DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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hier bin.«

      Weaver überlegte eine Weile. »Wissen Sie, ich verschließe mich nicht gegenüber unerklärlichen Phänomenen, aber der Gedanke, in Trance herumzuwandern und die Vision eines Fremden zu malen gefällt mir nicht.«

      »Verständlicherweise, aber glauben Sie, ein Hinterwäldler aus dem letzten Winkel ist freiwillig von der Ahnung besessen, grüne Männchen hätten ihn entführt? Völlig ausgeschlossen.«

      »Ich habe mich mit dem Jungen beschäftigt, den ich im Bad gesehen habe. Als Kind habe ich ihn gekannt. Er rettete mir das Leben und starb dabei.«

      James nickte und erwiderte nichts, damit Weaver weitersprach.

      »Er sprang in einen Fluss, um mich vor dem Ertrinken zu retten, und ertrank dabei selbst«, erzählte er im gleichbleibenden Tonfall.

      James kraulte seinen Bart. »Denken Sie noch oft an ihn?«

      Weaver sann nach. »Nicht mehr so oft wie früher.«

      »Versuchen Sie bewusst, nicht an ihn zu denken?«

      »Ich …« Er unterbrach sich. Das war eine gute Frage. Angesichts des Unfalls, der dramatischen Wendung jenes schicksalhaften Tages und der traumatischen Wochen im Anschluss daran wunderte er sich darüber, dass er sich nicht sogar häufiger mit Grant befasste. »Ich verdanke ihm mein Leben.«

      James verschränkte seine Arme und schaute zu dem viktorianischen Gebäude hinauf, in dem die psychiatrische Station Green Fields untergebracht war. »An Julians Stelle würde ich ungefähr jetzt so etwas wie tief sitzende Schuldgefühle notieren.«

      »Mag sein. Aber zu akzeptieren, dass jemand sein Leben für Sie gegeben hat, ist auch nicht einfach. Man neigt dazu, schlaflose Nächte mit Wenn-Fragen zu verbringen.«

      James nickte. »Was, wenn man selbst gestorben wäre, meinen Sie?«

      »Nein: Was, wenn er überlebt hätte?«

      Dies war der springende Punkt, wie er fand. Was, wenn jener wilde, aufmüpfige Junge nicht gestorben wäre? Hätte er weiterhin Fenster demoliert, die Schule geschwänzt und auf die Polizei geschimpft? Vielleicht wäre er aber auch auf ein Talent gestoßen, das sein Leben grundlegend verändert hätte, etwa eine Berufung zum Pastor, oder von einem so mysteriösen Lehrer wie Weaver beeinflusst worden zu sein, der ihm sein eigenes Potenzial vor Augen gehalten hätte.

      Er steckte sich eine Zigarette an. »Was mir am schlimmsten zusetzt, ist der Druck, den es verursacht.«

      »Okay, was meinen Sie genau damit?«

      Weaver beobachtete, wie sich zwei uniformierte Pfleger beim Verlassen des Hauptgebäudes ebenfalls Zigaretten anzündeten. Sie hatten also eine weitere Schicht hinter sich gebracht.

      »Den Druck, ein gutes Leben zu führen, den Druck, es nicht zu vergeuden.«

      James stieß einen Pfiff durch die Zähne aus. »Falls Sie sich darauf versteifen, enden Sie wirklich hier, und zwar nicht nur für einen Wochenurlaub.«

      »Nach dem Unfall – ich war ja noch ein Kind – nutzte meine Mutter es aus, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen, wenn ich mir Ärger in der Schule eingehandelt oder Chancen verschenkt hatte.«

      »Wenn Sie also einfach nur ein Kind gewesen waren.«

      »Im Grunde genommen ja. Sie erkannte auch, dass es mich aufwühlte. Deshalb mied sie für gewöhnlich direkte Bezüge auf Grant, so hieß er, aber wir beide wussten, dass er mit im Raum stand. Ironischerweise war er ein kleiner Rabauke und ein richtiger Unruhestifter gewesen, doch sie benutzte ihn sozusagen als Prügelstock, um mich zu maßregeln. Wissen Sie …« Er schüttelte den Kopf und lachte verkrampft.

      »Reden Sie weiter«, bat James ihn mit sanfter Stimme.

