Empowerment in der Sozialen Arbeit. Norbert Herriger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert Herriger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170341487
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ist der Startpunkt, von dem ausgehend Menschen ihren Anspruch auf »ein Mehr an eigenem Leben«, ihr Engagement gegen die Schwerkraft scheinbar unverrückbarer Lebensverhältnisse immer vernehmlicher zum Ausdruck gebracht haben. Soziale Bewegungen sind nach Roth/Rucht (2008) Netzwerke von Menschen, Gruppen und Organisationen, die mit kollektiven Aktionen des (nicht-institutionalisierten) Protests sozialen Wandel herstellen wollen. Träger der Sozialen Bewegungen sind Akteursgruppen, die in besonderer Weise von den Strukturmustern sozialer Ungleichheit verletzt worden sind und die – eingebunden in die Solidargemeinschaften alternativer Organisation – für eine Erweiterung ihrer politischen Beteiligung eintreten. Soziale Bewegungen sind (1) Aktionszentren einer umfassenden Demokratisierung der Lebenswelt, sie politisieren noch ungelöste strukturelle Problemlagen und geben den Betroffenen eine kollektive politische Stimme (»agenda-setting-function«). Sie sind (2) kritische Gegenmacht, sie mobilisieren Widerstand gegen den Rückbau von Bürgerrechten und stellen machtgetragene Interessenmuster der Privilegierung und der Ausschließung auf den Prüfstand. Soziale Bewegungen sind (3) schließlich Lernfelder einer entwickelten partizipativen Demokratie (»civic culture«) – sie öffnen den Bürgern neue Horizonte der politischen Selbstvertretung und identitären Politik (vgl. Beyer/Schnabel 2017; Herriger 2017; Snow u. a. 2019). Auch dort, wo ihre Ziele einer durchgreifenden Umverteilung materieller, sozialer und kultureller Ressourcen nicht (oder nicht unmittelbar) erreicht werden, sind diese Solidarbewegungen Agens weitreichender kultureller Veränderungen. Sie produzieren strukturelle Veränderungen des politisch-kulturellen Klimas und bewirken durch ihre Opposition gegen traditionale Muster der Sozialstaatspolitik und durch ihre Produktion alternativer Güter gesellschaftliche Mobilisierungen, die weit über die Gemeinschaften der unmittelbaren Aktivisten hinausreichen. Barbara Simon (1994) hat in ihrer Arbeit den Versuch unternommen, den Zeitspuren des Empowerment-Gedankens quer durch die Traditionen der Sozialen Bewegungen in den USA nachzuspüren. Wir wollen im Folgenden ihrer Spurensuche folgen, sie aber ergänzen und erweitern.

      Black America: Die Bürgerrechtsbewegung des Schwarzen Amerika

      Geburtsort der Philosophie und der Praxis des Empowerments war ohne Zweifel die Bürgerrechtsbewegung (civil rights movement) der schwarzen Minderheitsbevölkerung in den USA. Wenngleich die Bürgerrechtsbewegung in unserer europäischen Erinnerung aufs engste mit dem Namen Martin Luther King verbunden ist und mit dem von ihm inspirierten Flächenbrand der Aktionen zivilen Ungehorsams in den 1950er und 1960er Jahren, so knüpft diese Bewegung doch an Vorläufer an, die historisch weiter zurückreichen. Garrow (1989; 2004), Kirk (2013) und Ward/Badger (2001) haben in ihren detailreichen historischen Chronologien der Bürgerrechtsbewegung auf diese Vorläufer aufmerksam gemacht. Die Autoren lassen ihre Geschichtsschreibung in der Zeit des Zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit beginnen. Sie benennen zwei Startimpulse: Da ist zum einen die Unabhängigkeitsbewegung der schwarzafrikanischen Staaten und das Ende der kolonialen Besatzungspolitik. Getragen von revolutionären Ideologien (Fanon; Memmi; Nkrumah) traten Massenorganisationen schwarzer Gegenmacht ins politische Leben, die Ressourcenausbeutung und ökonomische Enteignung, kulturelle und soziale Unterwerfung, politische Entrechtung und Fremdbestimmung durch koloniale Herrschaft zum Anknüpfungspunkt ihres »Rufes nach Freiheit« (Gandhi) machten. Die afrikanische Unabhängigkeitsbewegung, ihre politischen Begründungs- und Rechtfertigungsmuster und ihre erfolgreichen Instrumente des Widerstandes waren Lernstoff für die Architekten der amerikanischen civil-rights-Bewegung. Aber auch in den USA wurden schon früh die ersten Fundamente des organisierten Widerstands gegen eine offen rassistisch-segregative Politik und Alltagspraxis gelegt. Der erste »Marsch nach Washington« (1941), der unter dem Leitthema des »fair employment« für die Korrektur diskriminierend-ungleicher Zugangschancen zum Arbeitsmarkt, für die Einführung eines gesetzlich garantierten Mindestlohnes und für Mindeststandards arbeitsplatzbezogener Sicherung eintrat, war das erste Signal eines kollektiv sich organisierenden schwarzen Selbstbewußtseins. Die politischen Organisationen der schwarzen Bevölkerung, die sich schon Ende der 1940er Jahre konstituierten (Congress of Racial Equality – CORE; National Association for the Advancement of Colored People – NAACP; Southern Christian Leadership Conference – SCLC), waren das organisatorische Gerüst späterer Mobilisierungskampagnen.

