DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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      Sofort kamen Ermahnungen zum Schweigen von allen Seiten.

      »Widerlich, wenn ich es Ihnen sage … so etwas wird auf unsere Kinder losgelassen. Diese Perversen … und die Regierung weiß sogar davon. Wie wäre es, Lehrer mal genauer von der Polizei abklopfen zu lassen, na? Meine Jungs gehen nicht eher zurück in die Schule, bis ich weiß, dass dort keine kranken Schweine mehr arbeiten. Und jetzt brummt man mir wahrscheinlich noch eine Strafe dafür auf, dass ich die Kleinen nicht in den Unterricht lasse.«

      Erneut wurde der Reporter gezeigt, die protestierenden Eltern waren jetzt im Hintergrund zu sehen. Er steht mittlerweile auf der anderen Straßenseite.

      »Diese Empfindungen entsprechen der Stimmungsmache der Boulevardpresse am Wochenende, der zufolge striktere Polizeikontrollen von Lehrern notwendig seien. Donald Fraser, Measton, Midland-Nachrichten.«

      Überblendung in die Sendeanstalt. Der Nachrichtensprecher ist einschlägig bekannt.

      »Während die Sorgen über den Verbleib von Patricia Bourne weiter zunehmen, haben ihre Eltern heute Nachmittag einen Appell an die Bevölkerung gerichtet.«

      Die Bournes kamen nun ins Bild bei grellem Blitz- und Studiolicht, beide sichtlich erschöpft mit übernächtigten Augen. Die der Mutter sind stark gerötet vor lauter Weinen.

      »Das Mädchen ist längst tot!«, sagte derselbe Schlipsträger.

      »Sind Sie wohl still?«, entgegnete die Wirtin.

      Mr. Bournes unrasiertes Gesicht erschien in Großaufnahme.

      »Jede Wette, er hat sie umgebracht.«

      Niemand pflichtete ihm bei.

      – 5 –

      Das Schiebefenster im Apartment zeigte nach Süden, wo man hinter der Kulisse verrußter Schornsteine, die wie schiefe Zahnreihen aussahen, den Kanal als schmales, silbriges Rinnsal erkennen konnte. Weaver wohnte der Helligkeit wegen hier. Während der Makler unnötigerweise seinen Text aufgesagt hatte, war David schon auf den Flur getreten, um in Gedanken den Lichteinfall im Laufe des Tages zu genießen – in verschiedenen Augenblicken, die jeweils mit Stimmungsänderungen einhergingen. Selbst nach Einbruch der Dunkelheit, die sich dann wie eine Wand vor der Scheibe ausbreitete, besprengt mit auf fernen Schifffahrtswegen vorbeiziehenden Lichtern und Comicstrips ähnelnden Einsichten ins Land der Wohnschlafzimmer fremder Leute, würde er sich inspirieren lassen können. Letzten Endes hatte er tatsächlich nur wenige Male vor dem Fenster gemalt und dies obendrein nur mit leidlichem Erfolg. Das unansehnliche Durcheinander in Pauls Studio war seinen ernsten Arbeiten weitaus förderlicher. Nein, völlig lachhaft: Nirwana Versuch IV war mittlerweile unter einer Staubschicht versteckt.

      Die weiße Leinwand verspottete ihn förmlich. Er hatte kurz das Bedürfnis, dagegen zu schlagen, schüttelte dann aber den Kopf und seufzte, lehnte sich ans Fenstersims und schaute hinaus ins gelbe Sonnenlicht des späten Februarnachmittages. Nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte, nahm er einen tiefen Zug und lauschte dem leisen Klappern des Geschirrs im Café zwei Etagen tiefer, wo man gerade das Tagwerk beendete.

      Wieder stieg ihm die Hitze ins Genick, als er sich ins Gedächtnis rief, wie die Kellnerinnen am Morgen, als er hastig an der offenen Küchentür vorbeigehuscht war, schnell in eine andere Richtung geschaut hatten. Er wäre verzweifelt gern unbemerkt geblieben, aber sie hatten ihn trotzdem gesehen.

       Scheiß drauf, dachte er. Am Ende musste er mit dem aufräumen, was passiert war. Hätte ein Scheiß drauf es doch bloß vereinfacht … Es drückte eine Haltung aus, eine innere Einstellung, jedoch keine richtige Lösung. Unterschiedliche Ansätze kamen ihm nun in den Sinn: Ein Brief, um zu erklären, was geschehen war – was eigentlich? – und zur vielmaligen Entschuldigung. Sein Zynismus ergänzte die unterschwellige Botschaft des Schreibens: Bitte haltet mich nicht für verrückt, bitte haltet mich nicht für verrückt. Er konnte auch den Besitzer bitten, nach Geschäftsschluss mit ihnen allen sprechen zu dürfen, um die Chance zu bekommen, ihnen zu beweisen, wie vernünftig er eigentlich war, in völlig annehmbarer Weise normal. Die Ironie der Tatsache, dass er dies in einer Stadt tun wollte, zu der sich Menschen hingezogen fühlten, die unbedingt alles andere als das N-Wort sein wollten, entging ihm nicht. Er schüttelte den Kopf und stellte sich der leeren Leinwand einmal mehr.

