie er eines Tages vor unserer Tür stehen würde: großgewachsen, dunkelhaarig, gutaussehend, wenn auch etwas hohlwangig, aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, ein Spätheimkehrer. Aber Mutti würde ihn schon wieder aufpäppeln mit ihrer auf Ochsenbein gekochten Graupensuppe. Sonntags würde er sich besonders sorgfältig rasieren und gut nach seinem Rasierwasser Tabac Original duften. Dann würde ich an seiner Hand durch den Jenisch-Park spazieren und er mir am Schiffsanleger in Teufelsbrück eine Stange Karamellbonbons kaufen. Denn das war es, was die Väter anderer Kinder taten. Mutti hatte für solche Extravaganzen kein Geld.
Vielleicht war ja doch nicht alles gelogen, vielleicht hatte Mutti wirklich diese Liebesnacht mit dem attraktiven Soldaten auf Heimaturlaub erlebt – nur, dass nicht ich daraus entstanden war.
Mr. Sinclair bot mir das Du an, was es im Englischen nicht gibt, also erlaubte er mir, ihn Percy zu nennen. Er hatte den Tag perfekt geplant. Wir machten sogar ein very british picknick. Er hatte alles in einem Lederköfferchen dabei, samt Decke. Wir hatten uns ein lauschiges Plätzchen auf einer Wiese am Flussufer ausgesucht, mit Blick über eine Pferdeweide. Im Hintergrund lugten bereits die mächtigen Türme der Canterbury Cathedral zwischen einzelnen Bäumen hervor.
Im Laufe des Tages, der sich wettermäßig von seiner besten Seite zeigte, denn die angekündigten Schauer blieben aus und es trieben lediglich ein paar Schäfchenwolken über den blauen Himmel, verliebte ich mich immer mehr in Percy. Mein Argwohn verflog, er war charmant und liebenswürdig, und ich glaubte ihm, dass es für ihn nicht nur eine lästige Pflichterfüllung war, den Tag mit mir zu verbringen. Sein Blick verursachte mir Kribbeln im Bauch, sodass ich jedes Mal wegschauen musste. Schon kam ich mir wieder wie eine dumme Gans vor und ärgerte mich über mich selbst. Ich war ganz erfüllt von ihm; von seinem Duft, seinem Blick und den zufälligen Berührungen. Seinen Ausführungen in der Kathedrale konnte ich nur mit Mühe folgen. Mir doch egal, wann welcher Turm gebaut und dass Thomas Beckett darin ermordet wurde. Wer soll das überhaupt gewesen sein? Ich wollte lieber mit Percy draußen am Flussufer entlangspazieren, seiner sonoren, warmen Stimme