Ich bin wohl noch niemals zuvor so schnell in die Pedale getreten. Kurz vor dem Cottage wäre ich fast von einem Auto erfasst worden, weil ich in meiner Aufregung vergessen hatte, auf der linken Seite zu fahren. Die Straßen hier sind echt eng und kurvig.
Kurz vorm Schlafengehen
Zurück zu Judith. Sie ist im Besitz von begehrlichem Wissen und hat ihren Mann in Verdacht, ihr Tagebuch gelesen zu haben. Immer wieder geht es dabei um die Natur ihres Neffen und dessen Familie. Einem namens Dorin, der bei ihnen ein- und ausging und am selben Institut wie ihr Mann arbeitete, hatte man anscheinend ebenfalls nach dem Leben getrachtet und ihn mitten auf der Straße niedergestochen. Ich weiß nicht, in welch verwandtschaftlichem Verhältnis er zur Familie steht, das ging aus den Notizen nicht hervor. Das Seltsame ist, dass Dr. Williams hinterher niemals mit seiner Frau über dieses schreckliche Erlebnis geredet hat, dabei war er derjenige, der Dorin als Erster zu Hilfe geeilt war, als dieser blutend am Boden lag. Wann immer Judith darauf zu sprechen kommen wollte, gab Edward vor, sich nicht zu erinnern. Ich meine, das ist schon mehr als seltsam, oder? So etwas vergisst man doch nicht! Aber dann erinnert sich Judith daran, dass sie selbst etwas erfolgreich verdrängt hatte – und zwar ihre Erinnerungen an die Zeit unmittelbar nach ihrem Ausbruchversuch aus ihrer Ehe, als ich dachte, sie würde zu ihrer wahren Liebe, dem Grafen, zurückkehren. Diese Zeit hat nicht nur eine Lücke in ihrem Tagebuch hinterlassen, sondern anscheinend auch in ihrem Gedächtnis. Erst die Stätte des Überfalls auf dem Anwesen der Familie hat offenbar eine Tür zu dieser Vergangenheit geöffnet. Doch das Einzige, was ich aus den gerade gelesenen Zeilen entnehmen kann, ist, dass sie seinerzeit in Rumänien war.
TAG 4
Er hat’s tatsächlich getan! Judith hat ihren Mann im Januar 1892 inflagranti erwischt, als er in ihrem Tagebuch gelesen hat. Um das Ganze noch absonderlicher zu machen, soll er dabei unter Hypnose gestanden haben, wurde also von Unbekannten dazu angestiftet, um an interne Informationen über DIE FAMILIE zu kommen.
Was ist denn mit ihnen? Was macht sie so besonders oder interessant oder gefährlich oder was weiß ich? Nun wird alles furchtbar traurig. Dieser Tabubruch zerschmettert Judiths Ehe mit einem einzigen gewaltigen Hieb. Sie kann sich ihrem Mann nicht mehr anvertrauen, steht allein mit ihrem Kummer, weiß nicht mehr, wem sie noch trauen kann und wem nicht.
Ihr ehemaliger Schwager Peter taucht auf. Er scheint der Ehemann ihrer vom Vater ermordeten Schwester Becky gewesen zu sein und Vater ihres Neffen und ihrer Nichte. Versteh ich nicht, ich dachte, der ominöse Graf sei der Vater der beiden. Sie schreibt jedoch, Natalia trage einen Teil Beckys Liebe zu Peter in sich – hm.
Und dann schleicht sich da plötzlich dieser eine Satz ein, so ganz unbemerkt von der Seite, sodass man ihm zunächst gar nicht so viel Bedeutung beimisst. Ich zitiere Peter: Sie sind Seelenfänger, Judith. Man versucht ihnen schon seit Jahrhunderten das Handwerk zu legen.
Wie bitte? Was habe ich mir denn darunter vorzustellen? Sind die eine Art Sekte oder was?
An der Stelle konnte ich letzte Nacht leider nicht weiterlesen, weil ich meinte, ein Geräusch im Garten zu hören. Schnell löschte ich die Kerze und stierte hinaus. Aber ich konnte nichts erkennen. Wahrscheinlich war es nur der Wind, der in den Ästen ächzte. Aber es war ja total windstill!
Nach einer Weile zündete ich die Kerze wieder an, um weiterzulesen, da hörte ich das Geräusch wieder, diesmal deutlicher, wie ein Flattern. Aber die Vögel schliefen längst. Nicht einmal der Ruf eines Käuzchens war zu hören – obwohl ich ehrlich gesagt gar nicht weiß, wie der überhaupt klingt, weil ich in der Stadt aufgewachsen bin. Also pustete ich die Flamme wieder aus und wickelte mich fest in die muffige Wolldecke ein.
Ich kann nicht gerade behaupten, geschlafen zu haben. Es war mehr ein Hin- und Herwälzen. Ich war froh, als der Morgen endlich dämmerte.