      »Es gab Zeiten, als ich mir wünschte, an seiner Stelle gestorben zu sein, sodass sie sich schuldig fühlen würde, weil sie so mit mir umgesprungen ist – blöd, ich weiß, weil sie nur ihr Bestes gab, um mich anständig zu erziehen. Geld hatte sie nicht viel.«

      Gegenüber an einem Teich hatten zwei ältere Männer ein Brett aufgeklappt, um Backgammon zu spielen. Weaver bemerkte, dass sie beide je einen Arm steifer hielten als den anderen. Folgen eines Schlaganfalls. Einer von ihnen lachte, was man über die Wiese hinweg hörte. Nun fühlte er sich affig: Ein junger, körperlich gesunder Mann, der sich einen Kopf über schlechte Träume und Hirngespinste machte. Er war wirklich ein Jammerlappen.

      »Ich möchte nicht noch mehr Zeit mit meinen Albträumen verschwenden. Vielleicht schlafe ich jetzt einfach nur noch bei eingeschaltetem Licht.« Der Witz verpuffte, weil er so lahm war.

      »Sie verschwenden niemandes Zeit. Sie haben einiges durchgemacht und werden es schon noch verarbeiten. Jeder Mensch muss allein mit seinen Dämonen zurechtkommen.« James schaute hinüber zu den älteren Männern, die jetzt ganz und gar in ihr Spiel vertieft waren. »Verschiedene Blickwinkel einzunehmen ist gut, aber steigert man sich zu sehr hinein, vergisst man, dass man nur sein eigenes Leben leben kann: unter eigenen Bedingungen und nicht nach irgendeinem Regelbuch. Überlassen Sie einer alten Frau im Bus Ihren Platz, aber halten Sie deren Probleme nicht für größer als Ihre, bloß weil sie am Stock geht.«

      »Das klingt leicht brutal.«

      »Ist es aber nicht, höchstens ein etwas drastisches Beispiel, aber um auf Ihren Freund Grant zurückzukommen. Noch mehr Wenn-Fragen: Was, wenn er überlebt hätte und Sie gestorben wären? Denken Sie, er würde sich dann jetzt auch unter Druck setzen, ein irgendwie mustergültiges Leben zu führen?«

      Weaver zuckte mit den Achseln. »Kann ich unmöglich einschätzen.«

      James blieb vorübergehend still. »Also gut, glauben Sie, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht?«

      Weaver lächelte höhnisch und wedelte mit weit ausgestreckten Armen. »Schicksal? Das Gefühl, Ereignisse fänden gleichzeitig statt? Die Sterne und Gottes Plan?

      »Wie Sie es auch immer nennen wollen.« James steckte sich die nächste Kippe an. »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, eine wahre übrigens.«

      »Beginnt sie mit: Es war einmal?«

      James tat scherzhaft so, als wolle er gegen Weavers Kopf schlagen. »Kann sein, falls Sie es so wollen. Wie dem auch sei, sie hört sich ungefähr so an: Ein Mann ging mit seinem kleinen Sohn durch den Wald. Das passierte, glaube ich, im 19. Jahrhundert. Möglicherweise war er so etwas wie ein Wildhüter, ich weiß nicht genau, aber egal. Er ging über diese Ländereien, die dem Dienstherrn in der Gegend gehörten, als er einen anderen Mann um Hilfe schreien hörte. Natürlich lief er in die Richtung, aus der die Stimme kam, und gelangte schließlich an einen See. Dort sah er den Besitzer des Waldes höchstpersönlich in kopfloser Panik, und weiter in der Ferne, in dem See, dessen Sohn. Dieser war gerade am Ertrinken.«

      »Warum ist dieser Herr nicht ins Wasser gesprungen, um seinen Sohn zu retten?«, fragte Weaver.

      »Keine Ahnung, aber es gab bestimmt es einen guten Grund dafür.«

      »Hmm.«

      »Also weiter im Text: Der Wildhüter, oder was auch immer er war, streifte seine Stiefel ab und sprang kurzerhand in den See, schwamm zu dem Knaben und brachte ihn zurück ans Ufer. Seine Wiederbelebung erfolgte keinen Moment zu früh. Noch ein wenig länger im See, und er wäre ertrunken.«

      Weaver lief ein Schauer über den Rücken.

      »Natürlich stand der Dienstherr nun tief in seiner Schuld. Sein Sohn und Erbe war gerettet – dank der Tapferkeit dieses einfachen Wildhüters.«

      »Und wie hat er ihn dafür belohnt? Indem er ihn für den Rest seines Lebens mit Fasanen versorgte?«

      James schmunzelte.

      »Besser als das. Er versprach dem Wildhüter, dafür zu sorgen, dass dessen Sohn die gleichen Möglichkeiten im Leben erhalten würde wie sein eigener. Er sollte die bestmögliche Ausbildung genießen, eine Eliteuniversität besuchen und dergleichen mehr, im vollen Umfang finanziert von dem Herrn.«