Da startete er den Motor und fuhr los.
Er hat keine Erklärung mehr eingefordert, sondern mich einfach an der Stelle abgesetzt, wo er mich aufgepickt hatte.
Wir sehen uns morgen, ich hole Sie gegen zehn Uhr hier ab. Schlafen Sie gut und träumen Sie was Schönes!
Ich stand wie angewurzelt. Erst als er beim Losfahren zum Gruße hupte, löste sich meine Starre.
Noch immer spüre ich seine Lippen auf meinem Handrücken. Die Handschuhe stecken noch in meiner Handtasche, ich hatte sie vorhin beim Gehen vergessen wieder anzuziehen. Das kommt davon, wenn man große Dame spielen will!
Dieser Mann bringt mich völlig aus der Fassung.
Wer ist er? Sherlock Holmes persönlich?
Ich bin viel zu aufgewühlt, um mich schlafen zu legen. In meinem Kopf dreht sich alles. Wenn ich die Augen schließe, noch mehr.
Vielleicht werde ich die letzten Seiten in Judiths Tagebuch lesen, um auf andere Gedanken zu kommen, bzw. um Mr. Sinclair aus ihnen zu vertreiben. Denn obwohl er vor gut einer Stunde weggefahren ist, ist er immer noch bei mir – wie der Wein in meinem Blut.
Halb zwei nachts
An Schlaf ist nicht zu denken. Ich bin berauscht. Nicht nur vom Wein! Warum sollte ich mir etwas vormachen?
Es klafft eine große Lücke zwischen Judiths letztem und dem folgenden Eintrag. Erst ein halbes Jahr nachdem der rettende Engel sie zu sich genommen hatte, schreibt sie aus einem Palast in Bukarest; der Hauptstadt von Rumänien, wenn ich im Erdkundeunterricht richtig aufgepasst habe. Sie kennt die Stadt anscheinend von früher, denn sie kommt ihr verändert vor. Genauso wie ihre Familie. Vor allem Neffe und Nichte verhalten sich merkwürdig. Judith fühlt sich ausgeschlossen und fremd.
Irgendetwas ist passiert, schreibt sie. Das Haus befindet sich in einer Art Schockstarre. Alle huschen mit starren, bleichen Gesichtern umher und sprechen kaum ein Wort. Elena sieht verweint aus und meidet den Blick ihres Vaters. Nicolaes Züge haben sich erschreckend verhärtet. Aus des Grafen Augen sprühen Zornesfunken. In meiner Gegenwart unterdrückt er seine Wut.
Ich will nicht geschont werden! Ich möchte wissen, was los ist!
„Familienangelegenheiten …“, antwortete der Graf knapp und stieß mich damit zurück in das schwarze Loch, aus dem er mich befreit hatte.
Ich gehöre also nicht zu ihnen. Ich habe kein Recht zu erfahren, was alle so sehr betrübt. Es ist ihre Privatangelegenheit. Ich bin hier nur Gast!
Wo ist der Engel geblieben? Der Engel, der mir zur Seite stand, der mich barg und in seine Welt zurückbrachte?
Es sind nur noch zwei undatierte Seiten übrig, bevor das Tagebuch endet. Plus die herausgefallenen losen Seiten, die ich vorhin sortiert habe. Aber jetzt muss ich schlafen.
Morgen werde ich nicht an der vereinbarten Stelle auf Mr. Percy Sinclair warten. Irgendwie führt das Ganze zu weit. Auch auf die Gefahr hin, unhöflich zu erscheinen, aber …arunter ist nichts!
Wieso weiß er eigentlich von dem verlassenen Cottage? Wie kann er davon wissen? Dass er meinen richtigen Namen auf der Notiz gelesen haben will, hätte ich ihm beinahe abgekauft. Aber was weiß er noch über mich? Und woher?
Ich werde das Gefühl nicht los, dass er sich neulich gezielt mit an meinen Tisch in dem Lokal an der Promenade gesetzt hat. Dass er bereits da schon wusste, wer ich bin.
Auf solche Spielchen habe ich keine Lust.
Ohnehin werde ich den ganzen Sonntag im Palace Hotel auf Tante Nelly warten müssen – nachdem ich nach der alten Eiche im Wäldchen Ausschau gehalten habe, versteht sich, um nach einer silbernen Schatulle zu graben!
