Empowerment in der Sozialen Arbeit. Norbert Herriger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert Herriger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170341487
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hier skizzierten Traditionslinie ist Empowerment allein das kollektive Gut von Gemeinschaften der politischen Selbstorganisation von Menschen »im gesellschaftlichen Unten«. Die Erfolgsgeschichten kollektiver Selbst-Bemächtigung vollziehen sich – im Horizont dieses Verständnisses – vor den Toren der beruflichen Sozialen Arbeit. Sie sind lebensweltlicher Wildwuchs und verbleiben außerhalb der pädagogischen Zuständigkeit – ja mehr noch: Sie gewinnen oft erst aus ihrer kritischen Distanz gegenüber der »fürsorglichen Belagerung« durch wohlmeinende pädagogische Experten Profil und Identität. Ganz anders das Verständnis einer zweiten (historisch jüngeren) Traditionslinie des Empowerment-Diskurses, in dem sich lebensweltliche und transitive Buchstabierungen miteinander verbinden: Das Empowerment-Konzept wird hier für die berufliche Hilfe reklamiert. Es wird verstanden als ein tragfähiges Handlungskonzept auch für eine verberuflichte Soziale Arbeit, die die beschriebenen Prozesse der (Wieder-)Aneignung von Selbstgestaltungskräften anregend, unterstützend und fördernd begleitet und Ressourcen für Empowerment-Prozesse bereitstellt. Julian Rappaport, für viele der geistige Vater eines professionellen Handlungsprogramms von Empowerment, schreibt in diesem Sinn: »Sich dem Empowerment-Programm verpflichtet zu fühlen, bedeutet (für den beruflichen Helfer; N. H.), sich zum Ziel zu setzen, solche Lebenskontexte zu identifizieren, zugänglich zu machen oder neu zu schaffen, in denen bislang stumme und isolierte Menschen… Verständnis, Stimme und Einfluß im Hinblick auf jene Lebensumstände gewinnen, die ihr Leben beeinflussen« (Rappaport 1990, S. 52). Das Arbeitsziel einer von diesem Empowerment-Verständnis angeleiteten psychosozialen Praxis ist es somit, dort, wo Ressourcen ausgeschöpft sind und die Dynamik autonomer Selbstorganisation sich nicht aus eigener Kraft in Bewegung setzt, ein Arrangement von Unterstützung bereitzustellen, das es den Adressaten sozialer Dienstleistung möglich macht, sich ihrer ungenutzten, lebensgeschichtlich verschütteten Kompetenzen und Lebensstärken zu erinnern, sie zu festigen und zu erweitern. Auf eine kurze Formel gebracht:

      Handlungsziel einer sozialberuflichen Empowerment-Praxis ist es, Menschen das Rüstzeug für ein eigenverantwortliches Lebensmanagement zur Verfügung zu stellen und ihnen Möglichkeitsräume aufzuschließen, in denen sie sich die Erfahrung der eigenen Stärke aneignen und Muster einer solidarischen Vernetzung erproben können.

      Empowerment – eine Arbeitsdefinition

      Der Begriff »Empowerment« bedeutet Selbstbefähigung und Selbstbemächtigung, Stärkung von Eigenmacht, Autonomie und Selbstverfügung. Empowerment beschreibt Mut machende Prozesse der Selbstbemächtigung, in denen Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, in denen sie sich ihrer Fähigkeiten bewußt werden, eigene Kräfte entwickeln und ihre individuellen und kollektiven Ressourcen zu einer selbstbestimmten Lebensführung nutzen lernen. Empowerment – auf eine kurze Formel gebracht – zielt auf die (Wieder-)Herstellung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Alltags. In der Literatur finden sich weitere Umschreibungen von Empowerment (vgl. Lawrence 2016; McLaughlin 2016):

      • Die Fähigkeit, aus der bunten Vielzahl der angebotenen Lebensoptionen auswählen und eigenverantwortete Entscheidungen (auch in Zeiten der Unsicherheit) für die eigene Person treffen zu können.

      • Die Fähigkeit, für die eigenen Bedürfnisse, Interessen, Wünsche und Phantasien aktiv einzutreten und bevormundenden Übergriffen anderer in das eigene Leben entgegentreten zu können.

      • Die Erfahrung, als Subjekt die Umstände des eigenen Lebens (Selbst-, Sozial- und Umweltbeziehungen) produktiv gestalten und erwünschte Veränderungen »in eigener Regie« bewirken zu können (die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Gestaltungsvermögen).

      • Die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich belastenden Lebensproblemen aktiv zu stellen (und nicht in Mustern der Verleugnung und der Nicht-Wahrnehmung Zuflucht zu suchen), wünschenswerte Veränderungen zu buchstabieren und hilfreiche Ressourcen der Veränderung zu mobilisieren.

      • Das Vermögen, ein kritisches Denken zu lernen und das lähmende Gewicht von Alltagsroutinen, Handlungsgewohnheiten und Konditionierungen abzulegen.

