Percy und ich haben vorhin zusammen gefrühstückt. Er war außergewöhnlich still. Etwas scheint ihm Sorge zu bereiten.
Was ihm denn querliege, fragte ich ihn. Er habe doch jetzt alles, was er wolle: das Tagebuch, die Briefe, mich …
Ich erntete einen verständnislosen Blick. Entweder er ist ein verdammt guter Schauspieler oder er hat tatsächlich nichts mit dem Verschwinden von Judiths Hinterlassenschaft zu tun.
Er würde gerne mit mir morgen nach London fahren.
Es klang nicht wie eine Bitte, also antwortete ich nicht darauf.
Zum Notar.
Aha!
Sein Blick wirkte plötzlich gehetzt, während er von seinem Toast abbiss und den Bissen mit einem Schluck Tee hinunterspülte.
Und dann würde er mich noch ein paar Leuten vorstellen wollen.
Und wenn ich nicht will?
Es sei wichtig. Wichtig für mich.
Damit tupfte er sich den Mund mit der Serviette und erhob sich.
Er griff nach meinen Händen und hielt sie eine Weile in den seinen. Ich hätte sie ihm gern entzogen.
Es tue ihm leid, flüsterte er mir ins Ohr und war verschwunden.
Mit einem Mal kam ich mir wie der einsamste Mensch der Welt vor. Ich saß in dem lichtdurchfluteten Frühstücksraum dieses feudalen Hotels, umringt von plaudernden ferienglückseligen feinen Pinkeln und kämpfte mit den Tränen.
Schließlich erhob ich mich und ließ den Berg Rührei, den er mir hatte auffüllen lassen, unangetastet auf meinem Teller zurück. Und in Afrika müssen die Menschen hungern! Und wir hatten damals auch nichts zu essen außer ein paar Steckrüben … Ich weiß, Mutti, seufzte ich still in mich hinein.
Zum ersten Mal in meinem Leben sehne ich mich nach ihr.
Später
Sobald ich im Cottage bin, scheine ich wieder zum Leben zu erwachen. Es reicht schon der Garten, um mich geborgen zu fühlen. Hier bin ich viel weniger allein als unter all den Menschen im Hotel.
Judith ist bei mir, hier in diesen Wänden. Und mit ihr noch andere, die ich bisher noch nicht kennengelernt habe. Aber ich spüre ihre Anwesenheit. Unter anderem eine junge Frau in meinem Alter – trotzig wie ich. Sie scheint hier viele Tränen vergossen zu haben.
Schade, dass ich Judiths letzte Zeilen nun nicht mehr lesen kann. Dass ich nicht weiß, ob sie glücklich geworden ist oder nicht. Ob sie in Bukarest geblieben ist oder hierher zurückkam.
Ich könnte mich beim Vikar nach Jane erkundigen. Die verstorbenen Schäfchen seiner Gemeinde sind doch bestimmt in irgendwelchen Kirchenbüchern aufgeführt.
Ach, was soll’s. Was kümmert mich das noch? Als ob ich nicht andere Sorgen hätte!
An dieser Stelle sollte ich besser notieren, worum es eigentlich geht, obwohl ich es selbst nicht genau weiß. Alles ist so verworren. Völlig abstrus. Ich weiß nur, dass ab jetzt fremde Leute über mich bestimmen dürfen, allen voran besagte „Tante“.
Sie erklärte mir rundweg, und das gleich nach ihrer Ankunft am Montagmorgen, dass ab sofort sie für mich verantwortlich sei, meine Mutter sei nur so etwas wie eine Ziehmutter gewesen.
Einer ihrer Neffen habe sich während des Zweiten Weltkriegs – unterwegs in Spionageangelegenheiten – mit einer deutschen Spionin eingelassen. Das sei 1942 gewesen, in Bukarest, als Rumänien noch an der Seite Hitlerdeutschlands gekämpft habe. Aus dieser höchst brisanten Liebelei sei ein Jahr später ein Kind hervorgegangen. Ich! Ingrid, meine angebliche Mutter und Meisterspionin – und daher längst hopsgenommen und exekutiert –, sei daraufhin mit mir in der Hauptstadt Rumäniens untergetaucht. Aber mit dem Seitenwechsel dieses Landes zu den Alliierten im Jahr 1944 sei es zu gefährlich für sie dort geworden. Tantchens Neffe Sorin – also mein Vater! – habe Mutter und Kind aus dem Land geschmuggelt und nach Hamburg verfrachtet. Keine Sekunde zu spät. Kurz darauf sei die Bukarester Wohnung, in der meine Wiege gestanden habe, aufgebrochen und durchsucht worden.