       Dabei dachte er an die jungen Frauen, die in der Feinbäckerei arbeiteten und versuchten, keine Miene zu verziehen, weil sie an seinen käsigen Hintern denken mussten, während er nüchtern vor ihnen saß. Um Himmels willen, das war sogar noch schlimmer als damals während seiner Studienzeit, als er auf einer Party das Bewusstsein verloren hatte. Er war drauf und dran gewesen, irgendeine Claire zu besteigen, hatte aber zu viel getrunken und schlechtes Gras geraucht: die fatale Kombination – dies und Unerfahrenheit in der Kunst sexueller Freizügigkeit, die er noch nie beherrscht hatte. Als er schließlich wieder zu sich gekommen war, desorientiert und benommen, hatte er einen Kreis schmunzelnder Gesichter über sich gesehen. Angewidert von seiner Ohnmacht hatte Claire mehrere Mitbewohnerinnen in ihr Zimmer gerufen, die sich, wie es aussah, über den Anblick lustig machten, den er bot: noch nicht ganz bei der Sache mit entblößtem, geschrumpften Penis, der wie geschlagen in einem Nest von Schamhaaren lag. Aus jener Situation hatte er sich nicht cool herausreden können, doch wenigstens war es ihm gelungen, sie vor sich selbst zu rechtfertigen. Claire Irgendwer hatte es ihm mit ihrer Kaltherzlichkeit deutlich leichter gemacht. Im jetzigen Fall aber half ihm selbst blühende Fantasie nicht mehr weiter.

      Mittlerweile war ihm ein Stummel Kohle aus seinem Federmäppchen in die Hand gefallen, und er näherte sich der Staffelei. Einen Augenblick lang stand er in nachdenklicher Haltung davor. Der Arm ist ausgestreckt, dachte er. Fang damit an. Während er mit geübter Leichtigkeit Striche zog, zeichneten sich rasch gespreizte Finger ab. Ein Déjà-vu. Wie einen Nachhall spürte er das Kind in sich, das einst mit Malkreide gekritzelt hatte, dann den Jungen, der zu Buntstiften übergegangen war, und schließlich seine Versuche als Teenager mit dem Farbmittel Gouache. Handgelenk und Unterarm wurden in Schatten gesetzt, um einen perspektivischen Eindruck zu vermitteln, und schon war er mit Schulter und Kopf zugange. Als er das Gesicht ausfüllte – ein Antlitz ohne Züge – verschmierte er das Schwarz. Davon fühlte er sich gleichermaßen abgestoßen und angezogen. Das Bild, das unter seinen Fingern entstand, war aus einem Albtraum entsprungen, den er aus seiner Psyche zu verdrängen versucht hatte, allerdings vergeblich. Ohne Zweifel handelte es sich um eine kindliche Darstellung des Jungen, der an seiner Stelle gestorben war, doch ihn zu malen tat gut. Als die Umrisse fertig waren, fügte Weaver dem teilweise erkennbaren Torso und dessen Gliedmaßen noch fieberhaft Schatten hinzu. Danach widmete er sich dem Hintergrund, der die Figur mit ausgefallenen Kringeln und Zacken umgab. Unter ihr musste es ebenfalls dunkel sein, fand er, also schickte er sich an, die Vorstellung von Leere umzusetzen, damit es so wirke, als steige die Gestalt aus der Finsternis empor.

      »Davey!«

      Weaver verkrampfte sich, erstarrte und zog die Hand sofort von der Leinwand zurück. Da war eine Knabenstimme hinter ihm; eine Stimme, die er sofort wiedererkannte, obwohl er sie seit über fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gehört hatte. Mit kaltem Grauen drehte er sich zu ihrem Ursprung um.

      Doch dort war niemand.

      Er bekam heftiges Herzklopfen und atmete so schwer, als sei er gerade gerannt.

      Ich verliere nicht den Verstand; ich bin nicht verrückt. Das Gemälde, die Erfahrung, Paranoia … zu versuchen, es nachzubilden, war ein Fehler, erklärte er sich. Insbesondere in meinem momentanen Geisteszustand. Er atmete angestrengt, während er schwankend über den Flur ging. Nervös schaute er im Wohn- und Schlafzimmer sowie der Küche nach, bevor er beinahe verzagte, als er ins Bad trat. Dort war jedoch auch niemand. Er schüttelte den Kopf, kehrte in den Flur zurück und rügte sich selber dafür, sich abermals so in diese Sache hineingesteigert und sich das Leben selbst schwergemacht zu haben. Als er das, was er gemalt hatte, erneut ins Auge fasste, stockte er abermals, und die Furcht, die gerade erst abgeklungen war, kam sofort wieder hoch. Am unteren Rand der Leinwand standen jetzt mit Kohle geschriebene Worte:

      Steck es dir ins Auge

      Weaver kniff sie stattdessen zu. Warum tust du dir das an? Hör auf, hör auf,