      Die jüngere Geschichte der Bewegung des Schwarzen Amerika beginnt Mitte der 1950er Jahre inmitten der restaurativen Roll-Back-Politik der McCarthy-Ära. Sie ist eng mit dem Wirken von Martin Luther King verknüpft, der – angeregt durch Arbeiten von Thoreau, DuBois, Gandhi zur Theorie des politischen Widerstands – durch seine Schriften, mehr noch aber durch seine charismatische Führerschaft zur Lichtgestalt eines neuen politischen Selbstbewußtseins der »black nation« wurde. Die unter dem Dach des Southern Christian Leadership Councils (1957 in Atlanta gegründet) sich organisierende Bewegung verfolgte eine Doppelstrategie: (1) Direkte Aktionen des gewaltfreien Widerstandes: Instrument des Widerstands waren konfrontative Strategien zivilen Ungehorsams – Aktionen also, die durch kalkulierte Regelverletzung (Besetzung von Rathäusern und Ämtern; Sitzblockaden; Boykott-Aufrufe u. a. m.) und gewaltfreien Widerstand die Muster rassischer Segregation aufbrechen ließen, die unter der dünnen Kruste der Gleichheitsideologie verborgen lagen. Waren diese Aktionen zivilen Ungehorsams zielgerichtete und – am Beginn des Medienzeitalters – für die laufenden Fernsehkameras publikumswirksam inszenierte Skandalisierungen rassischer Ungleichheit, so wirkte die zweite Strategie eher still im Hintergrund. (2) Multiplikatorenprogramme zur Aufklärung und Bewußtseinsbildung: Getragen von Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung, später dann von der akademischen Jugend hatten diese Consciousness-Raising-Kampagnen im Armutsgürtel des amerikanischen Südens das Ziel, eine organisierte Allianz von Gegenmacht gegen rassische Diskriminierung und Segregation aufzubauen. Ihr Fokus lag auf unterschiedlichen Schlüsselstellen der Herstellung gleicher Rechte: Abschaffung aller Restriktionen im Hinblick auf die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts (noch zu Beginn der 1960er Jahre mußten sich schwarze Bürger einem entwürdigenden Examen – voter registration test – stellen, um in den Besitz des Wahlrechtes zu gelangen); Alphabetisierung und die Einführung von kompensatorischen Bildungsprogrammen; Absicherung arbeitsplatzbezogener Risiken; Abbau von Schwellen des Zugangs zu Programmen der Erwachsenenbildung, der Gesundheitssicherung, der Wohn(qualitäts)sicherung. Beide Aktionsstrategien waren von einer integrativen Perspektive zusammengebunden – dem Glauben an eine demokratische Ressourcenschöpfung durch die Integration der schwarzen Minderheitsbevölkerung in eine gesellschaftliche Wirklichkeit geteilter und gerecht verteilter sozialer Rechte. Ein politisch buchstabiertes Verständnis von Empowerment war (ohne daß dieser Begriff schon zur Verfügung gestanden hätte) so stets roter Faden des Wirkens von Martin Luther King. Das Lebenswerk von M. L. King, so faßt dies Boyte (1984) zusammen, »war getragen von der Grundüberzeugung, daß ganz normale Menschen ihr Leben in die eigene Hand nehmen können. Die größte Leistung der Bürgerrechtsbewegung war für ihn die Auskehr schwarzer Bürger aus der Entmündigung und die Herstellung dessen, was er einmal ›ein neues Gefühl personalen Wertes‹ (a new sense of somebodyness) genannt hat« (Boyte 1984 zit. n. Simon 1994, S. 142).

      Die Mobilisierung der schwarzen Bevölkerung im industriell und städtisch geprägten Norden der USA nahm einen anderen Verlauf. Militante Führer wie z. B. Elijah Muhammad (Nation of Islam) und Malcolm X (Organization of Afro-American Unity) formulierten eine radikale Absage an die Philosophie demokratischer Integration, die für King handlungsleitende Denkfigur war. Sie sahen in dieser politischen Orientierung eine ideologische Einzäunung der kollektiven Stärke der »black nation«. An die Stelle von kooperativer Verständigungsbereitschaft und gewaltfreiem Widerstand trat hier der Ruf nach schwarzem Nationalismus und separatistischer Politik, ein Ruf, der auch politisch motivierte Gewalt als Mittel gesellschaftlicher Transformation billigte und der gegen Ende der 1960er Jahre in Ghettokämpfen, in gewaltsamen Übergriffen in die weiße Welt und in Gegendemonstrationen der Macht eines bis an die Zähne bewaffneten Staates bedrückende Wirklichkeit wurde. Diese Spaltung in ein integrationistisches und ein separatistisches Lager hat der Bürgerrechtsbewegung viel von ihrer ursprünglichen Schwungkraft genommen. Sie schlug einen tiefen Graben in die solidarische Selbstorganisation des Schwarzen Amerika, der sich auch nach der Ermordung der zentralen Protagonisten beider Lager, Martin Luther King und Malcolm X, nicht mehr schließen ließ (zur Geschichtsschreibung der civil-rights-Bewegung vgl. Baldwin 2019; Riches 2017).

      Die civil-rights-Bewegung – so können wir