      • Die Fähigkeit, sich aktiv Zugang zu Informationen, Dienstleistungen und Unterstützungsressourcen zu eröffnen und diese zum eigenen Nutzen einzusetzen.

      • Der mutige Schritt aus der Einsamkeit heraus und die Bereitschaft, sich in solidarische Gemeinschaften einzubinden und kollektive Schritte in die Stärke zu tätigen.

      • Das Einfordern der eigenen Rechte auf Teilhabe und Mitwirkung und die stete Bereitschaft, offensiv gegen stille Muster der Entrechtung einzutreten.

      Dort, wo Menschen diese Erfahrungen von Selbstwert und aktiver Gestaltungskraft, von Ermutigung und sozialer Anerkennung haben sammeln können, vollziehen sich Mut machende Prozesse einer »Stärkung von Eigenmacht«. Der Rückgriff auf das positive Kapital dieser Erfahrungen macht es Menschen möglich, sich ihrer Umwelt weniger ausgesetzt zu fühlen und Mut für ein offensives Sich-Einmischen zu sammeln. Solche positiven Lebenserfahrungen aber, in denen Menschen neue Kapitalien von Selbstwert und Selbstwirksamkeit finden, entfalten eine bemächtigende Kraft.

      2 Spurensuche: Eine kurze Geschichte des Empowerment-Konzeptes

      2.1 Neue Soziale Bewegungen und Empowerment

      Zwischen Buchdeckel gepackt wurde das Empowerment-Konzept zum ersten Mal im Jahre 1976. In diesem Jahr erschien in den USA das Buch von Barbara B. Solomon »Black Empowerment: Social work in oppressed communities«. Dieses Buch, in dem Empowerment zum ersten Mal als Signum einer neuen Kultur des Helfens auftaucht, steht im Schnittfeld der Traditionslinien von Bürgerrechtsbewegung und radikal-politischer Gemeinwesenarbeit. Es enthält einen ganzen Katalog von Mut machenden Beispielen für eine sozialraumbezogene Soziale Arbeit, die »im schwarzen Ghetto« Prozesse der Selbstbemächtigung und der Eroberung von Stolz und Selbstwert anstößt und unterstützt. Wenngleich Barbara Solomon also die Urheberschaft des Begriffes für sich in Anspruch nehmen kann – die Inhalte von Empowerment verweisen auf ein System von normativen Verpflichtungen, Grundüberzeugungen und berufsethischen Standards, das so alt ist wie die beruflich-entgeltliche Sozialarbeit selbst. In einer sehr sorgfältig und umfassend recherchierten Arbeit hat Barbara Simon (1994) den Versuch unternommen, die historischen Linien dieser Tradition zu entfalten, die wir heute mit retrospektivem Blick als »Empowerment-Tradition« bezeichnen können. Sie entfaltet in dieser Arbeit eine diachrone Perspektive, die den zeitlichen Bogen von den ersten Spuren einer empowerment-orientierten Arbeit in der protestantischen Reformbewegung und in den Erschütterungen des Industrialisierungsschubs am Ende des 19. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein verlängert. Der Empowerment-Begriff ist in ihrer Geschichtsschreibung ein definitorisches Dach, das sich über alle solche Arbeitsansätze in der psychosozialen Praxis spannt, die in der autonomen »Bewältigung von Alltagsangelegenheiten« (mastery of own affairs) ihr Ziel und in der »Selbstbestimmung des Klienten« (client self-determination) ihren normativen Leitfaden sehen.

      »Die Verfechter des Empowerment-Gedankens in der Sozialen Arbeit haben seit 1890 – unter Verwendung von in jeder Epoche anderer Sprache und anderen Selbstbeschreibungen – die Klienten als Personen, Familien, Gruppen und Gemeinschaften mit vielfältigen Fähigkeiten und Entwicklungschancen begriffen, unabhängig davon, wie benachteiligt, eingeschränkt, erniedrigt oder selbstzerstörerisch sie auch sein mochten. Der Job des Sozialarbeiters, der sich dem Ziel der Selbstbemächtigung des Klienten verpflichtet weiß, ist konzipiert worden als Aufbau einer Arbeitsbeziehung mit dem Klienten, die auf dessen je spezifischen Fähigkeiten, Ressourcen und Bedürfnissen aufbaut und ein Mehr an Sinnerfüllung im alltäglichen Leben und an Partnerschaftlichkeit in seinen Beziehungen mit anderen transportiert. Ziel dieser Arbeitsbeziehung ist es, den Klienten zu unterstützen bei der Nutzung eigener Stärken im Prozeß der Suche nach erweitertem Selbstwert, Gesundheit, Gemeinschaftlichkeit, Sicherheit, personaler und sozialer Macht« (Simon 1994, S. 1).

      Die Reise zurück zu den Anfängen des Empowerment-Gedankens ist eine Zeitreise durch die Entwicklungslinien der Neuen Sozialen Bewegungen, die seit den 1960er Jahren das Gesicht nicht nur