Das Alleinsein bekommt mir ganz und gar nicht. Es wird Zeit, dass Aunty Nelly übermorgen kommt! Und ich dachte, es wäre klasse, mal ein paar Tage allein zu sein und machen zu können, was man will: Kaugummiblasen zerplatzen lassen, so oft ich lustig bin, Cola direkt aus der Flasche trinken und eine nach der anderen paffen, bis mir schlecht wird. Als Betthupferl Karamellbonbons – nach dem Zähneputzen, liebe Mutti! –, auf das ich hier sowieso verzichte. Ich müsste mir sonst die angestoßene Emaille-Schüssel mit Wasser aus dem Brunnen füllen. Falls ich es noch nicht erwähnte: ein Badezimmer hat diese Bude selbstverständlich nicht! Dafür ein Plumpsklo in der hintersten Gartenecke, da, wo sich die Fliegen auffällig tummeln, seit ich von dem Örtchen Gebrauch mache. Naja, es gibt Schlimmeres: unser Etagenklo daheim zum Beispiel. Das ist nämlich, wenn’s am dollsten pressiert, meist von irgendwelchen Nachbarn besetzt, die dort stundenlang nur laue Luft ablassen.
Nachmittags
Heute Vormittag war ich auf der Promenade und habe mir einen Sonnenhut und ein Eis gekauft. Endlich Ferienfeeling!
Es stimmt nicht, dass nur Italiener gutes Eis machen. Das Flake 99 war himmlisch schmelzig-vanillig mit einem Stück knackiger Borkenschokolade on top.
Ich sollte in Reklame machen! Das sagt Mutti immer, weil ich die so gerne schaue, wenn wir bei ihrer Freundin Lilo fernsehen.
Als ich später in einem Lokal an der Promenade eine Limo trank, sprach mich ein Herr an, jung oder alt, weiß ich nicht zu sagen.
Ob er sich mit an meinen Tisch setzen dürfe, fragte er, nachdem er mich höflich um Verzeihung gebeten und seinen Hut vor mir gezogen hatte.
Sämtliche Tische waren belegt. Da konnte ich es ihm ja schlecht abschlagen, oder? Außerdem sah er fesch aus in seinen hellen Shorts und den Leinenslipper, in denen er barfuß steckte. Er bestellte sich irgendwas mit Eiswürfeln in einem breiten Glas und einer Scheibe grüner Zitrone obenauf. Dann zückte er ein silbernes Zigarettenetui und bot mir eine an.
Und was tat ich dumme Gans? Ich lehnte höflich ab und behauptete, nicht zu rauchen! Warum? Es wäre doch die Gelegenheit für ihn gewesen, mir beim Feuergeben unauffällig näherzukommen.
Während ich mich noch über mich selbst ärgerte, lehnte er sich entspannt in seinem Stuhl zurück und nahm in sich hineinlächelnd einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, wobei er genüsslich aufs Meer hinausschaute. So genau kann ich es aber nicht sagen, denn er trug eine Sonnenbrille.
Linkisch griff ich nach meinem Glas und schlürfte den Rest Limo durch den Strohhalm. Natürlich machte es dieses peinlich laute Geräusch, das Kinder so gerne fabrizieren. Ich kam mir vor wie ein Teenager, keinesfalls wie eine neunzehneinhalbjährige Erwachsene.
Warum nur hatte ich mir, bevor ich herkam, nicht die Lippen nachgezogen und die Nase gepudert?
Wie lässig er dasaß, das eine Bein über das andere geschlagen, einen Arm angewinkelt auf der Rückenlehne des Stuhles ruhend, sodass seine Hand entspannt in der Luft hing, während er mit der anderen die Zigarette zu seinen wohlgeformten Lippen führte. Sein Gesicht war glatt rasiert, bestimmt mit der Klinge mit dem Doppelschwert, und doch konnte man einen kräftigen dunklen Bartwuchs erahnen.
Zu spät merkte ich, dass er mir eine Frage gestellt hatte. Ich musste nachfragen und mir Mühe geben, nicht zu erröten. Er machte ein wenig Small Talk, das Übliche: Wetter, die diesjährige Badesaison, woher ich käme. Really? From Germany? Also ein Fräuleinwunder? Wieso ich ausgerechnet hier meine Ferien verbrächte. Und wie es komme, dass ich so gänzlich ohne Begleitung …
Meine mir immer noch unbekannte Tante musste herhalten: Ich würde bei ihr den Sommer über wohnen, sie sei schon alt und etwas gebrechlich und freue sich über meine junge Gesellschaft …
Die Unterhaltung wurde zusehends anstrengend. Gerade als ich beschloss zu zahlen, schob er seine Sonnenbrille auf die Nasenspitze und zwei unsagbar tiefblaue Augen schauten mich darüber hinweg an. Blau wie das Meer, ging es mir durch den Sinn. Ich ärgerte mich über den Kitsch in meinem Kopf und wandte den Blick ab. Er hielt es wohl für Schüchternheit, denn ich bemerkte ein belustigtes Zucken in seinem Mundwinkel, bevor er erneut von seinem Getränk nippte.
Mein