Die Sache sei nun die, dass der liebe Sorin seiner Familie diese Nachkommenschaft all die Jahre über aus verständlichen Gründen verheimlicht habe – oder vielleicht auch nur vergessen, wer weiß. Daher habe keiner von meiner Existenz gewusst. Bis ihnen vor Kurzem auf inoffiziellem Wege die Abschrift einer Geburtsurkunde ins Haus geflattert sei, zusammen mit einer Notiz über die unerfreulichen Begleitumstände … Daraufhin habe Sorin seinen damaligen Fehltritt eingestanden und angefangen, nach mir zu suchen. Das sei bei seinen Verbindungen zwar ein Leichtes, aber aufgrund der politischen Situation in seinem Land eine recht riskante Unternehmung gewesen. Ein Teil der Familie habe seine Wurzeln in England, daher habe dieser den Auftrag erhalten, mich aufzuspüren und heimzuholen – in den Schoß der Familie. – Wie nett!
Zudem erfuhr ich, dass Geheimagentin Ingrid ihre Mutterschaft selbstverständlich vertuschen musste. Darum brachte sie, zurück in der Heimat, ihr Kind bei einer ehemaligen Schulfreundin unter, die ohne jegliche Familienbande war. Man beschaffte dieser gefälschte Papiere, die mich als ihr leibliches Kind auswiesen. Vater: unbekannt! Darüber hinaus erhielt sie einen versiegelten Brief, den sie im Notfall an ein Postfach in Berlin schicken sollte. Dieser Notfall sei nun kürzlich eingetreten.
Das alles ist für mich unfassbar und hört sich wie eine wild konstruierte Story an. Nur wozu? Welchem Zweck sollte so etwas dienen? Und was will man von mir???
Ich bin wie so viele Kinder meiner Generation ohne Vater aufgewachsen, obendrein wurde ich unehelich gezeugt. Dieser künstliche Makel macht Mutti das Leben nicht gerade leicht, die mit ihrem Einkommen als Friseuse gerade so über die Runden kommt.
Jetzt habe ich von heute auf morgen zwar einen Vater – obendrein einen noch lebenden – verpasst bekommen, dafür aber keine Mutter mehr! Die bis gestern gekannte und in diesem Heft oft zitierte Mutti ist eine Fremde. Wer also bin ich?
Wieso sich meine angebliche Ziehmutter überhaupt bereit erklärt habe, in jenen schweren Zeiten auch noch ein fremdes Kind aufzuziehen, fiel mir ein zu fragen.
Für Geld täten die Menschen so manches, erwiderte Aunty mit gekräuselten Lippen. Geheimagentin Ingrid habe sich ihren Eltern, kurz bevor sie von oberster Stelle aufgespürt und abgeholt worden sei, noch anvertrauen können, doch hätten diese nichts von der Schande ihrer Tochter wissen wollen. Sich diese zusammen mit dem Feind vorzustellen, obendrein einem Rumänen – undenkbar! Immerhin hätten sie so viel Anstand besessen, besagter Schulfreundin für die Aufzucht ihres von ihnen nicht anerkannten Enkelkindes ein paar Lebensmittelscheine zukommen zu lassen, später etwas Geld, jeden Monat eine kleine Summe, bis sie vor ein paar Monaten beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen seien. Seit meine „Mutti“ keinen monatlichen Scheck mehr erhalte …
Diese Auskunft haute mich schlichtweg aus den Latschen. Das würde ja bedeuten, dass ich all die Jahre nichts als eine reine Geschäftsangelegenheit für Mutti gewesen wäre. Auch wenn wir keine besonders herzliche Beziehung zueinander pflegen, so hat sie sich doch stets um mich gekümmert und aufgepasst, dass aus mir etwas wird, dass ich einen vernünftigen Schulabschluss mache, damit ich einen ordentlichen Beruf erlernen kann. Und als ich die Masern hatte, hat sie da etwa nicht an meinem Bett gesessen und mir Märchen vorgelesen? Mir Wadenwickel gemacht, um das Fieber zu senken?
Bis vor Kurzem hatte ich also auch noch Großeltern, quicklebendig, womöglich ganz in der Nähe, und habe nicht einmal um sie gewusst! Und sie hatten sich all die Jahre nicht die Bohne um mich, die einzige Hinterlassenschaft ihrer Tochter, geschert.
Naja, fuhr meine Tante