DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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seiner Haut hinterlassen hatte.

      Das Telefon klingelte, sodass er unfreiwillig aufschrie.

      – 6 –

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      Die Stimme des Verrückten hallte ihr im Tunnel entgegen, obwohl er schon jahrelang tot war. Mary wusste, dass sie träumen musste.

      In diesem Traum war sie Grant und der Tag heiß, der heißeste aller Zeiten. Sie durchschaute ihren doppelten Blickwinkel, den der Träumerin und den des Handelnden. Ihr war klar, dies konnte nur der Tag sein, an dem Grant gestorben war, und das leise Bedürfnis, aus ihrem Bewusstsein nach ihm zu rufen, um ihn zu warnen, ließ wieder nach, als sie dem gemeinen Drang des Knaben unterlag, der im Widerspruch zu seinem unterschwellig liebevollen Hang und Verantwortungsgefühl gegenüber dem Jüngeren stand. Dieser lief hinter ihm her, der kleine Davey

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      Weaver. Er folgte ihm auf all seinen Abenteuern, war seinem Freund, dem bösen Buben, treu ergeben, egal was seine Mutter, die blöde, alte Kuh, zu ihm sagte. Mary spürte den Hass in ihrem lange verstorbenen Bruder schwelen, dem ewigen Sündenbock für alles, was auf Cornhill schiefging oder kaputtgemacht worden war.

      Die Brücke näherte sich ihr wie ein Monster vom Mars aus den Geschichten von H.G. Wells, und sie wurden von den Eisenbahnschienen angesogen. Die Konstruktion um sie herum bebte, dann stürzte der Junge. Mary schaute hinunter in den dunklen Fluss und sah eintausend bestialische Gesichter, die ihre Mäuler in erwartungsvoller Gier nach Kinderfleisch wie zum Schreien weit aufrissen. In ihrem Traum erkannte Mary den Hunger des Flusses. Sie spürte Grant in sich, wie er sich anspannte, bevor er den Absprung in den finsteren, lebendigen Schlund wagte. Das laute Flüstern der Dunkelheit kam immer näher und zog sie zu Grants Tod hin, während der Verrückte sie weiterhin

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      nannte.

      Mary fuhr im Dunkeln aus ihrem Bett hoch und rief: »Zigeunerhexe!«

      Dann seufzte sie tief. Sie war Albträume gewohnt. Etwas Neues bahnte sich an.

      – 7 –

      Weaver ließ sich die Haare vom Wind aus dem Gesicht wehen. Er lehnte sich gegen das Geländer seines Aussichtsplatzes am Palace Pier und blickte hinaus auf das graue Meer. Ringsherum wirbelten und drehten sich die Attraktionen, wie sie es schon seit Generationen ungeachtet der Geschehnisse auf der Welt abseits von Rummelplätzen taten. Brighton war schließlich das ganze Jahr über ein Badeort, geprägt von buntem Tingeltangel, albernen Hüten und zahnfeindlicher Zuckerwatte in Hülle und Fülle. Auf der Vergnügungsmeile klimperte und heulte es dissonant inmitten futuristischer Computerexplosionen und halsbrecherischer Wenden in Ballerspielen, die das Töten außerirdischer Invasoren zum Gegenstand hatten, respektive Rennsimulationen. Irgendwo sagte ein Bingo-Moderator: War sie das wert? Sieben und sechs zu einer Handvoll hoffnungsfroher Pensionäre im rüstigen Alter. Der Geruch von Kartoffelstäbchen in Essig lag in der Luft, ein Beleg für den Verkauf von Fish 'n' Chips, wie er nicht typischer für eine Küstenstadt hätte sein können. Als sich Weaver nach der Grand Parade und dem Pavillon umdrehte, sah er die vertraute Gestalt von Diana näherkommen. Sie raffte ihre Schals und wallenden Kleider vor dem diebischen Wind, der sie ihr aber immer wieder aus den Händen riss.

      Diana liebte den Uferdamm. Sich hier zu treffen war ihre Idee gewesen. Sie hatte sich heute Nachmittag mit einer Freundin im The Grand zusammengesetzt, um »Versäumtes« nachzuholen. Der Pier setze einem perfekten Tag in Brighton die Krone auf, hatte sie gesagt. Weaver vermutete, das angebliche Versäumnis hänge vielmehr mit Dianas Neigung zu übersinnlichem Hokuspokus zusammen, was auch immer in diesem Bereich gerade in Mode war. Sie hegte aber tatsächlich eine relativ große Vorliebe für die eher zwielichtigen Aspekte des Seebads. Er für seinen Teil ließ sich selten dazu hinreißen, näheren Kontakt mit der karnevalesken Seite zu knüpfen. Er lebte trotz der Touristen, Gästehäuser und ekelhaft pinkfarbenen Zuckerstangen in Brighton; das Riesenrad stellte für ihn einen oft gesehenen, kaum wahrgenommenen und blinkenden, kreischenden Zierrat dar, während er anderswohin unterwegs war.