Montagabend – fast 48 Stunden später
Mir schwirrt der Kopf. Ich habe mich frühzeitig auf mein Zimmer zurückgezogen unter dem Vorwand, dass mich Kopfschmerzen plagen. Ich habe Percy angesehen, dass er mir nicht glaubt. Er durchschaut mich, als wäre ich gläsern, als würde alles auf meiner Stirn geschrieben stehen. Dabei ging er zunächst auf die Maskerade ein, was ihn unfreiwillig zu meinem Verbündeten macht. Ich will ihn aber gar nicht zum Verbündeten! Ich habe einen solchen nämlich nicht nötig. Wenn ich will, reise ich einfach Ende der Woche ab. Dann gehen meine Ferien hier ohnehin zu Ende. Dann ist Schluss mit dem ganzen Mummenschanz. Ich kehre zurück in unsere kleine Wohnung in Ottensen und helfe Mutti beim Kohlenschleppen und Ofensäubern, selbst wenn sie mich, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr haben will. Aber warum nicht, will ich von ihr selbst hören. Diese Erklärung ist sie mir schuldig.
Eine halbe Stunde später
Ich musste mich erst mal ausheulen. Percy hat es leider mitgekriegt. Er klopfte an meine Zimmertür und fragte, ob alles in Ordnung sei, ob ich etwas bräuchte.
Ich kacke auf seine Fürsorge! Ich will sie nicht. Was bildet sich dieser Lackaffe eigentlich ein? Snob! Schnösel!
Kaum zu glauben, dass er mich fast so weit hatte. Dass ich mir sogar eine Nacht um die Ohren gehauen habe wegen ihm. Dass ich erlaubt habe, dass er sich in meine Gedanken stiehlt. Es macht mich geradezu wütend!
Tante Nelly ist wieder zurück nach London gefahren. Sie hat dort einen wichtigen Termin mit einem Galeristen, denn sie ist Kuratorin und Künstlerin. Auch das noch! Ich kann weder mit dem einen noch mit dem anderen etwas anfangen, weiß noch nicht einmal, was Ersteres überhaupt sein soll. Sag ich doch: Elende Snobs. Alle beide.
Verdammt! Wieder muss ich heulen. Ich fühle mich – im wahrsten Sinne des Wortes – verraten und verkauft. Wie ein Paket, das nach Jahren endlich seinem richtigen Besitzer zugestellt wird. Nur dass dieser sich absolut nichts daraus macht. Warum also sollte ich bleiben?
Das Dumme ist nur, dass ich erst in anderthalb Jahren volljährig werde. Bis dahin darf Tante Nelly über mich bestimmen. Sie kann mich einfach irgendwo abstellen, hinstecken oder liegen lassen. Ich bin ihr ausgeliefert, dieser fremden, durchgeknallten, völlig irren Person. Ich weigere mich, sie als meine Tante anzusehen, und ich werde sie auch nicht so nennen. Sie ist nicht meine Tante, auch wenn das Gesetz etwas anderes besagt.
Wie konnte Mutti mir das nur antun? Wie konnte sie mich völlig kaltschnäuzig wegschicken und mich damit ein für alle Mal aus ihrem Leben verbannen?
Weil du nicht ihre Tochter bist, Herzchen – sagte die durchgeknallte Person und sah mich bekümmert an. Ich hätte ihr am liebsten die Augen ausgekratzt.
Kurz vor Mitternacht
Percy hat darauf bestanden, dass ich etwas esse. Und weil ich zurzeit nicht vorzeigbar bin, hat er das Essen aufs Zimmer kommen lassen. Es steht dort immer noch unangerührt.
Ich liege wie erschlagen auf dem breiten Queensize-Bett. Wenn ich heute Nacht stürbe, wäre es mir egal. Mehr noch, es wäre mir sogar recht. Man hat mir so mir nichts, dir nichts mein Leben gestohlen. Mehr sogar als das – meine Identität. Im Grunde weiß ich gar nicht, wer ich bin.
Ich werde jetzt schlafen und hoffen, dass ich nie mehr aufwache!
Dienstagmorgen
Es hat leider nicht geklappt. Draußen scheint die Sonne und verhöhnt mich. Aus dem einen Fenster kann ich bis zum Golfplatz hinüberschauen. Wie abtrünnige weiße Ameisen, die die Orientierung verloren haben, krabbeln sie träge auf dem Grün herum, hier marschieren ein paar zum nächsten Loch, dort verharren einige beim Abschlag, und da werden welche vom Caddy zur Sandkuhle gekarrt. Weiter hinten kann ich das Meer liegen sehen, denn das Hotel liegt oberhalb der Klippen. Aus dem anderen Fenster – ich bin in einer Suite untergebracht, unter dem ging es wohl nicht! – kann ich fast das gesamte Parkgelände einsehen. Links unten ist noch eine Ecke der Terrasse sichtbar. Einige Hotelgäste haben sich dort nach dem Lunch in Liegestühle gesetzt und lassen sich die Sonne ins Gesicht scheinen.