      »Hallo David«, begrüßte sie ihn freudestrahlend. Er küsste ihre vom Wind gerötete Wange und fragte: »Können wir uns irgendwo ins Warme setzen? Ich spüre schon Anzeichen von Unterkühlung.«

      Diana lachte laut und zog ihn am Ellbogen zu einem Pub am Ende des Damms, in dem, wie Weaver entsetzt feststellte, GANZTÄGIG KARAOKE BIS MITTERNACHT angeboten wurde. Zu seiner Erleichterung war die Bühne aber leer, genauso wie das ganze Lokal. Aufgrund des üblichen Leerlaufs zwischen Nachmittag und Abend hatten sich nur drei weitere Gäste eingefunden, ein Säufer mit Filzhut, der sich am Tresen abstützte, und ein jüngeres Paar in einer Sitznische, das mitten in einer Beziehungskrise zu stecken schien. Weaver bestellte ein Gin Tonic für Diana und ein halbes Pint Lager für sich selbst. Dann zogen sie sich so weit wie möglich von der spärlich besetzten Theke in eine Ecke zurück.

      »Jetzt sag schon, wie geht es dir, David?«, Diana nahm seine Hand in ihre. Sie strahlte etwas Mütterliches aus, obwohl weniger als zehn Jahre zwischen ihr und ihm lagen. »War es schlimm im Krankenhaus?«

      »Nein«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Eigentlich fand ich es eher traurig dort. Ich kam mir vor, als könne ich mich noch glücklich schätzen. Es gibt eine Menge Leute da draußen, die durch den Wind sind, Leute mit ernsten Problemen.«

      »Und dein Problem ist nicht ernst?«

      »Nun ja …« Er rutschte unruhig auf seinem Platz herum und nippte an seinem Bier. Diana kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es ihm schwerfiel, sich zu öffnen. Sie lächelte, um ihn zu ermutigen.

      »Ich weiß nicht einmal, was für ein Problem ich habe«, fuhr er fort, während er aus dem Fenster schaute, dessen Scheibe mit Wassertropfen bespritzt war. »Sicher, Stimmen zu hören, deutet auf Schizophrenie hin, genauso wie Visionen zu haben, aber ich habe nicht das Gefühl, es komme aus meinem Kopf.« Er schüttelte ihn frustriert.

      »Dir ist schon klar, dass ich eine andere Meinung vertrete, was das angeht, oder?«, erwiderte Diana und wickelte sich einen Schal von der Stirn, sodass man ihre rote Stachelfrisur sah. »Ich wiederum weiß, dass du nicht mit meinen verrückten Ideen konform gehst, also werde ich nicht weiter darauf herumreiten.«

      Weaver zuckte mit den Achseln. Alles war besser als der Gedanke, er werde wahnsinnig.

      »Du schleppst seit jeher etwas mit dir herum, David. Gleich im ersten Moment, als uns Paul einander vorgestellt hat, habe ich einen Geist in deiner Gegenwart gespürt.« Sie hielt eine Hand hoch, um seine Einwände abzuwimmeln. »Schon gut, du glaubst nicht an Spiritismus, aber wenn ich mir deine Arbeiten ansehe, bin ich mir nicht sicher, ob das stimmt.«

       Weaver dachte an Nirwana Versuch IV, das momentan unter einem weißen Laken auf Eis lag, und gestand Diana diesen Punkt zu. Es stimmte. Einige seiner Werke spielten wirklich auf das Übersinnliche an, entsprachen aber keineswegs dieser oder jener Philosophie.

       »Die Sache ist die, David: Du trägst eine Finsternis mit dir herum, deren Ursprung schon weit zurückreicht.«

      Er nahm noch einen Schluck Lager. »Du erinnerst dich doch noch an den Jungen, der gestorben ist, oder?«

      Diana nickte. Er hatte sie in seine Kindheit eingeweiht, eine Erklärung nach einem schlechten Traum.

      »Genau der erschien mir im Bad, nachdem ich die Schreie gehört hatte.«

      »Hast du sie verstanden?«

      Weaver zögerte und trank stattdessen sein Glas leer. Ihm war nach einem zweiten Bier oder vielleicht sogar nach etwas Stärkerem. Einzelheiten zu seiner Vision, falls man es so nennen konnte, hatte er noch niemandem erzählt. Diana war eine Freundin – nein, in Wirklichkeit sogar mehr als das. Die beiden hatten etwas miteinander gehabt, vor langer Zeit in seinen Flegeljahren an der Südküste, als er noch naiv und idealistisch gewesen war. Sie hatte ihm gleich vorausgesagt, dass sie sich voneinander trennen würden, wenn sie erst einmal miteinander in die Kiste gehüpft seien, und es trotz seiner Einwände sicher gewusst. Nach wenigen Wochen war die geschlechtliche